Zum Sonntagabend gibt es meine semi-originellen Gedanken und semi-spannenden Erlebnisse aus der abgelaufenen Woche. Manchmal banal, häufig trivial, meistens egal.
28. August 2023, Berlin
Die Tochter erzählt, eben auf dem Heimweg seien zwei Männer im Auto an ihr vorbeigefahren, hätten das Fenster runtergekurbelt und ihr hinterhergepfiffen. Für sie – wie die allermeisten Frauen – ist das keine Seltenheit. Im Gegenteil. Als sie während der Corona- Lockdowns täglich mit ihrer besten Freundin spazieren ging, gab es keinen einzigen Tag, an dem ihnen nicht hinterhergepfiffen oder -gerufen wurde.
Das erste Mal passierte der Tochter so etwas mit 14. Da sprach sie ein ungefähr 30-jähriger Typ auf der Straße an und wollte ihre Nummer haben. Sie holte ihr Handy raus und sagte, wenn er sie nicht in Ruhe ließ, würde sie die Polizei rufen. Glücklicherweise funktionierte das und er ging weiter.
Heute nahm der Catcalling-Vorfall eine sehr befriedigende Wendung. Die beiden Männer waren durch ihre Hinterherpfeiferei so abgelenkt, dass sie das vor ihnen abbremsende Auto nicht bemerkten und ihm hinten drauf fuhren. (Nur mit Blech-, ohne Personenschaden.) Geschieht ihnen recht. Oder wie die Tochter es nennt: „Instant Karma.“ Dabei lacht sie dreckig, was ich durchaus für angemessen halte.
29. August 2023, Berlin
In der Kassenschlange bei Penny. Vor mir steht der Kellner aus dem indischen Restaurant bei uns um die Ecke. Glaube ich. Ganz sicher bin ich mir allerdings nicht. Deswegen traue ich mich nicht, ihn zu grüßen. Falls er es nicht ist, könnte er denken, dass ich ignorant bin und für mich alle Inder gleich aussehen. Das wäre mir unangenehm.
Er dreht sich zufällig um, schaut mich kurz an und fragt dann, ich würde doch ab und an bei ihnen essen. (Für ihn sehen anscheinend nicht alle Deutsche gleich aus.) Ich nicke und fühle mich peinlich berührt, denn es ist schon länger her, dass wir dort waren. Dafür sind wir ein paarmal in ein anderes indisches Lokal gegangen.
Der indische Kellner erzählt, dass das Restaurant verkauft wurde. Vermute ich zumindest. Er spricht zwar hervorragend deutsch – vor allem verglichen mit meinem Indisch –, hat aber einen recht starken Akzent und ist nicht ganz einfach zu verstehen. Er würde noch zwei Monate dort arbeiten und dann schauen, ob er bleibt oder sich etwas anderes sucht, fährt er fort. Kurz überlege ich, ob ich ihm eine Bewerbung bei dem anderen indischen Lokal vorschlagen sollte. Stattdessen wünsche ich ihm alles Gute und verspreche, dass wir bald mal wieder kommen.
30. August 2023, Berlin
Nächste Woche startet für die Tochter das zweite Studienjahr. Daher fliegt sie heute zurück nach Irland. Nachdem sie fast den ganzen Sommer mit uns verbracht hat, werden wir sie sehr vermissen.
Was wir nicht vermissen werden, ist das erhöhte Haaraufkommen in unserer Wohnung. Die Tochter hat langes Haar. Und sehr volles. Das ist recht erstaunlich, denn sie verliert sehr viel davon und ihre Haare liegen überall in unserer Wohnung rum. Als würde Chewbacca bei uns wohnen und sein Winterfell abwerfen.
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Auf dem Weg zum Supermarkt sehe ich einen älteren Herrn mit Gehstock. Der Stock ist aus dunklem, gemasertem Holz und glänzend lackiert. Als Knauf hat er eine goldene Kugel. Als Kind hätte ich auch gerne so einen Stock gehabt. Um damit zu fechten. Um ehrlich zu sein, hätte ich auch als Erwachsener gerne so einen Stock. Dann könnte ich wild damit rumfuchteln und wenn mir Passant*innen entgegenkommen, könnte ich eine Fechterposition einnehmen und „En garde!“ rufen. Ich fürchte allerdings, dass man mir in der Geschlossenen den Stock wegnehmen würde.
An der nächsten Straßenecke überholt mich eine Frau. Sie ist Mitte 50 und trägt eine große Einkaufstasche über der Schulter, aus der ein stattliches Plastiknilpferd schaut. Als Kind hätte ich auch gerne so ein Plastiknilpferd gehabt. Und um wieder ehrlich zu sein, als Erwachsener ebenfalls. (Als “Security Pet” in der Geschlossenen.)
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Wie jeden Mittwoch landet der „10 interesting things“-Newsletter von deepculture in meinem Postfach. Heute gibt es unter anderem einen Hinweis auf eine Website, die Routinen erfolgreicher Menschen vorstellt. Eigentlich interessiere ich mich nicht für die Routinen irgendwelcher Menschen, klicke aber trotzdem auf den Link. Dann muss ich wenigstens nicht das nervige Briefing-Dokument schreiben und auch nicht den Geschirrspüler ausräumen. (Falls es eine Website mit den Prokrastinationstechniken mittelmäßig erfolgreicher Menschen gibt, stelle ich mich gerne für ein Interview zur Verfügung.)
Ich lese den Beitrag zu Andrew Wilkinson an. Nicht weil ich ihn kenne, sondern weil es der erste auf der Seite ist. Andrew Wilkinson ist Gründer einer Design-Agentur und hat inzwischen mehrere Unternehmen, die er gemeinsam mit einem Partner führt. Laut dem Teaser-Text ermöglichen ihm seine Routinen, jung, gesund und glücklich zu bleiben und sein Geschäftsimperium erfolgreich zu führen.
Der Alltag von Andrew Wilkinson ist voll mit Selbstoptimierungsmaßnahmen. Vom Schlafen über Kosmetik und Sport bis zur Ernährung. Die Elektrolyte im morgendlichen Wasser fördern die Leistungsfähigkeit, das Shampoo verbessert die Haarqualität, die optimalen Nährwertprofile jeder einzelnen Mahlzeit plus diverse Nahrungsergänzungsmittel unterstützen ihn beim Muskelaufbau. Alles muss seinen Sinn und Zweck haben. Schlimm!
Ganz sympathisch ist dagegen, dass er schreibt, er könne maximal fünf bis sechs Stunden am Tag richtig produktiv sein und arbeite nach 17 Uhr nach Möglichkeit nicht. Ein Privileg, das sich natürlich nicht jede*r leisten kann und für das du wahrscheinlich viele Jahre viel mehr als fünf bis sechs Stunden am Tag arbeiten musstest.
Seine Arbeitsalltag gestaltet Wilkinson mit Hilfe von Anti- Goals, eine Technik, bei der du Probleme löst, indem du sie vermeidest. Dazu überlegst du dir zunächst, wie etwas unter keinen Umständen sein soll, und anschließend, was du tun musst, damit dieser Fall nicht eintritt. Der Geschäftsmann Charlie Munger hat es zugespitzt folgendermaßen ausgedrückt: „Sag mir, wo ich sterben werde, damit ich niemals dorthin gehe.“
Der schlimmstmöglich vorstellbare Arbeitstag besteht für Wilkinson aus zu vielen Meetings, einem vollgepackten Kalender, Zusammenarbeit mit Menschen, die er nicht mag oder denen er nicht vertraut, Dienstreisen, Müdigkeit und so weiter. Um das alles zu vermeiden, macht er beispielsweise keine Meetings, wenn eine E-Mail oder ein Telefonat reicht, verplant in seinem Kalender maximal zwei Stunden am Tag und zur Zusammenarbeit mit anderen gibt es den schönen Satz: „No business or obligations with people we don’t like—even just a slight bad vibe and it’s a hard no.“
Das sind selbstverständlich auch alles Privilegien, die du dir fast nur als Selbstständiger erlauben kannst. Oder als Chef.
Als Problemlösungsansatz finde ich die Einfachheit der Anti-Goals-Technik trotzdem interessant. Nicht nach Perfektion streben, sondern das Unerwünschte vermeiden. Oder wie es wieder Charlie Munger sinngemäß ausdrückt: Sich nicht dumm zu verhalten, ist erfolgsversprechender als zu versuchen, sehr schlau zu sein.
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Christian Hanne, Jahrgang 1975, hat als Kind zu viel Ephraim Kishon gelesen und zu viel “Nackte Kanone” geschaut. Mit seiner Frau lebt er in Berlin-Moabit, die Kinder stellen ihre Füße nur noch virtuell unter den elterlichen Tisch. Kulinarisch pflegt er eine obsessive Leidenschaft für Käsekuchen. Sogar mit Rosinen. Ansonsten ist er mental einigermaßen stabil.
Sein neues Buch “Wenn ich groß bin, werde ich Gott” ist im November erschienen. Ebenfalls mehr als zu empfehlen sind “Hilfe, ich werde Papa! Überlebenstipps für werdende Väter”, “Ein Vater greift zur Flasche. Sagenhaftes aus der Elternzeit” sowie “Wenn’s ein Junge wird, nennen wir ihn Judith”*. (*Affiliate-Links)