Post aus Portugal #02 | Wer zu früh kommt, den bestraft trotzdem manchmal das Leben. Aber nur fast. (26.04.)

8.40 Uhr. Der AVE 9370 nach Madrid steht abfahrbereit am Gleis 4 des TGV Bahnhofs Avignon. Der Bahnsteig ist menschenleer, die Türen sind bereits geschlossen. In der Ferne schaut eine Schaffnerin prüfend nach links und rechts. Gerade als sie dem Zugführer Bescheid geben will, dass es losgehen kann, erscheinen plötzlich eine Frau und ein Mann auf der Bildfläche.

Bepackt mit großen und kleinen Rucksäcken, Taschen und Beuteln hetzen die beiden schwitzend und kurzatmig, so schnell es das Gepäck erlaubt, zum Ende des Zugs, betätigen den Türöffner und springen in den Waggon, im Hintergrund wedelt die Schaffnerin hektisch mit den Armen. Kaum hat sich die Tür wieder verschlossen, setzt sich der TGV in Bewegung.

Was wie der Anfang einer mittelmäßig lustigen deutschen Komödie anmutet („Mit der Bahn in den Wahn“), ist leider unser Leben, und die zwei Hauptdarsteller*innen sind meine Frau und ich.

Blick aus einem Zugfenster auf einen großen Fluss in der Nähe von Avignon

Normalerweise sind wir bei Reisen nie zu spät und bei Urlaubsreisen schon gar nicht. Ganz im Gegenteil, da sind wir immer überpünktlich. Alles unter einer halben Stunde Puffer vor Abfahrt oder Abflug gilt bei uns als grob fahrlässig, als leichtsinnig, als waghalsig, als wahnwitzig, als verantwortungslos. Wie ein Tanz auf dem Drahtseil über einer Schlucht, in der brennende Lava schwimmt, selbstredend mit verbundenen Augen.

Deswegen waren meine Frau und ich heute sogar fast eine Stunde vor Abfahrt unseres Zuges am TGV Bahnhof in Avignon. Obwohl der sehr übersichtlich ist. Er verfügt über zwei Bahnsteige, die mit den Ziffern 3 und 4 versehen sind; was mit 1 und 2 passiert ist, ist ein Mysterium.

Zu den Bahnsteigen gibt es jeweils einen Nord- und einen Südzugang, auf den Anzeigetafeln ist bei den Zügen vermerkt, welchen du benutzen musst. Das ist alles nicht hyperkomplex und du musst kein Raketenwissenschaftler oder professioneller Geocacher sein, um dich am Bahnhof zurechtzufinden.

Trotzdem waren wir mehr als rechtzeitig da. Um gewappnet zu sein. Falls etwas Unvorhergesehenes, Ungeplantes, Ungewolltes passiert. Damit keine Hektik, kein Stress und keine Panik aufkommt. Das ließe sich nur schwerlich mit unserem Ideal des entschleunigten Reisens vereinbaren.

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Als wir am Bahnhof ankamen, war für unsere Verbindung der Aufgang noch nicht angegeben. Das ist aber nicht unüblich, dass das erst kurz vor Abfahrt angezeigt wird.

Wir überbrückten die Wartezeit mit einem Abstecher zu Starbucks. Für zwei Cappuccini – Koffeinlevel aufrechterhalten: wichtig (Prio 1) –, einen Orangensaft – wegen Vitaminen und gesund und so, was ebenfalls wichtig ist (Prio 2) – und zwei Flaschen Wasser für die Fahrt – Hydrierung, auch wichtig, wenngleich nicht ganz so wie die Koffeinzufuhr und weniger lecker als O-Saft (Prio 3).

Die Preise für die Getränke ließen 1.500-prozentige Strafzölle vermuten. Aber ich wollte mich darüber nicht beschweren. Schließlich sind wir privilegiert genug, um uns das zu leisten. Da solltest du nicht wie so ein FDP wählender Zahnarzt lamentieren, dass die Felgen für den Porsche jedes Jahr teurer werden. Außerdem mochte ich unsere Drei-Monats-Auszeit nicht als kleinlicher Pfennigfuchser starten.

Vor allem nicht, weil die Verkäuferin versehentlich einen der Cappuccini nicht berechnete, was quasi einem 25-Prozent-Rabatt gleichkam. Kurz hatte ich ein schlechtes Gewissen, weil ich unsere Drei-Monats-Auszeit nun nicht als Geizkragen, sondern wie ein schmarotzender Trickbetrüger begann.

Aber nicht besonders lange, denn ich schätzte, dass Starbucks dadurch nicht in die Zahlungsunfähigkeit abrutscht, sondern den Verlust verschmerzen kann. Und als US-amerikanische, kapitalistische, auf Profitmaximierung getrimmte Coffeeshop-Kette mit Phantasiepreisen eigentlich auch verdient hat. Somit hatten wir uns kein Kaffeegetränk erschlichen, sondern das war ein revolutionärer Akt der Enteignung.

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30 Minuten vor Abfahrt war der Bahnsteig-Aufgang für unseren Zug immer noch nicht angegeben. Weil wir introvertierte Menschen sind, für die soziale Interaktionen eine Herausforderung darstellen, erkundigten wir uns erstmal nicht beim Bahnhofs-Personal, sondern beobachteten stattdessen die Lage.

Nach ein paar Minuten schlenderte ich durch die Bahnhofshalle und kontrollierte sämtliche Displays. Ohne Erfolg. Nach meiner Rückkehr übernahm meine Frau die nächste Patrouille, ebenfalls ergebnislos. Der dritte Rundgang oblag wieder mir, brachte aber auch nicht die gewünschte Information.

Weil inzwischen weniger als zehn Minuten bis zur Abfahrt des Zuges verblieben, meinte meine Frau schließlich: „Vielleicht sollten wir mal irgendwo nachfragen.“

Sie verwendete zwar die erste Person Plural, aber nach fast 30 Jahren Zusammenleben war für mich der Delegativ aus ihrer Aussage deutlich herauszuhören. Was bedeutete, dass nicht sie diese Aufgabe übernehmen wollte, sondern dies in meinem Verantwortungsbereich verortete.

Folglich ging ich zu einem Bahn-Bediensteten an einem der Aufgänge und hoffte, dass er in der Lage und Willens ist, mir auf Englisch meine Frage zu beantworten. Er war beides und selbstverständlich mussten wir zu dem Aufgang am anderen Ende des Bahnhofs gehen, um dann oben angekommen, über den ganzen Bahnsteig zu eilen und im letzten Moment den abfahrbereiten TGV zu boarden.

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Nachdem wir nach unserer Tempo-Einheit wieder zu Atem gekommen sind, müssen wir mit unserem voluminösen und sperrigen Gepäck drei Waggons durchqueren, was für unsere Popularitätswerte nicht gerade förderlich ist.

Vor unserem Teil nimmt uns die Schaffnerin in Empfang und kontrolliert mit tadelnder Miene unsere Tickets. Sehr langsam und sehr deutlich erklärt sie uns, wir befänden uns in Wagen 6, unsere Sitze seien 9C und 9 D. So langsam und so deutlich als hätte sie es mit Volltrotteln zu tun, die ihre eigene Reservierung nicht lesen können.

Vor dem Hintergrund, dass wir eine Stunde früher am Bahnhof waren und den Zug trotzdem fast verpasst haben, kann ich es ihr nicht einmal übelnehmen.

Sitzbezug mit rot-goldenen Karos aus der Nahaufnahme
Muster. Ohne Wert.

Versuche die Fahrt produktiv zu nutzen, um am Laptop an einer Präsentation zu arbeiten. Was sich als herausfordernder herausstellt, als es sollte.

Der Mauszeiger schwirrt unkontrolliert über den Monitor, ich öffne regelmäßig ungewollt irgendwelche Menüfenster, weil ich auf dem Mousepad zu weit rechts klicke – und meine Lernkurve diesbezüglich bemerkenswert flach ist –, und ich richte Objekte so dilettantisch auf den Folien aus, als würde ich für gewöhnlich nicht am Computer, sondern mit dem Faustkeil arbeiten.

Nach 30 Minuten breche ich das Experiment „Präsentation im Zug bearbeiten“ ab und schaue lieber aus dem Fenster. Hätte ich mir dabei Notizen gemacht, könnte ich Ihnen jetzt die vorbeiflitzende Gegend beschreiben. Habe ich aber nicht, so dass Sie sich die Gegend von Avignon nach Madrid bei Google Earth anschauen müssen.

Kurz vor Madrid ertönt aus den Lautsprechern eine für uns unverständliche Durchsage. Meine Frau dreht sich zu mir um und sagt: „Das kommt mir spanisch vor.“ Ein sehr respektables Dad-Joke-Niveau, dass ich ihr ehrlicherweise nicht zugetraut hätte. (Mein alter Kollege G. wäre sehr stolz auf sie.)

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Ankunft am Fernbahnhof Madrid Atoja, der mit seinen vielen Laufbändern und riesigen Werbetafeln für Dienstleistungen, von denen man vorher nicht wusste, dass es sie gibt, mehr etwas von einem Flughafen als von einem Bahnhof hat.

Von dort fahren wir mit der U-Bahn nach Sol. Die Waggons warten mit gummiertem Noppenboden auf, was ebenfalls mehr an Flughafen als an eine U-Bahn erinnert.

Die Farbgestaltung des Interieurs ist in dunkelblau-altrosa gehalten. Vielleicht war das in den 80ern in Spanien modern, als die Züge wahrscheinlich eingeführt wurden. Die fehlenden Digitalanzeigen stützen diese Vermutung.

Aber das hat ja auch etwas nostalgisch-altmodisches. Außerdem kann man so mal wieder die Gehirnareale ansprechen, die dafür zuständig sind, U-Bahn-Stationen auf Streckenplänen zu finden. Und wenn dir das gelingt, kannst du dich fühlen, als wärest du ohne Kompass, Landkarte und GPS-Gerät im Wald ausgesetzt worden und hättest es trotzdem nach Hause geschafft. (Ein sehr unrealistisches Szenario für mich, da ich auch mit Kompass, Landkarte und GPS-Gerät aus dem Wald finden würde.)

Alte Stadtkarte von Madrid aus dem 17. Jahrhundert

Auf dem Weg von der U-Bahnstation zu unserem Apartment. Es ist sehr warm, das Gepäck sehr schwer und die Fußgängerzone sehr voll. Die Menschenmassen überfordern mich. Da Berlin mehr Einwohner als Madrid hat, sollte ich das eigentlich kennen.

Zuhause spielt sich mein täglicher Bewegungsradius aber hauptsächlich in Moabit ab und besteht in erster Linie aus meiner dm-Penny-Rewe-Einkaufsroute, manchmal mit einem Abstecher zum DHL-Kiosk. Dort gibt es keine Urlauber und ich kenne viele Gesichter vom Sehen. Hier bin ich selbst Tourist – einer von tausenden – und kenne niemanden.

Das ist wohl dieses über den Tellerrand schauen beim Reisen, die Perspektive wechseln, sich durch Neues inspirieren lassen. Ich wäre trotzdem froh, wenn hinter dem Tellerrand ein paar weniger Menschen wären.

Die meisten von ihnen sind sehr stilsicher gekleidet. Das fällt mir trotz der Reizüberflutung auf. Als wären die Menschen auf dem Weg zu einem Foto-Shooting. Entweder sind das alles französische Urlauber oder die Spanier spielen modemäßig auch in der Champions- League.

Meine ausgebeulte Jogginghose meint, ich solle mir darüber keinen Kopf machen. Das seien doch oberflächliche Äußerlichkeiten, viel wichtiger wären die inneren Werte. Also ob innen etwas flauschig ist und sich gut auf der Haut anfühlt.

Mein verwaschenes Poloshirt nickt, dabei ist es durch das kalkhaltige Berliner Wasser so hart und kratzig geworden, dass das Trageerlebnis zu wünschen übrig lässt. (Ich hoffe, das Poloshirt liest das nicht, denn es ist – im Gegensatz zu seinem Stoff – sehr feinfühlig.)

Eine mir entgegenkommende Frau stillt im Gehen ihr Baby. Muttermilch to go. Dem Baby scheint das zu gefallen, es saugt gierig an der mütterlichen Brust.

Behaupte ich einfach mal, denn so genau schaue ich nicht hin. Weil das keinen guten Eindruck macht, fremden Frauen, die ihr Baby stillen, auf den Busen zu glotzen. Da giltst du schnell als doppelter Perversling: Als Spanner mit Still-Fetisch.

Eingangsbereich eines Wohnhauses mit drei Stufen sowie dem Boden aus grünem Marmor und holzvertäfelten Wänden

Zum Abendessen gehen wir ins Artemisa. Ein vegetarisches, glutenfreies Restaurant mit libanesisch angehauchter Küche. Der Sohn, dem wir vorher davon erzählten, meinte, dort gingen bestimmt viele Hipster hin. Aus seinem Unterton hörte ich heraus, dass wir da stylish und altersmäßig fehl am Platz sein könnten.

Das Artemisa entpuppt sich aber als vollkommen gewöhnliches Speiselokal, dessen Einrichtung keinerlei szenigen Flair verströmt. Die anderen Gäste bestehen größtenteils aus Familien oder älteren Paaren, so dass wir nicht unangenehm auffallen.

Lediglich an einem Tisch sitzt eine Gruppe junger Leute, die aber nicht besonders hip aussehen. Wobei ich nicht der richtige bin, um dies zu beurteilen, denn die Kriterien, was heutzutage als hip gilt, sind mir nicht geläufig. Sogar so ungeläufig, dass alles, was ich als hip erachte, wahrscheinlich das Gegenteil von hip ist. Sozusagen pih.

Das Essen ist gut, aber nicht überragend. Außer dem Käsekuchen, den ich zum Nachtisch habe. Der ist vanillig, cremig und zergeht geradezu im Mund.

  • Gemischte Platte mit Humus, Guacamole, Kartoffeltaschen, Gemüsekroketten und Salat
  • Tiramisu garniert mit Minze, zwei Scheiben Erdbeeren, Schokoladensauce und Puderzucker
  • Käsekuchen garniert mit Minzblatt, einer halben Erdbeere, Erdbeerconfit, Schokoladensauce und Kakaopulver

Ab 21 Uhr läuft das spanische Pokalfinale. Real Madrid gegen FC Barcelona.

Die Lampe in unserem Schlafzimmer ist so hell, dass sie im Stadion in Sevilla, wo das Finale stattfindet, eingesetzt werden könnte: als Flutlicht. Als ich sie einschalte, befürchte ich kurz zu erblinden. Wahrscheinlich ist sie von der Internationalen Raumstation aus zu sehen.

In unserem AirBnB hören wir aus den Kneipen in der Nachbarschaft kollektives Stöhnen bei vergebenen Chancen sowie Jubel nach erzielten Toren. Als ich in der 80. Minute mein Handy weglege, führt Madrid 2:1. Als ich am nächsten Morgen aufwache, hat Barcelona das Spiel noch mit 3:2 nach Verlängerung gedreht.

Somit sind wird das Barcelona der Reisenden. Die Katalanen haben auf den letzten Drücker den Pokal gewonnen und wir unseren Zug erreicht.


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