Zum Sonntagabend gibt es meine semi-originellen Gedanken und semi-spannenden Erlebnisse aus der abgelaufenen Woche. Manchmal banal, häufig trivial, meistens egal.
25. September 2023, Berlin
A. und ich gehen morgens zusammen zum Bäcker, um Brötchen fürs Frühstück zu holen. Unsere Beine sind etwas schwer, aber wir sind guter Stimmung. Gestern war Berlin Marathon. Nach unserem Kölner Laufdebakel wollten wir ohne Zeitdruck, einfach mit einem guten Gefühl laufen und den Lauf genießen. Um hier keine künstliche Spannung aufzubauen: Es hat funktioniert.
Das Wetter war gut, die Temperaturen nicht zu warm und nicht zu kalt und die Stimmung an der Strecke war phantastisch. An jeder Stelle standen Zuschauer*innen und feuerten die Läufer*innen an, was sehr motivierend ist und gute Laune macht. Ich finde es bewundernswert, wie viele Menschen ihren halben Sonntag damit verbringen, nicht nur den Weltklasseathletinnen zuzujubeln, sondern auch irgendwelchen Wildfremden, die durch Berlin flitzen. Oder kriechen. Dazu kommen noch Hunderte oder Tausende von Freiwilligen, die beim Einlass, bei den Getränkestationen, als Streckenposten, an der Kleiderabgabe oder im Zielbereich helfen und den Marathon überhaupt erst möglich machen.
Den ersten Höhepunkt hatte ich ungefähr bei Kilometer 4. Dort entdeckte ich meinen alten Kollegen F. mit seiner Familie. Beziehungsweise er mich. Ich bin mir nicht ganz sicher, aber ich glaube, ich habe seine Kinder abgeklatscht. Also, an den Händen, nicht im Gesicht. (Diesbezüglich bin ich mir sehr sicher.)
Christian Hanne, Jahrgang 1975, hat als Kind zu viel Ephraim Kishon gelesen und zu viel “Nackte Kanone” geschaut. Inzwischen lebt er mit seiner Frau und seinen beiden Kindern in Berlin-Moabit. Kulinarisch pflegt er eine obsessive Leidenschaft für Käsekuchen. Sogar mit Rosinen. Ansonsten ist er mental einigermaßen stabil.
Auf Spiegel Online gibt es ein Interview mit Claus-Henning Schulke, genannt Bottle-Claus. Der 57-Jährige ist seit 30 Jahren ehrenamtlicher Helfer beim Berlin Marathon, seit ein paar Jahren ist er dafür zuständig, Eliud Kipchoge am Streckenrand mit Trinkflaschen zu versorgen. Also das, was meine Frau für A. und mich gemacht hat. (Sie möchte trotzdem nicht Bottle-Tina genannt werden.)
Bottle-Claus wartet an den 13 Verpflegungsstationen auf Kipchoge, reicht ihm seine Flaschen und fährt dann mit dem Rad zur nächsten Übergabe. Das ist herausfordernder, als es sich anhört, denn Kipchoge läuft mit einer Geschwindigkeit von ungefähr 21km/h. Da musst du dich ganz schön ranhalten, um vor ihm die Station zu erreichen.
Was für eine verantwortungsvolle Aufgabe und nervliche Belastung. Ich würde nicht mit Bottle-Claus tauschen wollen. Stell’ dir vor, du lässt eine Flasche fallen und bist der Trottel, der Kipchoge den Weltrekord versaut hat.
28. September 2023, Berlin
Heute ist sowohl Stelle-eine-dumme-Frage-Tag als auch Internationaler Tag des Rechts auf Wissen. Ich bin noch nicht entschieden, ob sich diese beiden Tage sehr gut ergänzen oder widersprechen.
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Vor Penny steht ein etwa vierjähriges Mädchen mit einem geknoteten Luftballon-Tier in der Hand. Als Kind hatte ich auch mal so einen Ballon-Hund.
Das war 1986 während unseres großen USA-Urlaubs. In San Francisco stand am Fisherman’s Wharf ein Clown, der aus Luftballons Tiere, Figuren und Gegenstände knotete. Ich war damals fast 11 und eigentlich zu alt für einen Ballon-Hund, wollte aber trotzdem einen und meine Eltern erfüllten mir diesen Wunsch. So nah war ich nie wieder einem Haustier.
Meine Enttäuschung war riesengroß, als der Ballon-Hund ein paar Tage später nach und nach die Luft verlor. Rückblickend spricht es nicht für mich, dass ich mit fast 11 dachte, der Ballon-Hund würde mich mein Leben lang begleiten.
29. September 2023, Berlin
Heute ist Tag des Deutschen Butterbrotes. Der wohl deutscheste aller Gedenktage, denn auf nichts sind die Deutschen stolzer als auf ihr Brot.
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Der Sohn schreibt heute seine erste Klausur in diesem Schuljahr. In Philosophie. Über René Descartes. Der ist mir hauptsächlich durch seinen größten Hit „Ich denke, also bin ich” bekannt. Laut dem Sohn ist Descartes wichtigste Regel seiner philosophischen Methode die Skepsis. Du sollst alles in Zweifel ziehen und nichts für wahr halten. Ich bin mir nicht sicher, ob die Schule Teenagern, die ohnehin immer alles besser wissen als ihre Eltern, solche Flausen in den Kopf setzen sollte.
In der Probeklausur mussten sie die Philosophien von Descartes und Francis Bacon miteinander vergleichen. Ich habe keine Ahnung, was Francis Bacons größter Hit ist. Vielleicht hatte er keinen. (Oder ich bin sehr ungebildet, was philosophische Denker*innen angeht.)
Aber wahrscheinlich ist es schwierig, dich im philosophischen Wettstreit um das beste Argument durchzusetzen und Bekanntheit zu erlangen, wenn du mit Nachnamen Schinken heißt. (Immanuel Kant hatte es im englischsprachigen Ausland sicherlich auch nicht leicht.)
30. September 2023, Berlin
In meiner Inbox befindet sich eine Mail von Vanieta Hristova. Ich kenne keine Vanieta Hristova. Der Betreff lautet „2023“, in der Mail steht lediglich „Können wir reden?“
Nun frage ich mich, ob Frau Hristova mit 2023 reden möchte oder mit mir über 2023.
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Amazon zeigt mir an, dass „Hilfe, ich werde Papa“ das am meisten verschenkte Buch in der Kategorie „Schwangerschaft & Mutterschaft“ ist. Das freut mich natürlich. (Und mein Bankkonto ebenso.) Ob die Freude bei den Beschenkten ebenso groß ist, vermag ich nicht zu beurteilen.
01. Oktober 2023, Berlin
Weil mich das Mädchen mit dem Luftballon-Tier gesehen an meinen Ballon-Hund aus den USA erinnert hat, habe ich anschließend mein Reisetagebuch hervorgeholt, das ich damals geführt habe. Das war eine Idee meiner Eltern, von der ich nicht wirklich überzeugt war, was ihnen aber egal war.
Heute bin ich ihnen dankbar, dass sie darauf bestanden, dass ich meine Erlebnisse in dem Urlaub aufschreibe. Gewissermaßen war das mein erster Urlaubs-Blog, nur ohne Laptop und Internet, sondern mit Kugelschreiber und Notizblock.
Bevor ich anfing, in dem Tagebuch zu lesen, dachte ich, es könnte lustig sein, meine damaligen Aufzeichnungen auf dem Blog zu veröffentlichen. Nach der Lektüre der ersten paar Seiten verwarf ich diesen Gedanken sehr schnell. Als zehnjähriger Urlaubschronist fehlte es mir doch ein wenig an Gespür für Dramaturgie, Spannungsaufbau und Pointen.
„Morgens war ich ganz aufgeregt. Und als ich im Flugzeug war wurde ich noch aufgeregter. Als wir in der Luft waren wurde ich wieder ruhig. Das Essen was wir bekommen haben schmeckte nicht so gut, aber das macht ja nichts. Der Film über Californien war ganz interessant nur der Ton war so schlecht und einmal wäre ich beinahe eingeschlafen. Der Film „Micky und Maude“ war lustig. Mitten im Film mußten wir uns anschnallen, weil wir in eine Turbulenz kamen. Da wurde mir ganz schön mulmig. Dann mußten wir noch vier Stunden fliegen.“
Fast jeder der folgenden Einträge beginnt mit der Uhrzeit, zu der ich aufwachte, und damit, dass ich mir nach dem Aufstehen Cornflakes gemacht habe. Auch sonst zeichnet sich das Reisetagebuch durch sehr viel Notizen zum Thema Essen aus (riesiges Eis, Hamburger), darüber hinaus durch die exzessive Verwendung der Worte dann, danach und anschließend – vorzugsweise am Satzanfang – und durch eine mitunter recht eigenwillige Auslegung der deutschen Rechtschreibung und Grammatik sowie dem fast vollständigen Verzicht, Kommata zu setzen. (siehe oben)
Daher halte ich es für besser, die damaligen Aufzeichnungen nicht einer größeren Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Schließlich möchte ich meine Illusion aufrechterhalten, ein wortgewandter und gewitzter Autor zu sein.
Christian Hanne, Jahrgang 1975, hat als Kind zu viel Ephraim Kishon gelesen und zu viel “Nackte Kanone” geschaut. Inzwischen lebt er mit seiner Frau und seinen beiden Kindern in Berlin-Moabit. Kulinarisch pflegt er eine obsessive Leidenschaft für Käsekuchen. Sogar mit Rosinen. Ansonsten ist er mental einigermaßen stabil.
Ich bekomme eine Nachricht an meine Blog-E-Mail-Adresse. Ein Michael Meier schreibt: „Ich frage mich, ob Sie vielleicht an meiner Domain frag-mich-einfach.de interessiert sind.“ Ich glaube nicht, denn er fragt mich ja auch so einfach, da brauche ich nicht noch extra eine Website, die Menschen dazu auffordert.
Ohnehin fühle ich mich nicht kompetent, irgendwelche Fragen zu beantworten. Von daher wäre die Adresse ich-weiß-es-doch-auch-nicht.de für mich passender.
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Auf der Turmstraße kommt mir eine junge Frau entgegen. Sie hat Trisomie 21 und trägt ein blaues T-Shirt auf dem „I’m not a morning person!“ steht. Trotzdem lacht sie und macht auch sonst einen fröhlichen Eindruck. Es ist aber auch schon 16 Uhr.
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Meine Eltern haben mir eine Postkarte geschickt. Aus der Lombardei, wo sie letzte Woche auf einer fünftägigen Busreise unterwegs waren. Die Karte hat die Form einer Geige und ist aus einem Violinen-Museum, das sie in Cremona besichtigt haben. Außerdem waren sie im Geburtshaus von Giuseppe Verdi, haben gut gegessen und noch viel anderes gesehen.
Zum Beispiel in Mailand. Da waren sie in einer Eisdiele und hier wird der Postkartenbericht geradezu spektakulär. Meine Eltern aßen dort zwei Kugeln Eis – oder wie meine Mutter sie nennt: zwei Bällchen – und bezahlten dafür 16 Euro. 16 Euro!
Nun ist das Eis in einem italienischen Eiscafé sicherlich besser als damals in Westerburg. (Wobei unsere Eisdiele immerhin Venezia hieß. Wie auch sonst.) Aber wahrscheinlich nicht 16-Euro-für-2-Kugeln gut. Laut meiner Mutter war bei ihrem Eis auch ein wenig Deko dabei. Vielleicht hat die 13 Euro gekostet.
Im Venezia gab es damals ein Aktionsangebot für 24 Kugeln Eis. Wenn du alles aufgegessen hast, musstest du nichts bezahlen, blieb etwas übrig, war der volle Betrag zu entrichten, sprich zwölf D-Mark.
Aus meiner Taschengeld-Perspektive war das sehr viel Geld. Weil ich nicht wusste, ob ich tatsächlich 24 Kugeln Eis schaffe und die dann fälligen zwölf D-Mark so teuer fand, traute ich mich nicht, meine Eltern zu fragen, ob ich das bestellen darf. Möglicherweise hätte ich weniger Scheu gehabt, wenn ich gewusst hätte, dass meine Eltern 40 Jahre später bereitwillig 16 Euro für zwei Kugeln Eis ausgeben.
22. September 2023, Berlin
Vor Köftei, einem Döner-Laden neben Penny, sitzt ein volltätowierter Mann. Und wenn ich volltätowiert schreibe, meine ich volltätowiert. Seine Arme und Beine sind über und über mit Tattoos bedeckt. Da ist kein Quadratzentimeter tintenfreie Haut übrig.
Wie sich das wohl entwickelt hat? Vielleicht fing es mit einem kleinen Tattoo am Oberarm an – einer winzigen Blume zum Beispiel –, dann kam ein zweites Motiv dazu, dann ein drittes und irgendwann ist das ganze etwas aus dem Ruder gelaufen. Die vielen Tattoos sehen bei dem Mann aber durchaus gut aus. Mit Mustern, Linien, Symbolen und Bildern. Quasi wie ein Gesamtkunstwerk.
Auf den Waden trägt er zwei photorealistische Portraits. Eines von Elvis und das andere von jemandem, der für mich auch wie Elvis aussieht, aber wahrscheinlich jemand anderes Berühmtes ist, den ich nicht kenne.
Ich frage mich allerdings, warum er sich ausgerechnet diese Stelle für die Elvis-Bilder ausgesucht hat. Da hat er selbst doch gar nicht so viel davon. Du schaust ja eher selten auf deine eigenen Waden. Aber vielleicht sitzt der Mann sehr oft im Schneidersitz und erfreut sich an seinen Elvissen.
Ich selbst habe nie das Bedürfnis verspürt, mich tätowieren zu lassen. Das hat mehrere Gründe. Der zu erwartende Schmerz spricht für mich dagegen. Und mein Geiz. So ein Tattoo ist nicht ganz günstig. Ich möchte nicht mehrere hundert Euro ausgeben und mich dann stundenlang pieken lassen.
Vor allem bin ich für ein Tattoo aber zu spießig. Ich bin in einer Zeit und Gegend aufgewachsen, in der angenommen wurde, dass du nur Tattoos trägst, wenn du Mitglied einer kriminellen Vereinigung bist. Oder Matrose.
Die meisten Tätowierungen sahen damals auch nicht besonders gut aus. Eher so als seien sie im Knast gestochen worden. Mit Tintenpatrone und Stopfnadel. Von jemandem, der künstlerisch wenig begabt ist, und das noch nie gemacht hat.
Ich wüsste außerdem nicht, was ich so gut finde, um es dauerhaft auf meiner Haut zu verewigen. Wer möchte schon sein Leben lang irgendein abgeschmacktes Zitat mit sich rumtragen, nur weil man als junger Mensch „Der kleine Prinz“ gut fand.
Zudem habe ich wenig Vertrauen, was die Straffheit meines Bindegewebes im Alter angeht. Mit 30 steht oberhalb deiner linken Brust „Man sieht nur mit dem Herzen gut.“, mit Mitte 70 hängt der Spruch dann nur noch auf Bauchnabelhöhe und ist wegen deiner runzligen, welken Haut gar nicht mehr zu lesen. Was bei einem Der-Kleine-Prinz-Zitat gar nicht so schlimm wäre.
23. September 2023, Berlin
Heute ist Internationaler Tag des Hasen. Außerdem ist Tag der Bisexualität. Ein doppelter Freudentag für bisexuelle Hasen.
In der Woche vor dem Marathon wird laut Plan ohnehin weniger lang und weniger hart trainiert. Um sich für die 42 Kilometer zu schonen. Ganz ohne Training kam ich mir trotzdem wie ein faules Schwein vor.
Wir streben aber keine besondere Zeit an, sondern wollen nur „gemütlich“ ankommen. Das klappt bestimmt auch ohne Training in den Tagen davor. Falls nicht, haben wir vielleicht Glück und die Letzte Generation blockiert irgendwo die Strecke. Dann können wir uns zwischendurch ein wenig ausruhen.
Christian Hanne, Jahrgang 1975, hat als Kind zu viel Ephraim Kishon gelesen und zu viel “Nackte Kanone” geschaut. Inzwischen lebt er mit seiner Frau und seinen beiden Kindern in Berlin-Moabit. Kulinarisch pflegt er eine obsessive Leidenschaft für Käsekuchen. Sogar mit Rosinen. Ansonsten ist er mental einigermaßen stabil.
Zum Sonntagabend gibt es meine semi-originellen Gedanken und semi-spannenden Erlebnisse aus der abgelaufenen Woche. Manchmal banal, häufig trivial, meistens egal.
18. September 2023, Berlin
Meine Frau probiert bei Snapchat einen Senioren-Filter aus. Ihr Haar wird schneeweiß, die Wangen schlaff, ihre Augenpartie faltig. Sie ist 30 Jahre gealtert.
Bei mir ist das Ergebnis weniger spektakulär. Mein Bart ist ohnehin schon grau, lediglich mein Haar wird schlohweiß eingefärbt. Im Gesicht ändert sich nichts.
Ich bin mir nicht sicher, was ich davon halten soll: Entweder werde ich mit Ende 70 noch als Ende 40-Jähriger durchgehen, oder ich sehe heute schon wie ein 80-Jähriger aus, der sich die Haare dunkel färbt.
Christian Hanne, Jahrgang 1975, hat als Kind zu viel Ephraim Kishon gelesen und zu viel “Nackte Kanone” geschaut. Inzwischen lebt er mit seiner Frau und seinen beiden Kindern in Berlin-Moabit. Kulinarisch pflegt er eine obsessive Leidenschaft für Käsekuchen. Sogar mit Rosinen. Ansonsten ist er mental einigermaßen stabil.
Heute steht auf dem Trainingsplan eine lockere 20-Kilometer-Einheit vor. Wie jeden Freitag. Die absolviere ich immer am Hohenzollernkanal und mache vorher einen kleinen Schlenker durch den Volkspark Rehberge, um auf die vorgegebenen Kilometer zu kommen.
In dem Park stehen an einer Stelle ein paar metallene Fitnessgeräte. Früher wäre das ein Trimm-dich-Pfad gewesen. Das klingt aber zu sehr nach uncoolem Turnvater-Jahn-Muff. Deswegen heißt das heute inzwischen Street-Workout-Anlage und die Gerätschaften sind nicht aus Holz, sondern Metall.
Bei einem Gerät stellst du dich mit beiden Füßen hinein und schwingst deine Beine jeweils in die entgegengesetzte Richtung. Jedes Mal, wenn ich dort vorbeikomme, benutzt der gleiche Mann das Gerät. Schwarze Schuhe, schwarze Hose, schwarzes T-Shirt und kurz geschnittener weißer Haarkranz. Ich frage mich, ob er jeden Freitag um kurz nach 8 dort trainiert und immer nur an diesem Gerät. Oder jeden Tag um kurz nach 8. Oder 24/7 das ganze Jahr lang.
Auf einer Bank am Kanal sitzt ein asiatisches Paar, zwischen ihnen ein Spitz mit braunem fluffigem Fell. Der Mann trägt ein Chicago-Bulls-Shirt, hat sich zurückgelehnt, die Arme über die Lehne ausgebreitet und genießt mit geschlossenen Augen die morgendliche Sonne. Die Frau schmiert sich ein Toastbrot mit Schokocreme, dann beißt sie hinein, ebenfalls mit geschlossenen Augen.
Möglicherweise haben die beiden die bessere Entscheidung getroffen, den schönen Spätsommermorgen nicht zum Laufen, sondern zum Frühstücken im Freien zu nutzen.
Am Ufer steht ein Reiher und tut so, als würde er mich nicht sehen. Etwas später sehe ich am Wegesrand ein Eichhörnchen. Es hält eine Eichel in seinen Pfötchen und schaut hektisch nach links und rechts. Wahrscheinlich checkt es seine Fluchtmöglichkeiten, sollte ich versuchen, ihm die Nuss streitig zu machen.
Bei Kilometer 10 will ich umdrehen und zurück nach Hause laufen, um genau auf meine 20 Kilometer zu kommen. Allerdings kommt mir genau an diesem Punkt eine Joggerin entgegen. Wenn ich jetzt kehrt mache, könnte der Eindruck entstehen, ich will sie verfolgen. Deswegen laufe ich 200 Meter weiter und drehe dann erst um.
Das hat mein Problem aber nicht gelöst, sondern nur aufschoben. Die junge Frau ist minimal langsamer als ich, so dass ich ihr allmählich immer näherkomme. Schließlich laufe ich in einem quälend langen Überholprozess an ihr vorbei. Wie ein Laster, der sich auf der Autobahn im Schildkrötentempo an einem anderen LKW vorbeischiebt.
Ich könnte einen kleinen Zwischenspurt einlegen, um schneller an ihr vorbeizukommen. Das wäre auch peinlich. Dann denkt sie womöglich, meine Männlichkeit ist so fragil, dass ich ihr zeigen muss, dass ich viel schneller bin als sie.
Es gibt für mich keinen vorteilhaften Ausweg aus dieser Situation. Entweder fühlt sich die Frau von mir belästigt oder sie hält mich für einen Idioten.
Ich behalte mein langsames Tempo bei. Erst später fällt mir auf, dass sie sich dadurch wahrscheinlich von mir belästigt gefühlt und mich für einen Idioten gehalten hat.
16. September 2023, Berlin
6.30 Uhr. Sitze im Wohnzimmer auf dem Sofa und versuche mittels Kaffee die Lebensgeister zu wecken. Plötzlich dringen durch die geöffnete Balkontür von draußen klackende Geräusche hinein. Klack, klack, klack. Es klingt, als würde jemand mit Kieselsteinen auf Autos werfen. Klack, klack, klack.
Da ich ein neugieriger Mensch bin, gehe ich auf den Balkon, um nachzuschauen, was da los ist. Klack, klack, klack.
Unter der Eiche gegenüber steht ein Auto. In der Baumkrone turnt ein Eichhörnchen rum, wodurch Eicheln auf den PKW regnen. Klack, klack, klack.
Ich schätze, das Eichhörnchen ist auf der Suche nach Nahrung. Oder es drückt mit diesem Akt des Vandalismus seine Abneigung gegen den motorisierten Individualverkehr aus. Die letzte Generation gibt es anscheinend auch im Tierreich.
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Heute steht der letzte 35-Kilometer-Lauf vor dem Marathon nächsten Sonntag an. Diesmal ohne Endbeschleunigung oder irgendwelche Sperenzchen. Einfach entspannt und gemütlich laufen. 35 Kilometer lang.
Nach ungefähr einer dreiviertel Stunde kommt mir auf dem Spreeweg hinter dem Schlosspark Charlottenburg ein anderer Läufer entgegen. 1,90 groß, athletisch gebaut in einem weißen ärmellosen Shirt. (Hätte ich solche Oberarme, würde ich auch im Muscle Shirt laufen. Oder ganz ohne Shirt.)
Als wir aneinander vorbeilaufen, hebt der Mann seinen Zeigefinger. Ich tue es ihm gleich, strecke aber nicht nur meinen Zeigefinger in die Höhe, sondern spreize auch noch den Daumen im 90 Grad Winkel ab. Als würde ich mit einer pantomimischen Pistole in die Luft schießen. Oder das internationale Zeichen für Loser machen.
Beides lässt mich in keinem guten Licht dastehen. Entweder hält er mich für einen Idioten oder einen sehr unverschämten Menschen. Wahrscheinlich für beides. Da hat er was mit der Joggerin von gestern gemeinsam.
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Was nach dem langen Lauf sehr nervt, ist der zu erledigende Wochenendputz. Der nervt selbstverständlich immer, aber wenn du dreieinhalb Stunden gelaufen bist, ganz besonders.
Heute werde ich jedoch fürs Staubsaugen belohnt. Nicht damit, dass die Wohnung anschließend in einem sozial akzeptierten sauberen Zustand ist, sondern ich entdecke im Wohnzimmer hinter einem Bild ein Schokoei, das an Ostern nicht gefunden wurde. Ich esse es auf und hoffe, dass es nicht von Ostern 2019 ist. Die Schokolade macht mir sofort gute Laune und der Zucker gibt mir Energie, um den Rest der Wohnung zu saugen.
Ich finde, meine Frau und ich sollten uns künftig jeden Samstag als Anreiz und Belohnung fürs Aufräumen, Saugen und Putzen gegenseitig Süßigkeiten verstecken.
17. September 2023, Berlin
Meine Frau und ich gehen spazieren. Ein Mann und eine Frau kommen uns entgegen. Sie sind Mitte 30 und tragen Partner-T-Shirts. In Schwarz, auf Brusthöhe steht „Fuck off“. Unter dem „off” ist jeweils ein kleiner Farbklecks hinterlegt. Bei der Frau in neonpink, bei dem Mann in neongelb.
Ich stelle mir vor, wie die beiden heute früh vor dem Kleiderschrank folgende Unterhaltung hatten.
„Schatz, sollen wir unsere T-Shirts vom Kirchentag in Dortmund 2019 anziehen?“ „Die sind noch in der Wäsche.“ „Ach, wie schade.“ „Aber unsere „Fuck off“-Shirts sind frisch gewaschen.“ „Toll!“
Christian Hanne, Jahrgang 1975, hat als Kind zu viel Ephraim Kishon gelesen und zu viel “Nackte Kanone” geschaut. Inzwischen lebt er mit seiner Frau und seinen beiden Kindern in Berlin-Moabit. Kulinarisch pflegt er eine obsessive Leidenschaft für Käsekuchen. Sogar mit Rosinen. Ansonsten ist er mental einigermaßen stabil.
Zum Sonntagabend gibt es meine semi-originellen Gedanken und semi-spannenden Erlebnisse aus der abgelaufenen Woche. Manchmal banal, häufig trivial, meistens egal.
11. September 2023, Berlin
Die Tochter hat in Carlow einen neuen Job angefangen. Als Putzkraft in einem Hotel. Gestern, an ihrem zweiten Arbeitstag, hat sie ihren Kopf mit voller Wucht gegen die Kante eine Badezimmertür geknallt. Weil ihr schwindlig und leicht übel war, wurde sie nach Hause geschickt.
Heute geht es ihr schon viel besser, aber sie hat an der Stirn eine monströs große Beule. Wie in einem Tom & Jerry-Cartoon, wenn Tom einen Hammer auf die Rübe bekommen hat. Es fehlt nur, dass ein paar Vögelchen ihren Kopf umkreisen.
Ich behalte den Gedanken lieber für mich. Humor soll laut dem Volksmund zwar die beste Medizin sein, aber ich bin mir nicht sicher, ob die Tochter das genauso lustig findet wie ich.
Christian Hanne, Jahrgang 1975, hat als Kind zu viel Ephraim Kishon gelesen und zu viel “Nackte Kanone” geschaut. Inzwischen lebt er mit seiner Frau und seinen beiden Kindern in Berlin-Moabit. Kulinarisch pflegt er eine obsessive Leidenschaft für Käsekuchen. Sogar mit Rosinen. Ansonsten ist er mental einigermaßen stabil.
Zum Sonntagabend gibt es meine semi-originellen Gedanken und semi-spannenden Erlebnisse aus der abgelaufenen Woche. Manchmal banal, häufig trivial, meistens egal.
04. September 2023, Berlin
Unter unserem Balkon unterhalten sich zwei junge Frauen. Die eine erzählt, ihr Professor hätte verboten, dass während des Seminars gestrickt wird. Sie hat dafür kein Verständnis. „Ich kann doch gleichzeitig stricken und zuhören.“ Die andere Frau pflichtet ihr bei: „Genau. Und ich kann auch nicht stricken und trotzdem nicht zuhören.“
Christian Hanne, Jahrgang 1975, hat als Kind zu viel Ephraim Kishon gelesen und zu viel “Nackte Kanone” geschaut. Inzwischen lebt er mit seiner Frau und seinen beiden Kindern in Berlin-Moabit. Kulinarisch pflegt er eine obsessive Leidenschaft für Käsekuchen. Sogar mit Rosinen. Ansonsten ist er mental einigermaßen stabil.
Die Vorsitzende des Bundeselternrats, Christiane Gotte, hat sich in einem Interview gegen „lottrige Kleidung“ von Schüler*innen ausgesprochen. Sie findet, es solle an Schulen einen verbindlichen Kleiderordnung-Konsens geben, damit Schüler*innen nach Hause geschickt werden können, um sich ordentlich anzuziehen.
„Lottrige Kleidung“ hört sich für mich nach 60er/70er-Jahre-Lausbubenfilmen mit Hansi Kraus und Theo Lingen an. Die Vorstandsmitglieder des Bundeselternrats sehen alle auch ein bisschen so aus, als wären sie mit diesen Filmen aufgewachsen.
Trotzdem muss ich zugeben, dass ich so spießig bin, dass ich denke, Schüler*innen sollten sich in der Schule angemessen anziehen und nicht so, als gingen sie ins Schwimmbad oder in die Disco. (Dass ich das Wort Disco statt Club verwende, zeigt, wie spießig ich bin. Zumindest sage ich nicht Tanzlokal.)
Andererseits frage ich mich, wie der Bundeselternrat dazu gekommen ist, dass die Kleiderordnung das drängendste Problem an Schulen ist und dass ihre begrenzten Ressourcen am besten eingesetzt sind, wenn sie darüber eine Diskussion anstoßen.
„Herzlich willkommen zur Vorstandssitzung. TOP 1: Was ist das wichtigste Schulthema, zu dem wir Interviews gegen sollten?“ „Wie wäre es mit fehlendem Lehrpersonal und inakzeptabel vielem Unterrichtsausfall?“ „Ich weiß nicht. Das ist halt so. Vielleicht baufällige Gebäude und eklige Toiletten?“ „Joah. Oder fehlende Chancengleichheit?“ „Betrifft uns alle nicht. Wir könnten die unzureichende Digitalisierung anprangern.“ „Auf keinen Fall. Das ist zu sehr Neuland. Außerdem sind Handys Teufelszeug.“ „Okay, ich hab’s: Lottrige Kleidung!“ „Spitze, das nehmen wir.“
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Die Polizei Landau veröffentlicht eine Pressemitteilung mit der schönen Überschrift: „Rentner raufen sich mit Rechen.“ Wahrscheinlich hat der Volontär aus der Presseabteilung kürzlich den Kurs „Schöner Schreiben mit Alliterationen“ belegt.
In der Gemeinde Lustadt gerieten zwei 77-jährigen Männer über ein paar Pfandflaschen in Streit und diesen trugen sie mit Rechen aus. Das muss ein ziemliches Spektakel gewesen sein, denn der Senioren-Zweikampf verlagerte sich sogar bis vors Rathaus. Dort trennte die Polizei die „völlig erschöpften“ Rentner.
Da soll noch jemand sagen, das Dorfleben wäre langweilig. So viel Action habe ich in 25 Jahren in Berlin nicht erlebt.
09. September 2023, Berlin
Stehe wieder vor dem Zahnpasta-Regal bei dm. Natürlich habe ich vergessen, zuhause meine Zahnpasta zu fotografieren. Dafür bin ich mir aber sehr sicher, dass sie von blend-a-med ist. Davon gibt es im Regal nur eine Sorte. (Übrigens rechts unten. Als hätte jemand sie absichtlich so weit wie möglich von ihrem ursprünglichen Ort platziert, um mich maximal zu verwirren.)
Die Schachtel sieht aber anders aus. Sie ist mehr in grün gehalten, die meiner Stamm-Zahncreme ist eher bläulich. Vielleicht wurde nur das Verpackungsdesign geändert. Wahrscheinlich hat irgendwer bei Procter & Gamble gesagt: „Lasst uns ein Späßchen mit Christian machen und die Verpackung neu gestalten.“ „Ja und dann sagen wir dm noch, sie sollen das Zahnpasta-Regal neu sortieren. Das wird eine Gaudi.“
Ich kaufe die Zahnpasta trotz der abweichenden Verpackung. Daheim muss ich feststellen, dass die Cremes nicht identisch sind. Meine bisherige trägt die Bezeichnung „Complete Protect Expert“, die neu gekaufte „Complete Expert“. Ich bin mir nicht sicher, was besser ist. Die alte Zahncreme, weil sie ein kompletter Schutz-Experte ist, oder die neue, weil sie Experte für alles ist?
Ansonsten versprechen beide Tiefenreinigung sowie Schutz gegen Karies, Zahnstein und Plaque und Schutz für Zahnschmelz und Zahnfleisch. Außerdem sorgen sie angeblich für frischen Atem und natürliches Weiß.
Die neue Zahncreme wirbt noch extra mit einem 24-Stunden-Schutz gegen Plaque. Aber nur, wenn du zweimal täglich die Zähne putzt. Heißt das, ich muss mich nach dem zweiten Putzen 24 Stunden lang nicht um meine Zahnhygiene kümmern? Oder bekomme ich dann Karies, habe aber keine Plaque? Und sieht man den Karies mehr bei den plaquelosen Zähnen?
Beim ersten Ausprobieren stellt sich heraus, dass sich nicht nur das Verpackungsdesign, sondern auch die Rezeptur geändert hat. Die neue Zahnpasta ist nicht weiß, sondern bläulich und anstatt einer körnigen hat sie eine gelartige Konsistenz. Außerdem schmeckt sie anders. Und anders heißt natürlich weniger gut. Was für Monster arbeiten eigentlich bei Procter & Gamble?
10. September 2023, Berlin
Der Sohn war gestern auf einer Geburtstagsparty. Zuhause bei L. Mit 50 Gästen. Die Eltern von L. waren nicht da. Ich weiß nicht genau, ob ich das mutig oder wahnsinnig finde.
Die Polizei wäre zweimal gekommen, weil sich Nachbar*innen beschwert hätten, erzählt der Sohn. Beim zweiten Mal hätten sie die Gäste alle nach Hause geschickt. Die Polizisten waren aber durchaus beeindruckt. „Krasse Party“, meinte einer von ihnen.
In den Augen des Sohns war die Geburtstagsfeier somit ein voller Erfolg. Die Nachbar*innen sehen das wahrscheinlich etwas anders.
Christian Hanne, Jahrgang 1975, hat als Kind zu viel Ephraim Kishon gelesen und zu viel “Nackte Kanone” geschaut. Inzwischen lebt er mit seiner Frau und seinen beiden Kindern in Berlin-Moabit. Kulinarisch pflegt er eine obsessive Leidenschaft für Käsekuchen. Sogar mit Rosinen. Ansonsten ist er mental einigermaßen stabil.
Heute ist Iss-draußen-Tag. Wahrscheinlich wurde er von Wespen erfunden.
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Der Sohn hat heute Abend mal wieder Exkursion mit dem Philo-LK. Diesmal geht es nicht ins Gefängnis, sondern ins Kino. In Barbie.
Eine interessante Filmwahl. Wir mussten damals noch Literaturverfilmungen wie Homo Faber oder Hamlet mit Mel Gibson im Original anschauen. Das ist jetzt aber keine Früher-war-alles-besser-Klage. Aus mir spricht einfach der pure Neid.
Bei dem Hamlet-Film erinnere ich mich nur noch daran, dass ich fast kein Wort verstanden habe. Und bei Homo Faber konnte unser Lehrer den Titel nicht aussprechen, ohne dass irgendjemand von uns pubertierenden Jungs angefangen hat zu lachen.
01. September 2023, Berlin
Der Sohn hat heute Geburtstag. Er wird 17. Seine Geburt war auch an einem Freitag. Da es ein geplanter Kaiserschnitt sein musste, legten wir ihn direkt vors Wochenende. So hatte ich danach zwei Tage frei und konnte Urlaubstage sparen, was wir praktisch fanden. So viel zum Zauber der Geburt.
Ich brachte die Tochter damals frühmorgens in die Kita, meine Frau fuhr mit S- und U-Bahn ins Virchow-Klinikum. Das sparte uns Taxi-Kosten, was wir ebenfalls praktisch fanden.
Rund zwei Stunden später ruhte sich meine Frau auf der Intensivstation von den Strapazen des Kaiserschnitts aus, ich saß mit dem Sohn auf dem Arm in einem Sessel und wir lernten uns kennen. Beziehungsweise ich lernte den Sohn kennen, er dachte wahrscheinlich: „Wo zur Hölle bin ich hier, wer ist dieser Typ und wenn er verdammt nochmal nicht sofort aufhört, mir irgendetwas ins Ohr zu flüstern, fange ich an zu schreien.“
Obwohl heute Schule ist, haben wir Zeit für ein gemeinsames Geburtstagsfrühstück. Wegen des Kinobesuchs gestern Abend lässt der Philosophie-Lehrer heute Morgen die ersten beiden Stunden ausfallen. Zu meiner Schulzeit hätte es so etwas nicht gegeben. Ein weiterer Beleg, dass früher nicht alles besser war.
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Meine Frau schickt eine WhatsApp-Nachricht und beschwert sich, LinkedIn hätte ihr einen Job als Referentin bei der Jungen Union vorgeschlagen. Ich schreibe zurück, es sei doch schön, dass sie für jung gehalten wird. Sie meint aber, bei der Jungen Union giltst du bestimmt noch mit 60 als jung. Damit hat sie wahrscheinlich recht. Zumindest was das geistige Alter angeht.
02. September 2023, Berlin
Laut Marathon-Vorbereitungsplan muss ich heute 35 Kilometer laufen. Das ist lang. Ich laufe am Hohenzollernkanal entlang, so wie gestern schon. Das ist langweilig. Die letzten zwölf Kilometer muss ich in Endbeschleunigung im Marathontempo laufen. Das ist anstrengend.
Ich habe noch leichten Muskelkater von gestern, weil ich bei meinem 20-Kilometer-Lauf fünf Steigerungsläufe machen musste. Da hatte ich bereits Muskelkater von den Drei-Kilometer-Intervallen vom Mittwoch, als ich noch Muskelkater vom Halbmarathon am Sonntag hatte. Die Marathonvorbereitung ist ein einziger Muskelkater.
Um mich vom Muskelkater abzulenken, höre ich beim Laufen Podcast. Die Hotel-Matze-Folge mit der spanischen Porno-Produzentin Paulita Pappel. Sie erzählt, als sie Mitte der 2000er Jahre nach Berlin kam, hätte sie die Erfahrung gemacht hat, dass deutsche Männer nicht flirten können. Ich bin ein sehr guter Beleg für diese These. An Karneval hat mich mal eine Frau gefragt, ob ich schwul oder verheiratet sei. Ich wollte zurückfragen, was ihr lieber wäre, aber da hatte sie sich schon jemand anderem zugewandt, mit dem sie dann später geknutscht hat.
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Als ich vom Laufen nach Hause komme und gerade meine Schuhe vor der Wohnungstür ausziehe, höre ich, wie ein paar Etagen über uns jemand abschließt und polternd die Treppe runterstürmt. Unser Nachbar P. erscheint auf dem Treppenabsatz. Er entschuldigt sich, er hätte mich nicht erschrecken wollen – was er gar nicht hat –, aber er müsse sich beeilen. Sie hätten heute Einschulung und weil er sein Hemd schon vorher durchgeschwitzt hatte, musste er sich schnell umziehen. Dann rennt er den Rest der Treppe hinunter und aus dem Haus.
So schnell wie P. läuft, vermute ich, dass er nochmal zurückkommen muss, um sich ein weiteres Mal umzuziehen.
03. September 2023, Berlin
Sachen, die diese Woche am Straßenrand gelegen haben:
eine blaue Jeans
eine karierte Stola
eine einzelne pinke Kindersocke
ein einzelner Badelatschen
eine kaputte Badewanne
ein kaputtes Bettgestell
ein Sofa ohne Stoffbezug
Das hört sich jetzt an, als wohnten wir im Ghetto, wo jeder seinen Müll wild auf der Straße entsorgt. Tatsächlich ist es hier aber relativ sauber und auf dem Gehweg liegen nur vereinzelte Dosen oder Süßigkeitenverpackungen rum und so gut wie gar keine Hundehaufen. Möglicherweise lebe ich schon zu lange in Berlin, dass ich das für „relativ sauber“ halte.
Christian Hanne, Jahrgang 1975, hat als Kind zu viel Ephraim Kishon gelesen und zu viel “Nackte Kanone” geschaut. Inzwischen lebt er mit seiner Frau und seinen beiden Kindern in Berlin-Moabit. Kulinarisch pflegt er eine obsessive Leidenschaft für Käsekuchen. Sogar mit Rosinen. Ansonsten ist er mental einigermaßen stabil.
Zum Sonntagabend gibt es meine semi-originellen Gedanken und semi-spannenden Erlebnisse aus der abgelaufenen Woche. Manchmal banal, häufig trivial, meistens egal.
28. August 2023, Berlin
Die Tochter erzählt, eben auf dem Heimweg seien zwei Männer im Auto an ihr vorbeigefahren, hätten das Fenster runtergekurbelt und ihr hinterhergepfiffen. Für sie – wie die allermeisten Frauen – ist das keine Seltenheit. Im Gegenteil. Als sie während der Corona- Lockdowns täglich mit ihrer besten Freundin spazieren ging, gab es keinen einzigen Tag, an dem ihnen nicht hinterhergepfiffen oder -gerufen wurde.
Das erste Mal passierte der Tochter so etwas mit 14. Da sprach sie ein ungefähr 30-jähriger Typ auf der Straße an und wollte ihre Nummer haben. Sie holte ihr Handy raus und sagte, wenn er sie nicht in Ruhe ließ, würde sie die Polizei rufen. Glücklicherweise funktionierte das und er ging weiter.
Heute nahm der Catcalling-Vorfall eine sehr befriedigende Wendung. Die beiden Männer waren durch ihre Hinterherpfeiferei so abgelenkt, dass sie das vor ihnen abbremsende Auto nicht bemerkten und ihm hinten drauf fuhren. (Nur mit Blech-, ohne Personenschaden.) Geschieht ihnen recht. Oder wie die Tochter es nennt: „Instant Karma.“ Dabei lacht sie dreckig, was ich durchaus für angemessen halte.
Christian Hanne, Jahrgang 1975, hat als Kind zu viel Ephraim Kishon gelesen und zu viel “Nackte Kanone” geschaut. Inzwischen lebt er mit seiner Frau und seinen beiden Kindern in Berlin-Moabit. Kulinarisch pflegt er eine obsessive Leidenschaft für Käsekuchen. Sogar mit Rosinen. Ansonsten ist er mental einigermaßen stabil.