99 Weisheiten und Unweisheiten für meine Tochter, die letzte Woche ausgezogen ist

Vor gut 18 Jahren zog ich meiner neugeborenen Tochter im Krankenhaus einen altrosafarbenen Frotteestrampler aus dem Klinik-Bestand an und dachte dabei: „Hoffentlich vermasseln wir das nicht mit dem Elternsein.“ Meiner Tochter lief eine kleine Träne über ihr kleines Gesicht. Wahrscheinlich dachte sie dasselbe.

Inzwischen ist die Tochter volljährig und ein ganz wunderbarer Mensch. Sie ist empathisch, hilfsbereit, liebevoll, meinungsstark, witzig, reflektiert und vieles mehr. Anscheinend haben wir als Eltern nicht vollkommen versagt. Oder unser Einfluss war so gering, dass wir keinen Schaden anrichten konnten.

Nun ist sie letzte Woche zum Studium nach Schweden gezogen, wird immer mehr auf eigenen Füßen stehen und uns Eltern immer weniger brauchen. Da stellt sich mir die Frage, was ich meiner Tochter auf ihrem weiteren Lebensweg noch mitgeben kann. Wahrscheinlich nicht viel, denn in vielen Dingen ist sie viel weiser und klüger als ich es bin. Trotzdem habe ich 99 Weisheiten und Unweisheiten aufgeschrieben, die vielleicht hilfreich sind, denn auch Väter können nicht irren. Zumindest manchmal.

  • „Carpe Diem“ und „Heute ist der erste Tag vom Rest deines Lebens“ klingen wie beschissene Kalendersprüche, aber das heißt nicht, dass sie nicht trotzdem wahr sind.
  • Dein Leben dauert ungefähr 4.000 Wochen. Mit etwas Glück ein paar hundert Wochen länger. Mach‘ das Beste für dich daraus. Weise Gedanken von Oliver Burkeman.
  • Weil deine Lebenszeit begrenzt ist, musst du dich nicht nur entscheiden, was du machst, sondern auch, was du nicht machst. Ich habe mich zum Beispiel vor zwei Jahren entschieden, den Keller nicht zu entrümpeln.
  • Trinke nie Gin&Tonic aus der Dose.
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Beobachtungen aus dem Krankenhaus (Tag 6): Heart of Gold (3/3)

Tag 6 (1/3)
Tag 6 (2/3)


Im Zug fällt mir ein, dass ich mich nicht von dem Kioskbesitzer verabschiedet habe und fühle mich ein wenig schlecht. Er ist mir doch ans Herz gewachsen. Außerdem hat er mich in der ganzen Woche zuverlässig mit Nahrung versorgt, so dass ich keinen Hunger und Durst leiden musste. (Tatsächlich kann ich mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal so etwas wie ein Hungergefühl hatte.)

Auf der weiteren Fahrt lasse ich die letzten Tage Revue passieren. Fast eine Woche bestand meine Welt aus Krankenhaus, Hotel und dem Weg zwischen Hotel und Krankenhaus. Tagsüber war ich Neben-dem-Bett-Sitzer, Flaschen-Anreicher, Essenstablett-Holer-und-Wegbringer, Nierenschalen-Halter, Kissen-Aufschüttler, Decken-Glatt-Streichler und Händchen-Halter. Nachmittags war ich der Im-Lichthof-Rumsitzer, der Durch-die-Krankenhausgänge-Herumirrer, der Kioskumsatzantreiber, der Das-Geschehen-Beobachter und der Automaten-Käsekuchen-Esser. Abends wiederum war ich eine Mischung aus Pressesprecher und Propagandaminister, der Telefonate führt und Textnachrichten verschickte, um die Familie, Freunde und Bekannte mit den neuesten medizinischen Informationen und Genesungsfortschritten zu versorgen.

In dieser Zeit habe ich keine Nachrichten verfolgt, kein Fernsehen geschaut, keine Zeitung gelesen und die sozialen Medien weitestgehend gemieden. Mein Kontakt zur Außenwelt bestand in den Telefonaten mit den Kindern, der Schwiegermutter und meinen Eltern sowie dem Austausch in der WhatsApp-Gruppe mit der krummbuckligen Sippe. Ich habe keine Ahnung, was in den letzten sechs Tagen in der Welt alles passiert ist. Robert Habeck könnte Bundeskanzler und Donald Trump impeached sein, ich wüsste nichts davon.

Ich habe quasi wie in einer Blase gelebt, in einer mir etwas fremden Welt. Ein bisschen wie in „Lost in Translation“. Nur dass ich nicht im Bademantel rumgelaufen bin. Glaube ich zumindest. Und mit den immergleichen Ritualen und Abläufen war es auch ein bisschen wie „Und täglich grüßt das Murmeltier“. Nur dass mir im Krankenhaus bedauerlicherweise kein Murmeltier begegnet ist. Glaube ich zumindest.


Kurz nach halb Sieben schließe ich die Wohnungstür auf. Die Kinder kommen aus ihren Zimmern gelaufen und freuen sich, dass ich wieder da bin. Nach ausgiebiger Begrüßung und Gruppenumarmung inspiziere ich unauffällig die Wohnung. Ich will ja nicht wie ein spießiger Kontrolletti rüberkommen. Alles in allem sieht es einigermaßen ordentlich aus. Also, nicht perfekt, aber auch nicht schlimmer als sonst am Wochenende, bevor wir Großputz machen. (Womöglich sind es gar nicht die Kinder, die für den Schmutz und die Unordnung in unserer Wohnung verantwortlich sind?)

Der Kühlschrank ist fast noch genauso voll wie vor unserer Abreise. Dafür zeugen einige leere Cornflakes-Packungen im Papiermüll, was das Hauptnahrungsmittel der Kinder in den letzten Tagen war. (Die einen ernähren sich halt von Cornflakes, die anderen von Sandwiches und Automaten-Käsekuchen.)

Im Badezimmer hängt frisch gewaschene Wäsche auf dem Ständer. Sogar die Wäscheklammern sind farblich sortiert. Ich schicke meiner Frau ein Foto davon, um ihren inneren Monk zu erfreuen und als Beleg, dass wir bei der Erziehung nicht vollkommen versagt haben.

Es ist ein gutes Gefühl, dass die Kinder so vernünftig sind und die Wohnung nicht in ein „Fear and Loathing in Las Vegas“-Hotelzimmer verwandeln, wenn wir sie mal ein paar Tage alleine lassen. Vielleicht können wir das demnächst mal wiederholen. Dann aber lieber nicht für einen Krankenhausaufenthalt, sondern für einen Kurzurlaub.

Nachdem ich meinen Rucksack ausgeräumt habe, gehen wir gemeinsam essen und feiern uns ein bisschen, dass wir die Woche so bravourös gemeistert haben. Meine Frau, die stolz auf ihren Körper sein kann, der die Strapazen der OP so gut weggesteckt hat, die Kinder, die daran gewachsen sind, sich ein paar Tage selbst zu versorgen, und ich, der ich es geschafft habe, mein Lebendgewicht in Form von Sandwiches, belegten Brötchen, Schokoriegeln und Automatenkäsekuchen zu mir zu nehmen.


Abends im Bett kann ich nicht einschlafen. Meine gewohnte Umgebung ist mir ungewohnt geworden. Es fühlt sich fast ein wenig fremd an, wieder Zuhause zu sein und im eigenen Schlafzimmer zu liegen.

Schließlich schlafe ich doch ein. Im Traum sitze ich mit einem Bademantel bekleidet auf einer Bank im Krankenhaus-Lichthof. In meinem Schoß liegt ein Murmeltier, dem ich zärtlich den Kopf kraule, während ich das geschäftige Treiben beobachte. Der Kiosk-Besitzer kommt aus seinem Laden, setzt sich zu mir und legt seinen Arm um mich. Dann reicht er mir einen Automaten-Käsekuchen und sagt: „Alles ist gut.“

The End.


Die Operation meiner Frau ist schon einige Wochen her und sie hat sich prächtig erholt. Ich verneige mich in demütiger Dankbarkeit vor dem Professor und dem Operationsteam sowie den Ärztinnen und Ärzten und dem Pflegepersonal, sowohl auf der Intensiv- als auch auf der Kinderstation. Bei der ganzen Hektik und all dem Stress, die den Krankenhausbetrieb kennzeichnen, waren alle immer und ausnahmslos freundlich, umsichtig und empathisch. Sie haben alle einen großen Anteil an der schnellen Genesung meiner Frau. Vielen Dank!


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Beobachtungen aus dem Krankenhaus (Tag 6): Heart of Gold (2/3)

Tag 6 (1/3)


Im Krankenhaus hole ich mir als erstes meinen obligatorischen Kaffee. Nicht weil ich wirklich Lust darauf habe, sondern weil der Kioskbesitzer gestern Morgen so traurig schaute, als ich an seinem Laden vorbeiging.

Während ich meine Frau begrüße, erscheint ein Stationsarzt und erklärt, ihr Kalium-Wert sei etwas zu niedrig und sie müsse aufgelöstes Kalium-Brausepulver trinken. Dabei fuchtelt er mit einem Tütchen eben dieses Brausepulvers vor ihrem Gesicht rum. Meine Frau schaut ihn angewidert an, als hätte er ihr gerade mitgeteilt, Kalium-Mangel könne nur mit einem Glas Eigen-Urin behoben werden. Schon als Kind musste sie nach den Operationen aufgelöstes Kalium trinken und hat es gehasst.

Mit finsterer Miene erklärt meine Frau, das Kaliumtrinken sei das mit Abstand Allerschlimmste an ihrem Aufenthalt hier im Krankenhaus. Eine recht bemerkenswerte Aussage, wurde ihr bei der Operation doch das Brustbein aufgesägt, die Rippen auseinandergebogen und das Herz abgestellt, um sie an die Herz-Lungen-Maschine anzuschließen. Aber ich glaube, jetzt ist gerade nicht der richtige Zeitpunkt, das mit ihr zu diskutieren. Außerdem hatte sie schon beim Ziehen der Drainagen gesagt, das sei das Allerschlimmste an der Operation. Allerdings scheint mir jetzt ebenfalls nicht der richtige Zeitpunkt zu sein, um ihr zu erklären, dass zweimal das Allerschlimmste nicht geht und sie sich schon entscheiden müsse.

Als sie mit 11 das letzte Mal operiert wurde, wollte ihr Vater sie zum Kaliumtrinken motivieren, indem er sagte, so schlimm sei das doch gar nicht, das schmecke doch wie Sprite. Seitdem hat meine Frau nie wieder Sprite getrunken! Daher verkneife ich mir die Bemerkung, sie solle sich einfach vorstellen, es sei Gin Tonic.

Schließlich hält sie sich die Nase zu und schüttet sich mit Todesverachtung das Kalium-Brausegetränk in den Hals. Somit hätte sie das überstanden. Zumindest bis morgen, bis zum nächsten Kalium-Trunk. Aber dann bin ich ja nicht mehr da!


Bei der 16-jährigen Zimmernachbarin und ihrer Mutter ist die Stimmung ein wenig frostig. Das Mädchen ist motzig, weil sie Mathe-Hausaufgaben machen muss, und ihre Mutter erlaubt ihr nicht, sich die Lösungen auf WhatsApp schicken zu lassen. Ich habe großes Verständnis für das Mädchen. Da liegst du wegen einer doofen Herzgeschichte im Krankenhaus und dann musst du dich auch noch mit Mathe rumärgern. Das ist der Genesung sicherlich nicht dienlich.

Gerne würde ich meine Hilfe anbieten, aber es handelt sich um Geometrie-Aufgaben und das war schon immer meine mathematische Achillesferse. Also, noch mehr als Stochastik und Analysis. (Was zur Hölle war das überhaupt nochmal?) Das bedauernswerte Mädchen soll mit Hilfe des Sekanten-Tangentensatzes ausrechnen, wie weit man von einem 40 Meter hohen Leuchtturm sehen kann.

Was für eine Aufgabe! Noch realitätsferner geht es wohl nicht. Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie dieses Wissen später niemals wird anwenden müssen. Außer sie wird Leuchtturmwärterin, dann ist das vielleicht nicht vollkommen irrelevant. Wobei sie da ja selbst auf dem Leuchtturm steht und sieht, wie weit sie sehen kann. Also, doch ein vollkommen unnützes Wissen. Um den mathematischen Generationen-Konflikt am Nachbarbett nicht zu eskalieren, schweige ich lieber.


Während ich in der Mittagspause ein belegtes Laugenbrötchen vom Kiosk esse, bekomme ich eine Nachricht der Kinder. „wann kommst du nachhause“ fragen sie unter Verzicht auf die Einhaltung gängiger Rechtschreibungs- und Interpunktionsregeln. Ich möchte mir vorstellen, dass sie das schreiben, weil sie sich vor Sehnsucht verzehren. Realistischerweise wollen sie lediglich wissen, wie lange ihnen zum Aufräumen der Wohnung bleibt.


Als ich zurück auf Station komme, strahlt mich meine Frau an. Ihr letzter Zugang wurde gezogen und sie kann endlich wieder ihre eigenen Klamotten tragen. Wenn du das verwaschene Krankenhaus-Flügelhemd erstmal gegen ein verwaschenes Band-Shirt und ausgebeulte Jogginghosen tauschen kannst, fühlst du dich gleich wie ein neuer Mensch.

Gegen 14 Uhr kommen der ältere Bruder meiner Frau und sein Mann zu Besuch. Sie bringen mehrere metallisch schimmernde Get-well-soon-Ballons mit (Greta schüttelt missbilligend den Kopf, die Zimmernachbarin schaut neidisch herüber.) und eine ebenfalls riesige Tüte, voll mit Süßigkeiten, deren Hauptzutat aus Erdnussbutter besteht, die sie von ihrer letzten USA-Reise mitgebracht haben. (Ich weiß nicht, ob ich die beiden dafür lieben oder hassen soll.) „Wer soll das denn alles essen?“, rufe ich in gespielter Verzweiflung. Da meine Frau noch nicht wieder so richtig Appetit hat, ist es eine rhetorische Frage.

Kurze Zeit später verabschiede ich mich von meiner Frau und verspreche, dass ich morgen gemeinsam mit den Kindern kommen werde.


Fortsetzung (Tag 6, 3/3)


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Beobachtungen aus dem Krankenhaus (Tag 6): Heart of Gold (1/3)

Dass ich dieses Jahr so gut wie gar nichts gebloggt habe, ist ja kein Zustand. Kein Urlaubsblog, kein Gespräch mit dem Tod, kein Garnichts. Daher kurz vor Schluss ein retrospektiver Krankenhaus-Blog. Quasi wie Urlaub, nur ohne Urlaub.


Tag 1: Ein kaputtes Herz muss man reparieren
Tag 2: Don’t go breaking her heart
Tag 3: Her heart will go on
Tag 4: Every beat of her hear
Tag 5: Tock! Goes her heart


Samstag, 7.30 Uhr. Mein Handy-Wecker holt mich mit sphärischen Klängen aus dem Schlaf. Heute geht es zurück nach Berlin. Noch im Bett liegend, wünsche ich den Kindern per WhatsApp einen guten Morgen und schreibe, dass ich mich auf unser Wiedersehen freue. Keine Reaktion. Wie immer. Ist ja auch noch zu früh für den jugendlichen Biorhythmus. Oder sie brauchen etwas länger, um ihre Freude in Worte zu fassen.

Als nächstes muss ich mich um mein Klamottenproblem kümmern. Gestern konnte ich noch auf mein Ersatz-Polo-Shirt, meine Ersatz-Unterhose und meine Ersatz-Socken zurückgreifen. Aufgrund meiner über 40-jährigen Lebenserfahrung habe ich auf Reisen nämlich immer ein paar Back-up-Klamotten dabei. Falls beim Essen etwas schiefläuft, muss ich nicht in Food-Batik-Klamotten rumlaufen.

Meine über 40-jährige Lebenserfahrung hat aber nicht ausgereicht, mir vorzustellen, dass sich mein Aufenthalt um zwei Tage verlängern könnte. Nun habe ich nichts Frisches zum Anziehen und ziehe ich nach und nach meine bereits getragenen T-Shirts aus meinem Rucksack. Ich schnüffle an jedem von ihnen, ob wenigstens eins nicht nach brunftigem Bison-Büffel riecht. Ich komme mir vor wie bei einer bizarren Wetten-dass-Wette. („Wetten, dass Christian am Geruch seiner T-Shirts erkennt, wann er sie getragen hat, wie viele Schritte er gelaufen ist, wie viele Milliliter er geschwitzt hat, was er zum Mittagessen hatte und wie das Tier heißt, das dem Geruch am ähnlichsten ist!“) Wenigstens steht Thomas Gottschalk nicht neben mir und reißt zotige Sprüche.

T-Shirt-Geruchskategorie (Symbolbild; Originalgeruch könnte strenger sein)

Schließlich entscheide ich mich für ein T-Shirt der Kategorie „Müffelt vielleicht ein klein wenig, raubt dir aber noch nicht den Atem und treibt dir auch nicht die Tränen in die Augen.“

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Beobachtungen aus dem Krankenhaus (Tag 5): Tock! Goes her heart (1/3)

Dass ich dieses Jahr so gut wie gar nichts gebloggt habe, ist ja kein Zustand. Kein Urlaubsblog, kein Gespräch mit dem Tod, kein Garnichts. Daher kurz vor Schluss ein retrospektiver Krankenhaus-Blog. Quasi wie Urlaub, nur ohne Urlaub.


Tag 1: Ein kaputtes Herz muss man reparieren
Tag 2: Don’t go breaking her heart
Tag 3: Her heart will go on
Tag 4: Every beat of her heart


Freitag, 7.20 Uhr. Ich schicke den Kindern nach dem Aufstehen einen Guten-Morgen-Gruß, auf den sie nicht reagieren. Also alles im grünen Bereich Zuhause. Anschließend gehe ich zum Frühstücksraum. Wie im Foyer wurde hier viel Marmorimitat verbaut – vielleicht gab es da ein Sonderangebot – und es gibt die gleichen Messinglampen und samtbezogenen Zebra-Stühlen.

Auf den Tischen stehen große Thermoskannen mit Kaffee und kleine Tischmülleimer. Bei meinem Klassenkameraden Olaf gab es auch immer diese kleinen Tischmülleimer. Das übte als Kind eine eigenartige Faszination auf mich aus. Einerseits fand ich das ein bisschen abstoßend. Wer will schon im Angesicht eines Mülleimers frühstücken? Andererseits war es praktisch, um den eigenen Tellerrand von Eierschalen, Käserinden und Wurstpellen freizuhalten. Tischmülleimer sind eigentlich wie Darmspiegelungen. Eklig, aber gleichzeitig nützlich.

Tischmülleimer (Symbolbild; Original kann von Abbildung abweichen)
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Beobachtungen aus dem Krankenhaus (Tag 4): Every beat of her heart (3/3)

Tag 4 (1/3)
Tag 4 (2/3)


Mit gutem Gefühl und einen Automaten-Käsekuchen essend – den ich übrigens mit vier Bissen verzehre –, gehe ich zu meinem neuen Hotel. Es trägt den Namen Astoria. Das soll ihm etwas mehr Glanz und Gloria verleihen, als es tatsächlich zu bieten hat.

Ich betrete die Lobby und fühle mich, als hätte ich ein Zeitreise-Portal durchschritten. Der Boden ist mit weißem Marmor-Imitat ausgelegt, auf ein paar vergoldeten Tischchen stehen Gold schimmernde Messing-Lampen, die Stühle sind mit Samt im schwarz-weißen Zebra-Look bezogen und daneben stehen ein paar weiße Ledersofas. Willkommen in den 80ern!

Also, nicht die 80er, in denen alle mit neonfarbenen Schweißbändern und toupierten Nena-Haaren rumlaufen, sondern diese heimeligen „Generation Golf“-80er aus den Vorabendserien der Öffentlich-Rechlichen, durch die immer ein leichter Helmut-Kohl-Muff wehte.

Am Empfang begrüßt mich die Hotelbesitzerin persönlich. Sie ist Anfang 60 und sieht aus, als sei sie geradewegs aus einer dieser Vorabendserien entsprungen. Aus „Die Wicherts von nebenan“ oder so. (Die Älteren erinnern sich.) Ihr Haar ist blondiert, ihre Gesichtshaut weist einen Farbton und Austrocknungsgrad auf, die darauf hindeuten, dass sie in ihrer Freizeit die ein oder andere Stunde unter der Sonnenbank verbringt. Sie trägt eine an den Ärmeln weit geschnittene Seidenbluse und eine randlose Brille mit blau getönten Gläsern.

So eine Brille habe ich das letzte Mal vor über 30 Jahren auf einer Familienfeier gesehen. Die Großcousine meiner Mutter trug so ein Modell. Damals, als 10-jähriger Knabe, fand ich das todschick. Ja, auch wenn es Sie verwundert: Ich war nicht immer der geschmacks- und stilsichere Mensch, der ich heute bin. (Wenn Sie aufgehört haben zu lachen, können Sie weiterlesen.)

Die Hotelbesitzerin händigt mir meinen Zimmerschlüssel aus. Einen richtigen Schlüssel mit einem dieser klobigen Messing-Anhänger, die so groß sind, dass sie in keine Hosentasche passen. Das ist ein wenig old-school, aber in den 80ern gab es nun mal noch keine Schlüsselkarten.


In meinem Hotelzimmer setzt sich mein 80er-Jahre-Nostalgie-Trip fort. Die Einrichtung sieht aus, als sei sie aus den Requisiten von „Das Erbe der Guldenburgs“ zusammengestellt. Dafür ist das Zimmer aber im Vergleich zu meiner bisherigen Box von geradezu herrschaftlicher Größe. Es gibt ein Doppelbett und ein eigenes Badezimmer. Und Fenster! Okay, der Blick geht auf den Hotelparkplatz, aber es ist trotzdem ein Fenster.

Ich setze mich auf den mit grünem Stoff bezogenen Stuhl am Schreibtisch und komme meinen abendlichen Berichterstattungspflichten bei der Schwiegermutter, meinen Eltern und den Geschwistern nach. Anschließend telefoniere ich mit den Kindern. Der Sohn berichtet, er habe im Physik-Test eine 1- geschrieben. Sehr erstaunlich. Von mir kann er das nicht haben. Ich hatte in meiner ganzen Schullaufbahn nie eine 1 in Physik. Anschließend erzählt die Tochter, sie habe in Sport im Cooper-Test eine 2+ bekommen. Ihr hätten nur 15 Meter zur 1 gefehlt.

Seit die Kinder alleine sind, haben sich ihre Noten erheblich verbessert. Vielleicht sollte ich bis zum Ende des Halbjahres wegbleiben. Oder bis zu ihrem Abitur.


Ich ziehe mich um, putze mir die Zähne und gehe schlafen. Im Traum sitze ich an der Hotelbar, in der Ecke sitzt ein Alleinunterhalter und spielt auf seinem Keyboard ein Medley aus den Titel-Melodien von „Diese Drombuschs“, „Rivalen der Rennbahn“ und „Zwei Münchner in Hamburg“. Baby Schimmerlos serviert Kir Royal.

Gute Nacht!


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Beobachtungen aus dem Krankenhaus (Tag 4): Every beat of her heart (2/3)

Tag 4 (1/3)


Nach dem anstrengenden Drainagen-Ziehen döst meine Frau etwas vor sich hin, ich streichle ihren Arm und übe mich im Rumsitzen und Nichtstun. Plötzlich gibt es am Nachbarbett einen kleinen Aufruhr. Der Vater eines knapp einjährigen Babys hat am Überwachungsmonitor den Alarm ausgestellt, als dieser anfing zu piepen. Eine der Krankenschwestern erklärt ihm, die Geräte dürften nur vom medizinischen Personal angefasst werden. Dabei zuckt ihr rechtes Auge leicht nervös. Der Vater erwidert beleidigt, auf Normalstation hätten sie die Geräte ausmachen sollen. Die Krankenschwester entgegnet mühsam beherrscht, dies sei aber keine Normalstation.

Irgendwie kann ich den Vater verstehen. Du sitzt den ganzen Tag rum, machst dir Sorgen um dein Kind, fühlst dich vollkommen ohnmächtig und nutzlos und bist körperlich und geistig total erschöpft. Gleichzeitig blinken die ganzen Geräte und  es piepst pausenlos wie bei einem aus der Kontrolle geratenen Tinnitus. Wahrscheinlich wollte sich der Vater nur ein wenig nützlich machen und die Krankenschwestern unterstützen. Trotzdem ist es keine besonders gute Idee, an einem Gerät rumzudrücken, dass die Vitalfunktionen deines Kindes überwacht.


Zum Mittagessen hole ich mir ein paar Sandwiches im Kiosk und setze mich wieder in den Lichthof. Dort schmücken zwei ältere Damen und ein Herr gerade die große Aufgangstreppe. Die beiden Frauen hängen Girlanden und Luftschlangen ans Geländer, der Mann steht daneben, hält eine Tesafilmrolle und tut geschäftig, um den Eindruck zu erwecken, er helfe auch. (Ich vermute, dass er bis zu seiner Pensionierung eine leitende Funktion in einer öffentlichen Verwaltung bekleidet hat.) Zwei andere Frauen schleppen ein paar Stehtische heran, auf die sie Sektflaschen, Gläser und Canapés anrichten.

Der Tesafilm-Mann verschwindet und kommt kurze Zeit später mit einem Leiterwagen zurück, auf den eine Art Thron geschraubt ist. Die Bezeichnung Thron ist vielleicht etwas irreführend. Eigentlich handelt es sich um einen klapprigen Holzstuhl, der mit mehr Enthusiasmus als Talent mit Goldfarbe angesprüht wurde. Die Deko-Frauen hängen nun ein paar Luftballons ans Geländer und es werden weitere Getränke und Kuchen angeschleppt.

Aus meinen Beobachtungen und der Unterhaltung des Schmück-Kommandos schlussfolgere ich, dass hier irgendwelche Promotionsfeierlichkeiten vorbereitet werden. Später werde ich Zeuge, wie die frisch promovierten Ärzte einzeln auf dem Leiterwagen über den Campus gezogen werden. Da studierst du mehr als zehn Semester, forschst und schreibst eine Doktorarbeit, bist bereit, Menschenleben zu retten und dann musst du dich demütigen lassen, indem du auf einem wurmstichigen Pseudo-Thron sitzend zum Gespött der medizinischen Fakultät gemacht wirst.

Da lobe ich mir mein Soziologie-Studium. Da hat sich an der Uni kein Schwein dafür interessiert, wenn du deinen Abschluss gemacht hast. (Was womöglich daran lag, dass ein Großteil der Soziologie-Studierenden ihr Studium nie beendet hat.)


Nach dem Ziehen der Drainagen geht es meiner Frau stündlich besser. Als ich nach der Mittagspause zurückkomme, erzählt sie, sie habe eben alleine ihre Wasserflasche vom Nachtschrank genommen und außerdem zwei Bissen Graubrot gegessen.

Für Sie hört sich das vielleicht nicht besonders spektakulär an, eine Flasche selbst nehmen und zwei Bissen Graubrot essen. Aber auf einer Intensivstation, zwei Tage nach einer zehnstündigen OP am offenen Herzen gelten andere Maßstäbe. Da sind das richtige Meilensteine. Wie bei einem Baby, das erstmalig sein Köpfchen hebt, sich auf den Bauch dreht oder ein Bäuerchen macht. Trotzdem sollte ich meiner Frau, wenn sie das erste Mal wieder alleine auf Toilette geht, nicht den Kopf streicheln und sagen: „Na, hast du einen Stinker gemacht? Ja? Fein hast du das gemacht. Einen ganz feinen Stinker, ganz, ganz fein.“


Ein Assistenzarzt kommt zur Blutabnahme. Er ist noch recht jung, sehr freundlich und äußerst sympathisch. Der Typ Mann, den du dir als Schwiegersohn wünschst, egal ob du Kinder hast oder nicht. Ich frage nach, für was die ganzen Blutröhrchen sind, die er mit dem Blut meiner Frau füllt, und lasse dabei einfließen, ich hätte meinen Zivildienst im Krankenhaus gemacht. Wir könnten quasi von Kollege zu Kollege fachsimpeln.

Meine Frau rollt mit den Augen. Wirklich beachtlich, welche Fortschritte sie macht. Gestern Vormittag hat sie die Augen kaum aufbekommen und heute rollt sie schon damit. („Ganz fein rollst du deine Augen. Ganz, ganz fein!“)

Der junge Arzt freut sich über mein Interesse und beschreibt minutiös jeden einzelnen seiner Schritte. Dabei verwendet er allerdings mehr lateinische Vokabeln, als der Sohn bei seiner Arbeit am Montag übersetzen musste. (Sie wissen schon, die, bei der er das beste Gefühl seit zwei Jahren hatte.) Ich hoffe allerdings, dass der lateinische Wortschatz des Sohns besser ist als meiner. Ich verstehe nämlich fast nichts, traue mich aber nicht, nachzufragen, aus Angst, die Antwort noch weniger zu verstehen. So wie früher in der Schule. Stattdessen werfe ich an Stellen, die mir passend erscheinen, ein „Okay“, „Das ist aber interessant“ oder gar ein „Verstehe!“ ein. Auch wie früher in der Schule.


Am Abend sitzt meine Frau erstmals etwas schräger im Bett und schafft vier Bissen Graubrot. Es geht weiter voran. Angesichts meines Kalorienüberschusses der letzten Tage, wäre das auch ein Meilenstein für mich. Bei einer Mahlzeit mit vier Bissen auskommen.

Die Zähne putzt sich meine Frau heute selbst, ich halte nur noch die Nierenschale zum Ausspucken. Die Krankenschwester meint, morgen könne meine Frau sicherlich auf Normalstation verlegt werden.


Fortsetzung (Tag 4, 3/3)


Alle Folgen des Krankenhaus-Blogs:

Beobachtungen aus dem Krankenhaus (Tag 4): Every beat of her heart (1/3)

Dass ich dieses Jahr so gut wie gar nichts gebloggt habe, ist ja kein Zustand. Kein Urlaubsblog, kein Gespräch mit dem Tod, kein Garnichts. Daher kurz vor Schluss ein retrospektiver Krankenhaus-Blog. Quasi wie Urlaub, nur ohne Urlaub.


Tag 1: Ein kaputtes Herz muss man reparieren
Tag 2: Don’t go breaking her heart
Tag 3: Her heart will go on


Donnerstag, 7.00 Uhr. Ich schreibe eine Gute-Morgen-Nachricht an die Kinder. Sie bleibt wie immer unbeantwortet. Es geht ihnen also gut. Ich sitze auf dem Bett meiner Hotel-Box und suche am Laptop nach einer neuen Unterkunft. Ich hatte nur bis heute das Zimmer gebucht, weil ich vollkommen naiv dachte, ich könnte zwei Tage nach der OP wieder zurückzufahren. (Wahrscheinlich habe ich gar nicht nachgedacht.) Meine Frau hat die Operation zwar sehr gut überstanden und macht täglich Fortschritte, aber ich habe das Gefühl, es wäre besser, zu bleiben, bis sie auf die normale Station verlegt wird. Laut den Ärzten morgen oder Samstag.

Als ich den Kindern gestern Abend mitgeteilt habe, dass ich noch ein paar Tage länger weg bin, hielt sich ihr Kummer in Grenzen. Sie meinten, ich könne auch ruhig bis Sonntag bleiben, das würde ihnen wirklich gar nichts ausmachen. Wirklich überhaupt nichts. Ich müsse mir keine Sorgen um sie machen. Aha!

Reaktion der Kinder, als sie erfahren, dass ihr Vater zwei Tage länger wegbleibt (Symbolbild)
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Beobachtungen aus dem Krankenhaus (Tag 3): Her heart will go on (3/3)

Tag 3 (1/3)
Tag 3 (2/3)


Als ich aus der Mittagspause zurückkehre, ist meine Frau wach. Ich frage, wie es ihr geht. „Gut“, erwidert sie. Das ist wahrscheinlich eine recht euphemistische Aussage, aber ihre Stimme klingt auf jeden Fall schon etwas besser. Nicht mehr wie eine Hardcore-Rot-Händle-Raucherin, sondern wie eine Mischung aus Bonnie Tyler und Joe Cocker.

Sie erzählt mir, dass vorhin ihr Blasenkatheter gezogen wurde. Ein weiterer kleiner Schritt auf dem Weg der Genesung. Nicht in einen Beutel, der am Bett hängt, pinkeln zu müssen, gibt einem ein wenig Würde zurück. Allerdings wird meiner Frau jetzt immer, wenn sie auf Toilette muss, eine Bettpfanne untergeschoben. Da verabschiedet sich die Würde dann wieder ganz schnell.

Eine Schwester bringt meiner Frau eine Wasserflasche mit Strohhalm. Sie solle viel trinken. Meine Aufgabe ist es, ihr die Flasche zu halten und den Strohhalm an den Mund zu führen. Mein Job-Profil, das bisher aus Am-Bett-Sitzen und Händchenhalten bestand, wurde um den Punkt Flasche-Anreichen ergänzt. Ich wurde quasi befördert.

Vom Unterhalten und Trinken erschöpft, schläft meine Frau wieder ein. Wie sie so da liegt, hat sie etwas leicht schneewitchenhaftes. Mit ihrer blassen Haut und den schwarzen Haaren. Also, nicht ganz ebenholzschwarz, aber ziemlich dunkel. Zumindest an den Stellen, wo es nicht grau ist. Aber darauf möchte ich hier nicht weiter eingehen. Das würde von mangelndem Taktgefühl zeugen, wo sie doch so eine schwere OP hinter sich hat. Da ist es nicht nötig, sich in irrelevanten Detailinformationen zu ergehen. Zum Beispiel, dass sie sich regelmäßig die Haare färbt. Beziehungsweise renatured, weil das dann viel „natürlicher“ aussieht. *zwinker, zwinker*

Aber genug davon. Haar-Renaturing hin oder her, meine Frau liegt wie Schneewittchen im Bett. Ich vervollständige die märchenhafte Szenerie. Allerdings nicht als edler Prinz, sondern so bucklig wie ich auf meinem Hocker sitze, als einer der sieben Zwerge.


Als meine Frau aufwacht, klagt sie über Übelkeit. Das kommt wohl von den ganzen Medikamenten, die hektoliterweise in sie reingepumpt werden. In dem Moment erscheint die Stationsassistentin und drückt mir einen Stapel Papiere in die Hand. Dies sei das Essensangebot für die nächste Woche und ich könnte das ja mal gemeinsam mit meiner Frau ausfüllen. Dann bekäme sie in den nächsten Tagen etwas, was sie gerne isst. Meine Frau übergibt sich erstmal. Ich deute das als dezenten Hinweis, dass sie gerade kein Interesse an der Essensauswahl für die nächsten Tage hat und ich mich darum kümmern soll.

Essen auswählen hört sich eigentlich gut an, ist bei dem Krankenhaus-Angebot allerdings eine ziemliche Herausforderung. Alleine die Brotauswahl für das Frühstück ist schier grenzenlos. Weizenbrötchen, Mehrkornbrötchen, Sonnenblumenkernbrötchen, Schwarzbrot, Vollkornbrot, Weizenbrot, Toastbrot, Knäckebrot. Dazu muss zwischen diversen Wurst- und Käseaufschnitten sowie unterschiedlichen Marmeladensorten und zwischen Butter, Margarine oder Frischkäse als Aufstrich gewählt werden.

Ich war mal auf einer Dienstreise in einem Moskauer Luxushotel, in dem sich das exklusive Frühstücksbuffet über eine Länge von 50 Metern erstreckte. Das Angebot dort war nur geringfügig umfangreicher als in diesem Krankenhausbogen.

Die Auswahl des Mittag- und des Abendessen gestaltet sich ebenfalls schwierig. Wenn du mit akuter post-operativer Übelkeit zu kämpfen hast, willst du nicht darüber nachdenken, ob du in drei Tagen lieber Erbseneintopf, Szegediner Gulasch oder Fenchel-Kohlrabi-Auflauf essen möchtest. (Eine Entscheidung, die mich sogar mit vollkommen gesundem Magen überfordern würde.) Ich kreuze einfach mit geschlossenen Augen irgendein Gericht an und wiederhole das für die nächsten Tage. Ich muss es ja nicht essen.

Kurz vor Ende der Besuchszeit mime ich den ex-Zivi und helfe meiner Frau beim Zähneputzen. Um präzise zu sein, putze ich die Zähne, ihre Aufgabe besteht darin, die selbigen zu fletschen. Ich verstehe das als kleine Vorleistung meinerseits. Wenn ich in 30 oder 40 Jahren – falls es extrem gut läuft in 50 – tattrig und bettlägerig bin, wird sie sicherlich das Gleiche für mich tun.


Auf dem Weg ins Hotel rufe ich die Kinder an. Der Sohn ist dran. Er hat seine Lateinarbeit zurück. Sie wissen schon, die, bei der er das beste Gefühl seit zwei Jahren hatte. Es ist eine 3. Er ist trotzdem sehr zufrieden. Schließlich sei es keine 4 oder 5, sondern ein Befriedigend. Das klänge ja schon fast wie zufrieden. Der Sohn ist definitiv der optimistische Glas-halb-voll-Typ. Ich verzichte auf die Frage, was mit diesem besten Gefühl seit zwei Jahren gewesen sei. Wenn du vor ein paar Stunden deiner Frau eine Nierenschale gehalten hast, in die sie sich schwallartig übergeben hat, ist es dir ziemlich wumpe, ob dein Sohn ein paar lateinische Sätze richtig oder falsch übersetzt hat.

Anschließend berichte ich noch bei der Schwiegermutter, meinen Eltern und den Geschwistern von den heutigen Fortschritten. Das mit dem schwallartigen Übergeben behalte ich für mich. Sie wissen ja: Als Propagandaminister muss ich für gute Stimmung sorgen.


In meiner Hotel-Box lege ich mich ins Bett und schlafe ziemlich schnell ein. Im Traum bin ich wieder Patient auf der Intensiv-Station. Vor dem Bett steht eine Reihe von Ärzten, die alle unterschiedlich farbige Stationskleidung tragen. Aus tapetenrollenlangen Listen fragen sie mich ab, was ich gerne essen möchte. Im Hintergrund piepsen die Infusionspumpen eine Techno-Version von „Es ist noch Suppe da!“ Ich sitze derweil auf einer Bettpfanne.

Mit diesem verstörenden Bild lasse ich Sie alleine.

Gute Nacht!


Alle Teile des Krankenhaus-Blogs finden Sie hier:

Beobachtungen aus dem Krankenhaus (Tag 3): Her heart will go on (2/3)

Tag 3 (1/3)


Meine Frau sieht immer noch sehr erschöpft aus. Wenigstens steckt der Beatmungsschlauch nicht mehr in ihrem Mund. Ein erster Fortschritt. Allerdings sind ihre Stimmbänder von dem Schlauch ein wenig in Mitleidenschaft gezogen. Beim Reden krächzt sie, als hätte sie schon im Grundschul-Alter angefangen, täglich eine Schachtel Rot-Händle-ohne-Filter wegzuquarzen.

In ihrem Zimmer gibt es drei weitere Patienten. Meine Frau mit eingerechnet liegt das Durchschnittsalter bei ungefähr elf Jahren. Die anderen Betten sind allesamt mit Babys und Säuglingen belegt. Wegen des angeborenen Herzfehlers liegt meine Frau auch hier auf Intensiv auf der Kinderstation.

Was die kleinen Würmchen genau haben, weiß ich nicht. Ich möchte es auch gar nicht wissen. Es wird sich um irgendwelche schaurigen Herz- und Hirn-Geschichten handeln. Darauf ist die Intensivstation spezialisiert.

Auf jeden Fall haben diese Babys mit ihren wenigen Monaten schon mehr durchmachen müssen, als ich mit meinen 44 Jahren. Ich war noch nie im Krankenhaus. Zumindest nicht als Patient, sondern immer nur als Besucher und nach der Schule als Zivi. Ich erfreue mich einer sehr robusten Gesundheit und muss deswegen so gut wie nie zum Arzt. Mein Zahnarzt, den ich seit acht Jahren nicht mehr aufgesucht habe, ist da möglicherweise anderer Meinung.


Meine Frau schläft wieder und erholt sich von den OP-Strapazen. Ich übe mich in der Rolle des guten Partners, der brav Händchen hält und einfach da ist. Ich hoffe, dass es ihrer Genesung hilft. Oder zumindest nicht schadet.

Nur so rumzusitzen hat etwas sehr Entschleunigendes. Einfach mal nichts tun und ungestört den eigenen Gedanken nachhängen. Dazu kommst du im Alltag ja viel zu selten. Allerdings stelle ich recht schnell fest, dass ich gar nicht so schrecklich viele nachhängenswerte Gedanken habe. Stattdessen starre ich stumpf vor mich hin.

Derweil leuchten, piepsen und surren die Infusionspumpen neben dem Bett unablässig vor sich hin. Die Infusion muss in fünf Minuten gewechselt werden? Das Lämpchen an dem Gerät leuchtet gelb und es ertönen in 30-Sekunden-Abständen drei langgezogene Piepstöne. Die Spritze ist leer? Die Lampe springt auf Rot um und die Piepstöne werden kürzer und schneller, wie bei einem Wecker. Sie hören erst auf, wenn die Alarmtaste an dem Gerät gedrückt wird. Alles ist in Ordnung und nichts muss gemacht werden? Die Lampe schimmert grün und die Pumpe schnurrt mehr oder weniger leise vor sich hin.

Im Prinzip ist so ein Infusionsständer eine Mini-Dorf-Disco mit einer sehr primitiven Lichtorgel, in der miesester Techno gespielt wird.


Um halb eins werden alle Besucher gebeten, für die Mittagsruhe die Intensivstation zu verlassen. Mir kommt das nicht ungelegen. Das viele Rumsitzen und Händchenhalten haben mich hungrig gemacht. Vielleicht ist mir aber auch einfach ein wenig langweilig. Langeweile wird ja häufig mit Hunger verwechselt. Von mir zumindest.

Ich hole mir im Kiosk ein Brötchen und eine Apfelsaftschorle. Zum Essen setze ich mich in den Lichthof und beobachte die vorbeieilenden Menschen. Es ist gar nicht so leicht zu erkennen, wer zu den Ärzten und wer zum Pflegepersonal gehört. Während meines Zivildiensts war das noch ganz eindeutig. Da trugen die Ärzte alle weiße Kittel. So wie in der Schwarzwaldklinik. (Die Älteren erinnern sich.) Ein paar kitteltragende Ärzte gibt es hier auch, die meisten haben aber die gleiche Stationskleidung wie die Krankenschwestern und – pfleger an. Wahrscheinlich soll das Hierarchien abbauen und den Pflegeberuf aufwerten. Oder den Arztberuf abwerten, um weniger Gehalt zu bezahlen.

Das Reinigungspersonal trägt identische Stationshemden und -hosen. Sie werden aber trotzdem kaum mit den Ärzten verwechselt. Es ist eher unwahrscheinlich, dass der Oberarzt vor der Visite noch schnell im Patientenzimmer den Mülleimer leert und kurz durchfeudelt.

Bei der Stationskleidung gibt es wiederum unterschiedliche Farben. Meistens ist sie blau. Bei den Anästhesisten ist sie dagegen in einem ästhetisch fragwürdigem Mintgrün gehalten. Da weißt du als Patient nicht, ob dir vom Narkosemittel oder von der Farbe schlecht ist.

Die Radiologen sind wiederum ganz in pink gekleidet. Das ist besonders hübsch, weil die männlichen Kollegen dort fast alle glatzköpfige, vollbärtige, vierschrötige Hünen sind – wahrscheinlich sind sie aufgrund der täglichen Strahlendosis mutiert –, die so finster schauen, dass Hells-Angels-Rocker dagegen wie putzige Glücksbärchen aussehen. Vermutlich sind sie wegen der pinken Bekleidung so schlecht gelaunt.

Bei den Ärzten, die keine Stationskleidung tragen, wird die Kleidung immer legerer, je höher sie in der Hierarchie stehen. Der Leiter der Kinderkardiologie hat beispielsweise immer weiße Polo-Hemden an, als wäre er gerade auf dem Sprung, um auf dem Tennisplatz noch ein paar Bälle zu schlagen. Wie wohl der Dekan der medizinischen Fakultät rumläuft? Wahrscheinlich in Hawaii-Hemden, Shorts und Flip-Flops.


Fortsetzung (Tag 3, 3/3)


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