Kurz nach deiner Geburt hielt ich dich im Krankenhaus im Arm und versprach dir: „Ich werde alles versuchen, um dir ein guter Vater zu sein, dich zu beschützen und für dich zu sorgen.“ Du schautest mich ernst an und dachtest: „Was heißt hier versuchen? Streng dich verdammt nochmal an. Und wenn ich zwölf bin, will ich eine Playstation.“ Dann hast du die Augen zugemacht und geschlafen.
Mittlerweile kann ich dich nicht mehr auf dem Arm halten. Bald brichst du auf, um mit deinem besten Freund Asien zu bereisen. Möget ihr Erinnerungen, Erfahrungen und Erlebnisse für euer ganzes Leben sammeln. (Deine Mama und ich werden drei Monate schlaflose Nächte sammeln.)
Jetzt, wo du volljährig bist und bald auf eigenen Füßen stehst, frage ich mich, was ich dir auf deinem weiteren Lebensweg noch mitgeben kann. Wahrscheinlich gar nicht so viel. Du bist in den letzten achtzehn Jahren schon zu einem wunderbaren Menschen herangewachsen: hilfsbereit, witzig, empathisch, offen und mit dem Herz am rechten Fleck.
Ich habe trotzdem ein paar weise und unweise Gedanken aufgeschrieben, die vielleicht hilfreich sind. Falls nicht für dich, dann für mich. Ich wünschte, ich hielte mich nur an die Hälfte dieser Ratschläge.
„Heute ist der erste Tag vom Rest deines Lebens“ klingt wie ein beschissener Spruch aus „Das Café am Rande der Welt“, ist aber trotzdem wahr. Carpe diem so oft und so hart, wie du kannst.
Eine Serie bingen oder auf dem Bett chillen sind auch ein guter Nutzen deines Tages. „Das Café am Rande der Welt“ lesen nicht.
Dein Leben ist zu kurz, um dich mit negativen Menschen zu umgeben.
Dein Leben ist zu kurz, um rohen Kohlrabi zu essen.
Christian Hanne, Jahrgang 1975, hat als Kind zu viel Ephraim Kishon gelesen und zu viel “Nackte Kanone” geschaut. Mit seiner Frau lebt er in Berlin-Moabit, die Kinder stellen ihre Füße nur noch virtuell unter den elterlichen Tisch. Kulinarisch pflegt er eine obsessive Leidenschaft für Käsekuchen. Sogar mit Rosinen. Ansonsten ist er mental einigermaßen stabil.
Niemand kann dir vorschreiben, was du auf deine To-Do-Liste schreibst. Setze an erste Stelle „Kaffee trinken“. Das gibt dir das gute Gefühl, schon morgens etwas geleistet zu haben.
Mach jeden Morgen dein Bett. An manchen Tagen wirst du nichts anderes auf die Reihe bekommen.
Erstelle vor einer wichtigen Entscheidung eine ausführliche Pro & Contra-Liste. Anschließend entscheidest du aus dem Bauch heraus.
Triff keine wichtigen Entscheidungen, wenn du hungrig, wütend oder müde bist.
Bist du dir bei einer Entscheidung unsicher, lautet die Antwort immer „nein“. Vor allem, wenn du dich fragst, ob du eine enge, weiße Jeans kaufen sollst.
Mit Käse überbacken, ist immer eine gute Entscheidung.
Wenn du Salat machst, nimm eine größere Schüssel. Immer.
Zitronensaft hat in Käsekuchen nichts verloren.
Lerne, nicht beleidigt zu sein, wenn dich jemand korrigiert.
Jeder Fehler ist eine Gelegenheit, zu improvisieren.
Halte nicht an einem Fehler fest, nur weil du viel Zeit damit verbracht hast, ihn zu machen.
„Du wirst törichte Dinge tun. Tue sie mit Begeisterung.“ Weise Worte von Colette.
Deine Missgeschicke von heute sind die lustigen Geschichten von morgen.
„Auch das wird vorübergehen.“ Weise Worte von Seneca.
Verfasse deinen eigenen Nachruf. Lebe anschließend so, dass ihn jemand schreiben könnte.
Lache regelmäßig über dich selbst.
Du hast das Recht, keine Meinung zu haben.
Die Welt wäre ein besserer Ort, würden mehr Menschen sagen: „Darüber weiß ich zu wenig, dazu kann ich nichts sagen.“
Sei stolz auf deine Erfolge.
Sei demütig, denn die Hälfte deines Erfolgs verdankst du dem Glück.
„Wenn du im Leben mehr Glück hast als andere, baue keinen höheren Zaun, sondern einen längeren Tisch.“ Weise Worte von Kevin Kelly.
„Geld allein macht nicht glücklich, aber es ist besser, im Taxi zu weinen als in der Straßenbahn.“ Weise Worte von Marcel Reich-Ranicki.
Mit einem Dankbarkeits-Tagebuch siehst du die positiven Dinge des Tages.
Mit einem Undankbarkeits-Tagebuch siehst du die nervigen Dinge des Tages. Was du davon ändern kannst, ändere, und was nicht, ignoriere.
Ärgere dich nicht über Sachen, die du willst, aber nicht hast, sondern freu dich, dass du Sachen nicht hast, die du nicht willst. Zum Beispiel kein Dach über dem Kopf haben. Oder Krebs. Oder kreisrunden Haarausfall.
Färbe deine Haare nicht wasserstoffblond. Wahrscheinlich wirst du aussehen wie Lotti Karotti in der Räude. (Ich weiß, wovon ich spreche.)
Grau ist besser als Glatze, aber Glatze spart Zeit beim Haarewaschen.
Wenn der Friseur dich fragt, ob er deine Augenbrauen stutzen soll, lautet die Antwort immer „ja“.
Haare auf der Brust gelten alle zehn bis fünfzehn Jahre als sexy. Haare auf dem Rücken nie.
Gerate nicht in Panik. Nie.
Gefällt dir nicht, was du im Spiegel siehst, dimme das Licht.
Absolute Aussagen sind unklug. Sei dir stets bewusst, dass du falsch liegen könntest. Außer bei der Ablehnung von Kohlrabi. Damit liegst du immer richtig.
Wenn du deine Jacke oder deinen Mantel abgibst, mach ein Foto von der Garderobenmarke.
Lege deine Schlüssel immer am selben Ort ab. Dein Portemonnaie auch.
Mit einem Licht-schalter kannst du eine Lampe nicht nur an machen, sondern auch aus. Sogar im Bad.
Wenn du ein Kleidungsstück zeitlos toll findest und es für immer tragen willst, kaufe drei davon. Noch besser fünf. Und wenn du das Geld hast, zehn.
Der größte Irrtum: „Das muss ich mir nicht aufschreiben, das merke ich mir so.“
Beziehe dein Bett frisch, bevor du in den Urlaub fährst. Dein Nach-Urlaubs-Ich wird dein Vor-Urlaubs-Ich lieben.
Plane nach Urlaubsreisen einen weiteren freien Tag ein.
Aktivitäten für Städtereisen: Steige auf einen Aussichtspunkt, kaufe eine Zeitung, gehe in einen Supermarkt, fahre mit öffentlichen Verkehrsmitteln, iss bei McDonald’s.
Kein Gesetz verbietet dir, einen WhatsApp-Gruppenchat zu verlassen.
Verlasse nicht den Familien-Gruppenchat.
Wenn du Kinder hast, wirst du ihnen irgendwann erzählen, wie billig früher Eis war. Und Döner.
Sei zufrieden.
Sei misstrauisch gegenüber Wildleder.
Kürzer ist immer besser. Außer bei Hosen.
Töte auf keinen Fall den Hund von John Wick.
Töte auch keine anderen Hunde.
„Leider geil“ sagen, ist leider ungeil.
Bester Treffpunkt in einer Stadt, in der du dich nicht auskennst: das Eiscafé Venezia.
Umgib dich mit Menschen, die unterschiedliche Meinungen, Hintergründe und Weltanschauungen haben. Mit SPDlern, Konservativen, Grünen und Marxisten, mit SUV-Fahrern und Lastenrad-Ultras, mit Veganern und Currywurst-Enthusiasten, mit Rastafaris und Menschen, die den Kragen ihres Polohemdes hochstellen, mit Homosexuellen, Heterosexuellen und Transsexuellen. Du lernst von allen.
Umgib dich nicht mit AfD-Wählern. Und nicht mit Kohlrabi-Essern.
Traue niemandem, der dir 99 weise und unweise Gedanken verspricht. Vielleicht sind es 100.
„Die Zukunft ist ungeschrieben, die Zukunft ist so schön vakant.“ Weise Worte von Thees Uhlmann.
Christian Hanne, Jahrgang 1975, hat als Kind zu viel Ephraim Kishon gelesen und zu viel “Nackte Kanone” geschaut. Mit seiner Frau lebt er in Berlin-Moabit, die Kinder stellen ihre Füße nur noch virtuell unter den elterlichen Tisch. Kulinarisch pflegt er eine obsessive Leidenschaft für Käsekuchen. Sogar mit Rosinen. Ansonsten ist er mental einigermaßen stabil.
Vor gut 18 Jahren zog ich meiner neugeborenen Tochter im Krankenhaus einen altrosafarbenen Frotteestrampler aus dem Klinik-Bestand an und dachte dabei: „Hoffentlich vermasseln wir das nicht mit dem Elternsein.“ Meiner Tochter lief eine kleine Träne über ihr kleines Gesicht. Wahrscheinlich dachte sie dasselbe.
Inzwischen ist die Tochter volljährig und ein ganz wunderbarer Mensch. Sie ist empathisch, hilfsbereit, liebevoll, meinungsstark, witzig, reflektiert und vieles mehr. Anscheinend haben wir als Eltern nicht vollkommen versagt. Oder unser Einfluss war so gering, dass wir keinen Schaden anrichten konnten.
Nun ist sie letzte Woche zum Studium nach Schweden gezogen, wird immer mehr auf eigenen Füßen stehen und uns Eltern immer weniger brauchen. Da stellt sich mir die Frage, was ich meiner Tochter auf ihrem weiteren Lebensweg noch mitgeben kann. Wahrscheinlich nicht viel, denn in vielen Dingen ist sie viel weiser und klüger als ich es bin. Trotzdem habe ich 99 Weisheiten und Unweisheiten aufgeschrieben, die vielleicht hilfreich sind, denn auch Väter können nicht irren. Zumindest manchmal.
„Carpe Diem“ und „Heute ist der erste Tag vom Rest deines Lebens“ klingen wie beschissene Kalendersprüche, aber das heißt nicht, dass sie nicht trotzdem wahr sind.
Dein Leben dauert ungefähr 4.000 Wochen. Mit etwas Glück ein paar hundert Wochen länger. Mach‘ das Beste für dich daraus. Weise Gedanken von Oliver Burkeman.
Weil deine Lebenszeit begrenzt ist, musst du dich nicht nur entscheiden, was du machst, sondern auch, was du nicht machst. Ich habe mich zum Beispiel vor zwei Jahren entschieden, den Keller nicht zu entrümpeln.
Christian Hanne, Jahrgang 1975, hat als Kind zu viel Ephraim Kishon gelesen und zu viel “Nackte Kanone” geschaut. Mit seiner Frau lebt er in Berlin-Moabit, die Kinder stellen ihre Füße nur noch virtuell unter den elterlichen Tisch. Kulinarisch pflegt er eine obsessive Leidenschaft für Käsekuchen. Sogar mit Rosinen. Ansonsten ist er mental einigermaßen stabil.
Im Zug fällt mir ein, dass ich mich nicht von dem Kioskbesitzer
verabschiedet habe und fühle mich ein wenig schlecht. Er ist mir doch ans Herz
gewachsen. Außerdem hat er mich in der ganzen Woche zuverlässig mit Nahrung
versorgt, so dass ich keinen Hunger und Durst leiden musste. (Tatsächlich kann
ich mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal so etwas wie ein Hungergefühl
hatte.)
Auf der weiteren Fahrt lasse ich die letzten Tage Revue passieren. Fast
eine Woche bestand meine Welt aus Krankenhaus, Hotel und dem Weg zwischen Hotel
und Krankenhaus. Tagsüber war ich Neben-dem-Bett-Sitzer, Flaschen-Anreicher,
Essenstablett-Holer-und-Wegbringer, Nierenschalen-Halter, Kissen-Aufschüttler,
Decken-Glatt-Streichler und Händchen-Halter. Nachmittags war ich der
Im-Lichthof-Rumsitzer, der Durch-die-Krankenhausgänge-Herumirrer, der
Kioskumsatzantreiber, der Das-Geschehen-Beobachter und der
Automaten-Käsekuchen-Esser. Abends wiederum war ich eine Mischung aus
Pressesprecher und Propagandaminister, der Telefonate führt und Textnachrichten
verschickte, um die Familie, Freunde und Bekannte mit den neuesten
medizinischen Informationen und Genesungsfortschritten zu versorgen.
In dieser Zeit habe ich keine Nachrichten verfolgt, kein Fernsehen geschaut, keine Zeitung gelesen und die sozialen Medien weitestgehend gemieden. Mein Kontakt zur Außenwelt bestand in den Telefonaten mit den Kindern, der Schwiegermutter und meinen Eltern sowie dem Austausch in der WhatsApp-Gruppe mit der krummbuckligen Sippe. Ich habe keine Ahnung, was in den letzten sechs Tagen in der Welt alles passiert ist. Robert Habeck könnte Bundeskanzler und Donald Trump impeached sein, ich wüsste nichts davon.
Ich habe quasi wie in einer Blase gelebt, in einer mir etwas fremden Welt.
Ein bisschen wie in „Lost in Translation“. Nur dass ich nicht im Bademantel
rumgelaufen bin. Glaube ich zumindest. Und mit den immergleichen Ritualen und
Abläufen war es auch ein bisschen wie „Und täglich grüßt das Murmeltier“. Nur
dass mir im Krankenhaus bedauerlicherweise kein Murmeltier begegnet ist. Glaube
ich zumindest.
Kurz nach halb Sieben schließe ich die Wohnungstür auf. Die Kinder kommen
aus ihren Zimmern gelaufen und freuen sich, dass ich wieder da bin. Nach
ausgiebiger Begrüßung und Gruppenumarmung inspiziere ich unauffällig die
Wohnung. Ich will ja nicht wie ein spießiger Kontrolletti rüberkommen. Alles in
allem sieht es einigermaßen ordentlich aus. Also, nicht perfekt, aber auch
nicht schlimmer als sonst am Wochenende, bevor wir Großputz machen. (Womöglich
sind es gar nicht die Kinder, die für den Schmutz und die Unordnung in unserer
Wohnung verantwortlich sind?)
Der Kühlschrank ist fast noch genauso voll wie vor unserer Abreise. Dafür
zeugen einige leere Cornflakes-Packungen im Papiermüll, was das
Hauptnahrungsmittel der Kinder in den letzten Tagen war. (Die einen ernähren
sich halt von Cornflakes, die anderen von Sandwiches und Automaten-Käsekuchen.)
Im Badezimmer hängt frisch gewaschene Wäsche auf dem Ständer. Sogar die
Wäscheklammern sind farblich sortiert. Ich schicke meiner Frau ein Foto davon,
um ihren inneren Monk zu erfreuen und als Beleg, dass wir bei der Erziehung
nicht vollkommen versagt haben.
Es ist ein gutes Gefühl, dass die Kinder so vernünftig sind und die Wohnung
nicht in ein „Fear and Loathing in Las Vegas“-Hotelzimmer verwandeln, wenn wir
sie mal ein paar Tage alleine lassen. Vielleicht können wir das demnächst mal wiederholen.
Dann aber lieber nicht für einen Krankenhausaufenthalt, sondern für einen
Kurzurlaub.
Nachdem ich meinen Rucksack ausgeräumt habe, gehen wir gemeinsam essen und
feiern uns ein bisschen, dass wir die Woche so bravourös gemeistert haben.
Meine Frau, die stolz auf ihren Körper sein kann, der die Strapazen der OP so
gut weggesteckt hat, die Kinder, die daran gewachsen sind, sich ein paar Tage
selbst zu versorgen, und ich, der ich es geschafft habe, mein Lebendgewicht in
Form von Sandwiches, belegten Brötchen, Schokoriegeln und Automatenkäsekuchen
zu mir zu nehmen.
Abends im Bett kann ich nicht einschlafen. Meine gewohnte Umgebung ist mir
ungewohnt geworden. Es fühlt sich fast ein wenig fremd an, wieder Zuhause zu
sein und im eigenen Schlafzimmer zu liegen.
Schließlich schlafe ich doch ein. Im Traum sitze ich mit einem Bademantel
bekleidet auf einer Bank im Krankenhaus-Lichthof. In meinem Schoß liegt ein
Murmeltier, dem ich zärtlich den Kopf kraule, während ich das geschäftige Treiben
beobachte. Der Kiosk-Besitzer kommt aus seinem Laden, setzt sich zu mir und
legt seinen Arm um mich. Dann reicht er mir einen Automaten-Käsekuchen und
sagt: „Alles ist gut.“
The End.
Die Operation meiner Frau ist schon einige Wochen her und sie hat sich prächtig erholt. Ich verneige mich in demütiger Dankbarkeit vor dem Professor und dem Operationsteam sowie den Ärztinnen und Ärzten und dem Pflegepersonal, sowohl auf der Intensiv- als auch auf der Kinderstation. Bei der ganzen Hektik und all dem Stress, die den Krankenhausbetrieb kennzeichnen, waren alle immer und ausnahmslos freundlich, umsichtig und empathisch. Sie haben alle einen großen Anteil an der schnellen Genesung meiner Frau. Vielen Dank!
Christian Hanne, Jahrgang 1975, hat als Kind zu viel Ephraim Kishon gelesen und zu viel “Nackte Kanone” geschaut. Mit seiner Frau lebt er in Berlin-Moabit, die Kinder stellen ihre Füße nur noch virtuell unter den elterlichen Tisch. Kulinarisch pflegt er eine obsessive Leidenschaft für Käsekuchen. Sogar mit Rosinen. Ansonsten ist er mental einigermaßen stabil.
Im Krankenhaus hole ich mir als erstes meinen obligatorischen Kaffee. Nicht
weil ich wirklich Lust darauf habe, sondern weil der Kioskbesitzer gestern
Morgen so traurig schaute, als ich an seinem Laden vorbeiging.
Während ich meine Frau begrüße, erscheint ein Stationsarzt und erklärt, ihr
Kalium-Wert sei etwas zu niedrig und sie müsse aufgelöstes Kalium-Brausepulver
trinken. Dabei fuchtelt er mit einem Tütchen eben dieses Brausepulvers vor
ihrem Gesicht rum. Meine Frau schaut ihn angewidert an, als hätte er ihr gerade
mitgeteilt, Kalium-Mangel könne nur mit einem Glas Eigen-Urin behoben werden. Schon
als Kind musste sie nach den Operationen aufgelöstes Kalium trinken und hat es
gehasst.
Mit finsterer Miene erklärt meine Frau, das Kaliumtrinken sei das mit
Abstand Allerschlimmste an ihrem Aufenthalt hier im Krankenhaus. Eine recht
bemerkenswerte Aussage, wurde ihr bei der Operation doch das Brustbein
aufgesägt, die Rippen auseinandergebogen und das Herz abgestellt, um sie an die
Herz-Lungen-Maschine anzuschließen. Aber ich glaube, jetzt ist gerade nicht der
richtige Zeitpunkt, das mit ihr zu diskutieren. Außerdem hatte sie schon beim
Ziehen der Drainagen gesagt, das sei das Allerschlimmste an der Operation.
Allerdings scheint mir jetzt ebenfalls nicht der richtige Zeitpunkt zu sein, um
ihr zu erklären, dass zweimal das Allerschlimmste nicht geht und sie sich schon
entscheiden müsse.
Als sie mit 11 das letzte Mal operiert wurde, wollte ihr Vater sie zum
Kaliumtrinken motivieren, indem er sagte, so schlimm sei das doch gar nicht,
das schmecke doch wie Sprite. Seitdem hat meine Frau nie wieder Sprite
getrunken! Daher verkneife ich mir die Bemerkung, sie solle sich einfach
vorstellen, es sei Gin Tonic.
Schließlich hält sie sich die Nase zu und schüttet sich mit Todesverachtung
das Kalium-Brausegetränk in den Hals. Somit hätte sie das überstanden.
Zumindest bis morgen, bis zum nächsten Kalium-Trunk. Aber dann bin ich ja nicht
mehr da!
Bei der 16-jährigen Zimmernachbarin und ihrer Mutter ist die Stimmung ein
wenig frostig. Das Mädchen ist motzig, weil sie Mathe-Hausaufgaben machen muss,
und ihre Mutter erlaubt ihr nicht, sich die Lösungen auf WhatsApp schicken zu
lassen. Ich habe großes Verständnis für das Mädchen. Da liegst du wegen einer
doofen Herzgeschichte im Krankenhaus und dann musst du dich auch noch mit Mathe
rumärgern. Das ist der Genesung sicherlich nicht dienlich.
Gerne würde ich meine Hilfe anbieten, aber es handelt sich um
Geometrie-Aufgaben und das war schon immer meine mathematische Achillesferse.
Also, noch mehr als Stochastik und Analysis. (Was zur Hölle war das überhaupt
nochmal?) Das bedauernswerte Mädchen soll mit Hilfe des
Sekanten-Tangentensatzes ausrechnen, wie weit man von einem 40 Meter hohen
Leuchtturm sehen kann.
Was für eine Aufgabe! Noch realitätsferner geht es wohl nicht. Ich bin mir
ziemlich sicher, dass sie dieses Wissen später niemals wird anwenden müssen.
Außer sie wird Leuchtturmwärterin, dann ist das vielleicht nicht vollkommen
irrelevant. Wobei sie da ja selbst auf dem Leuchtturm steht und sieht, wie weit
sie sehen kann. Also, doch ein vollkommen unnützes Wissen. Um den
mathematischen Generationen-Konflikt am Nachbarbett nicht zu eskalieren, schweige
ich lieber.
Während ich in der Mittagspause ein belegtes Laugenbrötchen vom Kiosk esse,
bekomme ich eine Nachricht der Kinder. „wann kommst du nachhause“ fragen sie
unter Verzicht auf die Einhaltung gängiger Rechtschreibungs- und
Interpunktionsregeln. Ich möchte mir vorstellen, dass sie das schreiben, weil
sie sich vor Sehnsucht verzehren. Realistischerweise wollen sie lediglich wissen,
wie lange ihnen zum Aufräumen der Wohnung bleibt.
Als ich zurück auf Station komme, strahlt mich meine Frau an. Ihr letzter
Zugang wurde gezogen und sie kann endlich wieder ihre eigenen Klamotten tragen.
Wenn du das verwaschene Krankenhaus-Flügelhemd erstmal gegen ein verwaschenes
Band-Shirt und ausgebeulte Jogginghosen tauschen kannst, fühlst du dich gleich
wie ein neuer Mensch.
Gegen 14 Uhr kommen der ältere Bruder meiner Frau und sein Mann zu Besuch.
Sie bringen mehrere metallisch schimmernde Get-well-soon-Ballons mit (Greta
schüttelt missbilligend den Kopf, die Zimmernachbarin schaut neidisch herüber.)
und eine ebenfalls riesige Tüte, voll mit Süßigkeiten, deren Hauptzutat aus
Erdnussbutter besteht, die sie von ihrer letzten USA-Reise mitgebracht haben.
(Ich weiß nicht, ob ich die beiden dafür lieben oder hassen soll.) „Wer soll
das denn alles essen?“, rufe ich in gespielter Verzweiflung. Da meine Frau noch
nicht wieder so richtig Appetit hat, ist es eine rhetorische Frage.
Kurze Zeit später verabschiede ich mich von meiner Frau und verspreche, dass ich morgen gemeinsam mit den Kindern kommen werde.
Christian Hanne, Jahrgang 1975, hat als Kind zu viel Ephraim Kishon gelesen und zu viel “Nackte Kanone” geschaut. Mit seiner Frau lebt er in Berlin-Moabit, die Kinder stellen ihre Füße nur noch virtuell unter den elterlichen Tisch. Kulinarisch pflegt er eine obsessive Leidenschaft für Käsekuchen. Sogar mit Rosinen. Ansonsten ist er mental einigermaßen stabil.
Dass ich dieses Jahr so gut wie gar nichts gebloggt habe, ist ja kein Zustand. Kein Urlaubsblog, kein Gespräch mit dem Tod, kein Garnichts. Daher kurz vor Schluss ein retrospektiver Krankenhaus-Blog. Quasi wie Urlaub, nur ohne Urlaub.
Samstag, 7.30 Uhr. Mein Handy-Wecker holt mich mit sphärischen Klängen aus
dem Schlaf. Heute geht es zurück nach Berlin. Noch im Bett liegend, wünsche ich
den Kindern per WhatsApp einen guten Morgen und schreibe, dass ich mich auf unser
Wiedersehen freue. Keine Reaktion. Wie immer. Ist ja auch noch zu früh für den
jugendlichen Biorhythmus. Oder sie brauchen etwas länger, um ihre Freude in Worte
zu fassen.
Als nächstes muss ich mich um mein Klamottenproblem kümmern. Gestern konnte ich noch auf mein Ersatz-Polo-Shirt, meine Ersatz-Unterhose und meine Ersatz-Socken zurückgreifen. Aufgrund meiner über 40-jährigen Lebenserfahrung habe ich auf Reisen nämlich immer ein paar Back-up-Klamotten dabei. Falls beim Essen etwas schiefläuft, muss ich nicht in Food-Batik-Klamotten rumlaufen.
Meine über 40-jährige Lebenserfahrung hat aber nicht ausgereicht, mir vorzustellen, dass sich mein Aufenthalt um zwei Tage verlängern könnte. Nun habe ich nichts Frisches zum Anziehen und ziehe ich nach und nach meine bereits getragenen T-Shirts aus meinem Rucksack. Ich schnüffle an jedem von ihnen, ob wenigstens eins nicht nach brunftigem Bison-Büffel riecht. Ich komme mir vor wie bei einer bizarren Wetten-dass-Wette. („Wetten, dass Christian am Geruch seiner T-Shirts erkennt, wann er sie getragen hat, wie viele Schritte er gelaufen ist, wie viele Milliliter er geschwitzt hat, was er zum Mittagessen hatte und wie das Tier heißt, das dem Geruch am ähnlichsten ist!“) Wenigstens steht Thomas Gottschalk nicht neben mir und reißt zotige Sprüche.
Schließlich entscheide ich mich für ein T-Shirt der Kategorie „Müffelt vielleicht ein klein wenig, raubt dir aber noch nicht den Atem und treibt dir auch nicht die Tränen in die Augen.“
Christian Hanne, Jahrgang 1975, hat als Kind zu viel Ephraim Kishon gelesen und zu viel “Nackte Kanone” geschaut. Mit seiner Frau lebt er in Berlin-Moabit, die Kinder stellen ihre Füße nur noch virtuell unter den elterlichen Tisch. Kulinarisch pflegt er eine obsessive Leidenschaft für Käsekuchen. Sogar mit Rosinen. Ansonsten ist er mental einigermaßen stabil.
Dass ich dieses Jahr so gut wie gar nichts gebloggt habe, ist ja kein Zustand. Kein Urlaubsblog, kein Gespräch mit dem Tod, kein Garnichts. Daher kurz vor Schluss ein retrospektiver Krankenhaus-Blog. Quasi wie Urlaub, nur ohne Urlaub.
Freitag, 7.20 Uhr. Ich schicke den Kindern nach dem Aufstehen einen Guten-Morgen-Gruß, auf den sie nicht reagieren. Also alles im grünen Bereich Zuhause. Anschließend gehe ich zum Frühstücksraum. Wie im Foyer wurde hier viel Marmorimitat verbaut – vielleicht gab es da ein Sonderangebot – und es gibt die gleichen Messinglampen und samtbezogenen Zebra-Stühlen.
Auf den Tischen stehen große Thermoskannen mit Kaffee und kleine Tischmülleimer. Bei meinem Klassenkameraden Olaf gab es auch immer diese kleinen Tischmülleimer. Das übte als Kind eine eigenartige Faszination auf mich aus. Einerseits fand ich das ein bisschen abstoßend. Wer will schon im Angesicht eines Mülleimers frühstücken? Andererseits war es praktisch, um den eigenen Tellerrand von Eierschalen, Käserinden und Wurstpellen freizuhalten. Tischmülleimer sind eigentlich wie Darmspiegelungen. Eklig, aber gleichzeitig nützlich.
Christian Hanne, Jahrgang 1975, hat als Kind zu viel Ephraim Kishon gelesen und zu viel “Nackte Kanone” geschaut. Mit seiner Frau lebt er in Berlin-Moabit, die Kinder stellen ihre Füße nur noch virtuell unter den elterlichen Tisch. Kulinarisch pflegt er eine obsessive Leidenschaft für Käsekuchen. Sogar mit Rosinen. Ansonsten ist er mental einigermaßen stabil.
Mit gutem Gefühl und einen Automaten-Käsekuchen essend – den ich übrigens
mit vier Bissen verzehre –, gehe ich zu meinem neuen Hotel. Es trägt den Namen
Astoria. Das soll ihm etwas mehr Glanz und Gloria verleihen, als es tatsächlich
zu bieten hat.
Ich betrete die Lobby und fühle mich, als hätte ich ein Zeitreise-Portal durchschritten. Der Boden ist mit weißem Marmor-Imitat ausgelegt, auf ein paar vergoldeten Tischchen stehen Gold schimmernde Messing-Lampen, die Stühle sind mit Samt im schwarz-weißen Zebra-Look bezogen und daneben stehen ein paar weiße Ledersofas. Willkommen in den 80ern!
Also, nicht die 80er, in denen alle mit neonfarbenen Schweißbändern und toupierten Nena-Haaren rumlaufen, sondern diese heimeligen „Generation Golf“-80er aus den Vorabendserien der Öffentlich-Rechlichen, durch die immer ein leichter Helmut-Kohl-Muff wehte.
Am Empfang begrüßt mich die Hotelbesitzerin persönlich. Sie ist Anfang 60 und sieht aus, als sei sie geradewegs aus einer dieser Vorabendserien entsprungen. Aus „Die Wicherts von nebenan“ oder so. (Die Älteren erinnern sich.) Ihr Haar ist blondiert, ihre Gesichtshaut weist einen Farbton und Austrocknungsgrad auf, die darauf hindeuten, dass sie in ihrer Freizeit die ein oder andere Stunde unter der Sonnenbank verbringt. Sie trägt eine an den Ärmeln weit geschnittene Seidenbluse und eine randlose Brille mit blau getönten Gläsern.
So eine Brille habe ich das letzte Mal vor über 30 Jahren auf einer Familienfeier gesehen. Die Großcousine meiner Mutter trug so ein Modell. Damals, als 10-jähriger Knabe, fand ich das todschick. Ja, auch wenn es Sie verwundert: Ich war nicht immer der geschmacks- und stilsichere Mensch, der ich heute bin. (Wenn Sie aufgehört haben zu lachen, können Sie weiterlesen.)
Die Hotelbesitzerin händigt mir meinen Zimmerschlüssel aus. Einen richtigen Schlüssel mit einem dieser klobigen Messing-Anhänger, die so groß sind, dass sie in keine Hosentasche passen. Das ist ein wenig old-school, aber in den 80ern gab es nun mal noch keine Schlüsselkarten.
In meinem Hotelzimmer setzt sich mein 80er-Jahre-Nostalgie-Trip fort. Die Einrichtung sieht aus, als sei sie aus den Requisiten von „Das Erbe der Guldenburgs“ zusammengestellt. Dafür ist das Zimmer aber im Vergleich zu meiner bisherigen Box von geradezu herrschaftlicher Größe. Es gibt ein Doppelbett und ein eigenes Badezimmer. Und Fenster! Okay, der Blick geht auf den Hotelparkplatz, aber es ist trotzdem ein Fenster.
Ich setze mich auf den mit grünem Stoff bezogenen Stuhl am Schreibtisch und komme meinen abendlichen Berichterstattungspflichten bei der Schwiegermutter, meinen Eltern und den Geschwistern nach. Anschließend telefoniere ich mit den Kindern. Der Sohn berichtet, er habe im Physik-Test eine 1- geschrieben. Sehr erstaunlich. Von mir kann er das nicht haben. Ich hatte in meiner ganzen Schullaufbahn nie eine 1 in Physik. Anschließend erzählt die Tochter, sie habe in Sport im Cooper-Test eine 2+ bekommen. Ihr hätten nur 15 Meter zur 1 gefehlt.
Seit die Kinder alleine sind, haben sich ihre Noten erheblich verbessert. Vielleicht sollte ich bis zum Ende des Halbjahres wegbleiben. Oder bis zu ihrem Abitur.
Ich ziehe mich um, putze mir die Zähne und gehe schlafen. Im Traum sitze ich an der Hotelbar, in der Ecke sitzt ein Alleinunterhalter und spielt auf seinem Keyboard ein Medley aus den Titel-Melodien von „Diese Drombuschs“, „Rivalen der Rennbahn“ und „Zwei Münchner in Hamburg“. Baby Schimmerlos serviert Kir Royal.
Christian Hanne, Jahrgang 1975, hat als Kind zu viel Ephraim Kishon gelesen und zu viel “Nackte Kanone” geschaut. Mit seiner Frau lebt er in Berlin-Moabit, die Kinder stellen ihre Füße nur noch virtuell unter den elterlichen Tisch. Kulinarisch pflegt er eine obsessive Leidenschaft für Käsekuchen. Sogar mit Rosinen. Ansonsten ist er mental einigermaßen stabil.
Nach dem anstrengenden Drainagen-Ziehen döst meine Frau etwas vor sich hin, ich streichle ihren Arm und übe mich im Rumsitzen und Nichtstun. Plötzlich gibt es am Nachbarbett einen kleinen Aufruhr. Der Vater eines knapp einjährigen Babys hat am Überwachungsmonitor den Alarm ausgestellt, als dieser anfing zu piepen. Eine der Krankenschwestern erklärt ihm, die Geräte dürften nur vom medizinischen Personal angefasst werden. Dabei zuckt ihr rechtes Auge leicht nervös. Der Vater erwidert beleidigt, auf Normalstation hätten sie die Geräte ausmachen sollen. Die Krankenschwester entgegnet mühsam beherrscht, dies sei aber keine Normalstation.
Irgendwie kann ich den Vater verstehen. Du sitzt den ganzen Tag rum, machst dir Sorgen um dein Kind, fühlst dich vollkommen ohnmächtig und nutzlos und bist körperlich und geistig total erschöpft. Gleichzeitig blinken die ganzen Geräte und es piepst pausenlos wie bei einem aus der Kontrolle geratenen Tinnitus. Wahrscheinlich wollte sich der Vater nur ein wenig nützlich machen und die Krankenschwestern unterstützen. Trotzdem ist es keine besonders gute Idee, an einem Gerät rumzudrücken, dass die Vitalfunktionen deines Kindes überwacht.
Zum Mittagessen hole ich mir ein paar Sandwiches im Kiosk und setze mich wieder in den Lichthof. Dort schmücken zwei ältere Damen und ein Herr gerade die große Aufgangstreppe. Die beiden Frauen hängen Girlanden und Luftschlangen ans Geländer, der Mann steht daneben, hält eine Tesafilmrolle und tut geschäftig, um den Eindruck zu erwecken, er helfe auch. (Ich vermute, dass er bis zu seiner Pensionierung eine leitende Funktion in einer öffentlichen Verwaltung bekleidet hat.) Zwei andere Frauen schleppen ein paar Stehtische heran, auf die sie Sektflaschen, Gläser und Canapés anrichten.
Der Tesafilm-Mann verschwindet und kommt kurze Zeit später mit einem Leiterwagen zurück, auf den eine Art Thron geschraubt ist. Die Bezeichnung Thron ist vielleicht etwas irreführend. Eigentlich handelt es sich um einen klapprigen Holzstuhl, der mit mehr Enthusiasmus als Talent mit Goldfarbe angesprüht wurde. Die Deko-Frauen hängen nun ein paar Luftballons ans Geländer und es werden weitere Getränke und Kuchen angeschleppt.
Aus meinen Beobachtungen und der Unterhaltung des Schmück-Kommandos schlussfolgere ich, dass hier irgendwelche Promotionsfeierlichkeiten vorbereitet werden. Später werde ich Zeuge, wie die frisch promovierten Ärzte einzeln auf dem Leiterwagen über den Campus gezogen werden. Da studierst du mehr als zehn Semester, forschst und schreibst eine Doktorarbeit, bist bereit, Menschenleben zu retten und dann musst du dich demütigen lassen, indem du auf einem wurmstichigen Pseudo-Thron sitzend zum Gespött der medizinischen Fakultät gemacht wirst.
Da lobe ich mir mein Soziologie-Studium. Da hat sich an der Uni kein Schwein dafür interessiert, wenn du deinen Abschluss gemacht hast. (Was womöglich daran lag, dass ein Großteil der Soziologie-Studierenden ihr Studium nie beendet hat.)
Nach dem Ziehen der Drainagen geht es meiner Frau stündlich besser. Als ich nach der Mittagspause zurückkomme, erzählt sie, sie habe eben alleine ihre Wasserflasche vom Nachtschrank genommen und außerdem zwei Bissen Graubrot gegessen.
Für Sie hört sich das vielleicht nicht besonders spektakulär an, eine Flasche selbst nehmen und zwei Bissen Graubrot essen. Aber auf einer Intensivstation, zwei Tage nach einer zehnstündigen OP am offenen Herzen gelten andere Maßstäbe. Da sind das richtige Meilensteine. Wie bei einem Baby, das erstmalig sein Köpfchen hebt, sich auf den Bauch dreht oder ein Bäuerchen macht. Trotzdem sollte ich meiner Frau, wenn sie das erste Mal wieder alleine auf Toilette geht, nicht den Kopf streicheln und sagen: „Na, hast du einen Stinker gemacht? Ja? Fein hast du das gemacht. Einen ganz feinen Stinker, ganz, ganz fein.“
Ein Assistenzarzt kommt zur Blutabnahme. Er ist noch recht jung, sehr freundlich und äußerst sympathisch. Der Typ Mann, den du dir als Schwiegersohn wünschst, egal ob du Kinder hast oder nicht. Ich frage nach, für was die ganzen Blutröhrchen sind, die er mit dem Blut meiner Frau füllt, und lasse dabei einfließen, ich hätte meinen Zivildienst im Krankenhaus gemacht. Wir könnten quasi von Kollege zu Kollege fachsimpeln.
Meine Frau rollt mit den Augen. Wirklich beachtlich, welche Fortschritte sie macht. Gestern Vormittag hat sie die Augen kaum aufbekommen und heute rollt sie schon damit. („Ganz fein rollst du deine Augen. Ganz, ganz fein!“)
Der junge Arzt freut sich über mein Interesse und beschreibt minutiös jeden einzelnen seiner Schritte. Dabei verwendet er allerdings mehr lateinische Vokabeln, als der Sohn bei seiner Arbeit am Montag übersetzen musste. (Sie wissen schon, die, bei der er das beste Gefühl seit zwei Jahren hatte.) Ich hoffe allerdings, dass der lateinische Wortschatz des Sohns besser ist als meiner. Ich verstehe nämlich fast nichts, traue mich aber nicht, nachzufragen, aus Angst, die Antwort noch weniger zu verstehen. So wie früher in der Schule. Stattdessen werfe ich an Stellen, die mir passend erscheinen, ein „Okay“, „Das ist aber interessant“ oder gar ein „Verstehe!“ ein. Auch wie früher in der Schule.
Am Abend sitzt meine Frau erstmals etwas schräger im Bett und schafft vier
Bissen Graubrot. Es geht weiter voran. Angesichts meines Kalorienüberschusses
der letzten Tage, wäre das auch ein Meilenstein für mich. Bei einer Mahlzeit
mit vier Bissen auskommen.
Die Zähne putzt sich meine Frau heute selbst, ich halte nur noch die
Nierenschale zum Ausspucken. Die Krankenschwester meint, morgen könne meine
Frau sicherlich auf Normalstation verlegt werden.
Christian Hanne, Jahrgang 1975, hat als Kind zu viel Ephraim Kishon gelesen und zu viel “Nackte Kanone” geschaut. Mit seiner Frau lebt er in Berlin-Moabit, die Kinder stellen ihre Füße nur noch virtuell unter den elterlichen Tisch. Kulinarisch pflegt er eine obsessive Leidenschaft für Käsekuchen. Sogar mit Rosinen. Ansonsten ist er mental einigermaßen stabil.
Dass ich dieses Jahr so gut wie gar nichts gebloggt habe, ist ja kein Zustand. Kein Urlaubsblog, kein Gespräch mit dem Tod, kein Garnichts. Daher kurz vor Schluss ein retrospektiver Krankenhaus-Blog. Quasi wie Urlaub, nur ohne Urlaub.
Donnerstag, 7.00 Uhr. Ich schreibe eine Gute-Morgen-Nachricht an die Kinder. Sie bleibt wie immer unbeantwortet. Es geht ihnen also gut. Ich sitze auf dem Bett meiner Hotel-Box und suche am Laptop nach einer neuen Unterkunft. Ich hatte nur bis heute das Zimmer gebucht, weil ich vollkommen naiv dachte, ich könnte zwei Tage nach der OP wieder zurückzufahren. (Wahrscheinlich habe ich gar nicht nachgedacht.) Meine Frau hat die Operation zwar sehr gut überstanden und macht täglich Fortschritte, aber ich habe das Gefühl, es wäre besser, zu bleiben, bis sie auf die normale Station verlegt wird. Laut den Ärzten morgen oder Samstag.
Als ich den Kindern gestern Abend mitgeteilt habe, dass ich noch ein paar
Tage länger weg bin, hielt sich ihr Kummer in Grenzen. Sie meinten, ich könne
auch ruhig bis Sonntag bleiben, das würde ihnen wirklich gar nichts ausmachen.
Wirklich überhaupt nichts. Ich müsse mir keine Sorgen um sie machen. Aha!
Christian Hanne, Jahrgang 1975, hat als Kind zu viel Ephraim Kishon gelesen und zu viel “Nackte Kanone” geschaut. Mit seiner Frau lebt er in Berlin-Moabit, die Kinder stellen ihre Füße nur noch virtuell unter den elterlichen Tisch. Kulinarisch pflegt er eine obsessive Leidenschaft für Käsekuchen. Sogar mit Rosinen. Ansonsten ist er mental einigermaßen stabil.