„Wir benötigen einen Arzt oder eine Ärztin. Wenn es einen Arzt oder eine Ärztin unter Ihnen gibt: Bitte kommen Sie in Wagen 5.“
Meine Frau und ich sitzen im ICE Richtung Mannheim, haben bereits 20 Minuten Verspätung und nach dieser Durchsage, die einen längeren Aufenthalt in Fulda, dem nächsten Halt, nach sich ziehen wird, müssen wir uns endgültig von unserem Anschluss-TGV verabschieden.
Das ist natürlich nervig, aber um das eigene Karma nicht überzustrapazieren, sollte man sich darüber jedoch nicht allzu sehr aufzuregen. Gut, wir müssen nun mehrfach umsteigen, sind erheblich länger unterwegs und die neuen Sitzplatzreservierungen kosten uns rund 30 Euro. Dafür werden wir allerdings auch nicht in Fulda im Krankenwagen abtransportiert. Das möchte man ja prinzipiell nicht und noch weniger in der hessischen Provinz.
Wir haben also nicht gerade das Tor mit dem Hauptgewinn abbekommen, aber auch nicht den Zonk. Dass wir Avignon kurz nach Mitternacht erreichen, drei Stunden später als geplant, fühlt sich allerdings zumindest ein wenig nach Zonk an.

Meine Frau und ich fliegen beide nicht besonders gerne, deswegen hatten wir uns für einen mehrtägigen Roadtrip nach Portugal entschieden. Beziehungsweise – da wir mit dem Zug reisen – für einen Railtrip. Am ersten Tag von Berlin über Mannheim nach Avignon, am nächsten Morgen weiter nach Madrid, dort zwei Übernachtungen für ein bisschen Sightseeing, dann über Vigo nach Porto, hier drei Übernachtungen für ein bisschen mehr Sightseeing, und schließlich am 01. Mai die Schlussetappe gen Lissabon.
Um uns langsam der portugiesischen Hauptstadt anzunähern, um Kilometer für Kilometer zu erleben, wie sich Land und Leute verändern, um entschleunigt zu reisen. Das verlangt der Zeitgeist und außerdem lernt lernt man das mit zunehmendem Alter immer mehr zu schätzen. Keine Hektik, keine Hetze, kein Stress. Stattdessen Ruhe, Muße und Entspannung. Die Langsamkeit zur Tugend erklären. Darauf einen doppelten Klosterfrau Melissengeist.
Für die Reise hatten wir uns einen Interrail-Pass gekauft, mit dem du umweltfreundlich und – relativ – kostengünstig unterwegs bist. Als „added benefit“ kannst du dich auch noch jugendlich fühlen. Vielleicht nicht körperlich, aber wenigstens geistig. Zumindest als jung geblieben. Was meistens das erste Zeichen für eine Midlife Crisis ist.
###
Heute Morgen hatte unser „Is this the way to Lisbon?“-Trip noch gut angefangen. Pünktlich um 9.04 Uhr fuhr unser ICE am Berliner Hauptbahnhof los. Alles lief wie am Schnürchen, um hier mal eine aus der Mode gekommene Redewendung zu bemühen. Das ist ja keine Selbstverständlichkeit bei der Deutschen Bahn und kann ruhig mal lobend erwähnt werden.
Im Zug organisierte ich als erstes Cappuccino. Weil es auf einer langen Reise wichtig ist, von Anfang an den Koffein-Level hochzuhalten. Dafür kann ich sogar zum Nulltarif sorgen, weil mir mein Bahn-Bonus-Status ein paar Freigetränke gewährt.
Seit meinem Downgrade auf Silber vor ein paar Wochen allerdings nur noch acht pro Jahr und nicht mehr zehn, wie noch als Gold-Bonusler. Was mich mehr wurmt, als es sollte. Gut, ich könnte für 1.000-Euro Fahrkarten kaufen, um in güldene Sphären zurückgestuft zu werden, aber das brächte mir lediglich gratis Getränke im Wert von circa 8,60 Euro ein. Dazu muss ich nicht die Rechenkünste von Adam Riese bemühen, um zu wissen, dass das kein gutes Geschäft ist.
Während der Bahn-Mitarbeiter meine Getränke zubereitete, studierte ich die Bistro-Angebote. Zum Beispiel das Birra-Moretti-Menü, bestehend aus dem gleichnamigen Bier plus Knabberbeilage, entweder ein Tütchen Elephant Pretzels oder Lisas Kesselchips Bio. Die Bahn und ich haben anscheinend sehr unterschiedliche Vorstellungen davon, was ein Menü ist.
Auf dem Weg zurück vom Bistro kam ich an einer Gruppe circa Anfang 30-jähriger Männer vorbei, die zwei Vierer-Plätze belegte. Um kurz nach zehn hatten sie bereits eine halbe Kiste Bier geleert, was die Vermutung Kegelverein oder Junggesellenabschied nahelegte. Dafür kannst du auch nicht dankbar genug sein, wenn zwischen deinem Sitzplatz und dem Kegelverein/Junggesellenabschied ein paar Waggons als Puffer liegen.
Allerdings hatten die Männer eine ausgefräste Baumscheibe dabei, auf der sie kniffelten. Das machte sie mir trotz bedenklich frühem Alkoholkonsum irgendwie sympathisch. Wer Kniffel spielt, kann kein vollkommen schlechter Mensch sein. Behaupte ich einfach mal ohne empirischen Beleg und hoffe, Adolf Hitler war kein leidenschaftlicher Kniffler.
Kurz überlegte ich, den Typen mitzuteilen, dass ich amtierender Familien-Kniffel-Champion bin, und ihnen ein Foto unseres Kniffel-Pokals zu zeigen, der die Ausmaße der Champions-League Trophäe hat. Ich kam jedoch zu dem Schluss, dass beides die Grenzen normaler sozialer Interaktion überschreitet und zog weiter.
###
Hinter Erfurt begannen die Probleme. Das soll keine politische Aussage sein, sondern bezieht sich auf die Baustellen, Umleitungen und Geschwindigkeitsbegrenzungen, die unseren 30-Minuten-Umstiegspuffer in Mannheim immer mehr zusammenschrumpfen ließen. Dann kam der Notfall kurz vor Fulda und nun müssen wir umplanen.
Nach acht Stunden Fahrt haben wir es gerade einmal bis zum Karlsruher Hauptbahnhof geschafft. Von hier müssen wir jetzt nach Paris, um dort – hoffentlich – den letzten Zug nach Avignon zu erwischen. Im Hintergrund nickt der Zonk zuversichtlich.
Wir schlagen die Zeit im Bahnhof-McDonald’s tot, neben uns eine Gruppe verhaltensauffälliger Teenager, bei denen dir selbst bei wohlwollendstem Blick schwer fällt zu argumentieren, die Jugend von heute sei doch gar nicht so schlecht, wie landläufig behauptet. Der Zonk zuckt mit den Achseln und mümmelt an einem Cheeseburger.
###
Die Fahrt nach Paris verläuft erfreulich problemlos. Pünktlich um 20.41 Uhr erreichen wir denn Gare l’Est. Der TGV Richtung Avignon fährt allerdings am Gare de Lyon ab. Den könnten wir mit der Metro erreichen, mit einer Fahrzeit von circa 50 Minuten inklusive einmal Umsteigen.
Aber nur in der Theorie. In der Praxis besteht unser Reisegepäck aus zwei großen Trekkingrucksäcken, zwei kleinen Rucksäcken, einer großen Penny-Tasche mit Reiseproviant sowie einen Beutel mit Toilettenartikeln und Medikamenten. Dich damit im Feierabendverkehr in die Pariser U-Bahn zu quetschen, willst du weder dir noch den Mitreisenden zumuten.

Als Akt der Nächsten- und Selbstliebe gönnen wir uns daher ein Bolt. Die App kündigt uns Youssouf an, einen Fahrer mit Top-Bewertung. Diese erweist sich als mehr als gerechtfertigt. Youssouf ist freundlich, zuvorkommend, spricht fließend Englisch und fährt uns sicher durch die chaotische Pariser Rush Hour.
Lediglich zu Beginn ist er etwas übermotiviert und wirft einen der großen Trekking-Rucksäcke mit viel Schwung in den Kofferraum, in dem bereits unsere Provianttasche steht. Es bleibt aber alles heil und wir geben Youssouf am ende der Fahrt fünf Euro Trinkgeld und ebenso viele Sterne in unserer Review.
###
Warten am Gare de Lyon. Esse am Bahnsteig einen Apfel, was meinen Körper verwirrt. Der wusste gar nicht, dass Reiseproviant mehr Vitamine als ein Spülschwamm enthalten kann.
###
Beobachtung auf dem Weg nach Avignon: Franzosen sind ausnahmslos alle unfassbar gut angezogen mit einem landestypischen legeren chic. Stelle daher folgende steile These auf: Der am schlechtesten angezogene Franzose ist immer noch besser gekleidet und hat mehr Stil als der am besten angezogene Deutsche.
Meine Frau meint, sie könne mal mit mir einkaufen gehen. Dann könnte ich immer noch nicht mit den Franzosen mithalten, würde aber wenigstens in Deutschland nicht mehr in der untersten Mode-Liga spielen.
Mein ausgeblichenes Polohemd schaut indigniert, die Jogginghose runzelt die Stirn. Ich habe auch keine Ahnung, was sie damit meint. Entweder spricht sie in Zungen oder, was wahrscheinlicher ist, sie hat zu wenig getrunken und ist dehydriert. Das wirkt sich ja bekanntlich leistungsmindernd auf das Denkvermögen aus.
###
0.15 Uhr. Ankunft in Avignon. Vor einem dreiviertel Jahr hatten wir zu Beginn und zum Ende unseres Spanienurlaubs schon einmal hier übernachtet. Die Unterkunft, die den etwas zu vielversprechenden Namen Aparthotel Adagio Access trägt, strahlt mit seinen langen, niedrigen Gängen, dem abgelaufenen Teppichboden sowie dem funzeligen Licht eine Mischung aus Norman-Bates- und Shining-Vibes aus.
Nach der langen Reise ist uns das egal. Die Betten sind bequem genug und wir fallen in einen tiefen, steingleichen Schlaf, nichts ahnend, dass uns die heutigen drei Stunden Verspätung in ein paar Tagen wie eine Lappalie vorkommen wird.
Alle “Post aus Portugal”-Beiträge finden sie hier.

Sie möchten informiert werden, damit Sie nie wieder, aber auch wirklich nie wieder einen Familienbetrieb-Beitrag verpassen?

Christian Hanne, Jahrgang 1975, hat als Kind zu viel Ephraim Kishon gelesen und zu viel “Nackte Kanone” geschaut. Mit seiner Frau lebt er in Berlin-Moabit, die Kinder stellen ihre Füße nur noch virtuell unter den elterlichen Tisch. Kulinarisch pflegt er eine obsessive Leidenschaft für Käsekuchen. Sogar mit Rosinen. Ansonsten ist er mental einigermaßen stabil.
Sein neues Buch “Wenn ich groß bin, werde ich Gott” ist im November erschienen. Ebenfalls mehr als zu empfehlen sind “Hilfe, ich werde Papa! Überlebenstipps für werdende Väter”, “Ein Vater greift zur Flasche. Sagenhaftes aus der Elternzeit” sowie “Wenn’s ein Junge wird, nennen wir ihn Judith”*. (*Affiliate-Links)
Orrrr, Cliffhanger. Das ist jetzt fies. :D
Es ist schön, wieder von Dir und euch zu lesen und ihr habt euch hoffentlich schon eingelebt!
ob ich täglich davon lesen könnte?
was denkst du denn?
:-D
Jens