Post aus Portugal #03 | Schlaflos in Madrid (27.04.)

Madrid ist die lauteste Stadt der Welt. Oder wenigstens eine der lautesten. Steht zumindest im Internet. Aufgrund der anekdotischen Evidenz der gestrigen Nacht bin ich geneigt, dieser Aussage zuzustimmen.

Fußballfans grölten, Touris sangen, Besoffskis krakeelten, Verkehr brummte, Autos hupten, Menschen stritten, Hunde bellten, Verwirrte kreischten, Polizeisirenen sirenten. Irgendwann entsorgte dann jemand auch noch Leergut im Altglascontainer. Nicht rücksichtsvoll sanft, sondern dynamisch schwungvoll. Damit auch wirklich jede Flasche lautstark zersplittert.

Dafür habe ich prinzipiell Verständnis. Sehr großes sogar. Wenn du Flaschen in den Container schmeißt, muss es scheppern. Sonst macht das keinen Spaß. Aber vier Uhr früh ist vielleicht nicht die ideale Uhrzeit dafür.

Gegen halb sieben kam die Nachbarschaft allmählich zur Ruhe. Eine knappe Stunde später startete in der nicht so weiten Ferne Trommelgetöse, um die Teilnehmer*innen des heute stattfindenden Marathons, anzufeuern.

New York trägt den Beinamen „Die Stadt, die niemals schläft“, aber ich glaube, Madrid leidet ebenfalls unter erheblicher Schlaflosigkeit.

8.20 Uhr. Da Schlafen ein sinnloses Unterfangen ist, breche ich zu meiner Joggingrunde auf. Damit sich der Käsekuchen von gestern Abend auf meinen Hüften nicht häuslich einrichtet.

Nach rund zweieinhalb Kilometer erreiche ich den Parque de Retiro, von der Seite „Great Runs“ als ideale Laufstrecke angepriesen. Der 4-Kilometer-Rundkurs führe an Skulpturen und Seen vorbei und sogar an einem Kristallpalast, der zeitgenössische Kunst ausstellt. Was praktisch ist, wenn du deinen Lauf mal für etwas Kultur unterbrechen willst.

Der Park ist tatsächlich sehr großzügig, großflächig und geradezu mondän angelegt. Jeden Moment rechne ich damit, dass die königliche Reiterstaffel vorbeikommt. Was enttäuschenderweise aber nicht passiert.

Unterschlagen hatte „Great Runs“ Informationen zur Topografie des Parks. Der erweist sich als recht hügelig und du rennst ständig hoch und runter. (Gefühlt mehr hoch als runter.) Möglicherweise sind die „Great Runners“ einfach besser trainiert als ich, so dass sie das für nicht erwähnenswert hielten.

Auch auf der Strecke bin ich anscheinend der Einzige, dem die immer wiederkehrenden Anstiege etwas ausmachen. Die Madrilen*innen sind alle in beneidenswerter Form und überholen mich andauernd.

Ich selbst schiebe mich lediglich einmal an einer Frau vorbei. Die sieht allerdings aus, als hätte sie erst vor Kurzem mit dem Joggen angefangen. Wahrscheinlich heute.

Nach rund neuneinhalb Kilometern bin ich zurück an unserer Unterkunft und kann nun sagen, dass ich in Madrid laufen war. Der Käsekuchen auf meinen Hüften nickt.

Nach dem Frühstück lassen wir uns durch die Stadt treiben. Die ist immer noch voll mit Menschen. Wegen Marathon, Sonntag, gutem Wetter, erfolgreichem Stadtmarketing von Madrid und damit verbundenem Fremdenverkehr.

Nach einer Weile erreichen wir den „Plaza Mayor“. Auf deutsch „Hauptplatz“, was aber weniger eindrucksvoll klingt, sondern nach zu früh abgebrochenem Namens-Brainstorming.

Irgendwo hatte ich gelesen, dort fände sonntags ein interessanter Flohmarkt statt. In Berlin gehen wir ab und zu auf den Trödelmarkt an der Straße des 17. Juni. Dort reicht das Sortiment von Büchern, Kleidung, Möbel und Einrichtungsgegenstände über Gemälde, Puppen, Schmuck und Porzellan bis hin zu Schallplatten und CDs.

Wir wollen nichts davon kaufen, sondern schauen nur ein bisschen. Aber immer nur ganz kurz, damit kein Händler Blickkontakt aufnehmen kann und uns anspricht. Oder – noch schlimmer – zu feilschen anfängt.

Am „Plaza Mayor“ stehen die Flohmarkttische unter den Arkaden, die den kompletten Platz säumen. Das Angebot besteht ausschließlich aus Briefmarken, Münzen und ein bisschen Schmuck. Da wollen wir weder etwas kaufen noch anschauen.

Der Frauenanteil auf dem Flohmarkt ist geringer als in der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Die Händler und Besucher wirken alle etwas verschroben. Und mit etwas meine ich sehr. Hier wäre ein idealer Ort für teilnehmende sozialpsychologischen Verhaltensstudien in gesellschaftlichen Subkulturen.

Ebenfalls merkwürdig sind die lebensgroßen Micky-Mouse-Figuren in Real-Madrid-Trikots, die Touristen anbieten, sich mit ihnen zu fotografieren. Gegen Geld natürlich.

Warum sollte jemand das tun? Die Figuren sehen nicht nur creepy aus, sondern haben auch rein gar nichts mit Madrid zu tun. Abgesehen davon, dass sie Real-Shirts tragen. Was für mich zusätzlich gegen ein gemeinsames Bild spricht.

Interessanter ist dagegen ein Mann mit einer Art kleinen Tröte im Mund. Mit dieser produziert er Geräusche, die klingen wie ein Kunstpfeifer, der eine Überdosis Helium eingeatmet hat und nun versucht, eine Nachtigall zu imitieren. Da wäre ich schon eher geneigt, mein Geld zu investieren.

14.30 Uhr, Stadtführung. Wir haben extra eine englischsprachige Tour gebucht, um nicht mit einem Haufen Deutscher durch Madrid zu latschen. Anscheinend waren wir nicht die einzigen mit dieser Idee. Die Gruppe besteht mehrheitlich aus Deutschen, aber zumindest eint uns die Abneigung, im Ausland Landsleuten zu begegnen.

Unser Guide ist Anfang 30, heißt Duarte und kommt ursprünglich aus Portugal. Sein Englisch ist so perfekt, dass er wie ein Amerikaner klingt. Als ich ihm das sage, wirft er die berechtigte Frage auf, ob das heutzutage noch ein Kompliment sei. Ich würde sagen sprachlich schon, inhaltlich nicht immer.

Hier eine Liste von Dinge, die ich mir von der Tour behalten habe (Jahreszahlen und Details habe ich beim Schreiben nachgegoogelt. Damit Sie nicht denken, ich verfüge über ein fotografisches Gehör und habe mir das alles gemerkt.):

  • Madrid ist seit dem 16. Jahrhundert spanische Hauptstadt. Früher war sie eine unwichtige Besiedlung im maurisch besetzten Teil Spanien. Bei der Größe, dem Treiben und der Bedeutung der Stadt kann man sich gar nicht vorstellen, dass das mal anders war. Genau wie Berlin. Vielleicht ändert sich das aber auch wieder und in 500 Jahren ist Berlin nur noch ein irrelevantes Provinzkaff. (Nicht wie heute ein Provinzkaff mit mehr als dreieinhalb Millionen Einwohner*innen.)
  • Architektonisch und städtebaulich gliedert sich Madrid in zwei Teile. Alles, was klein, eng und nüchtern ist, geht auf die habsburgische Herrschaft im 16. /17. Jahrhundert zurück. Alles Große, Herrschaftliche und Opulente haben ab dem 18. Jahrhundert die Bourbonen erbaut. Die hatten – laut unserem Stadtführer – im Gegensatz zu den Habsburgern eine Vision für die Stadt. Daneben gibt es noch einige wenige Gebäude und Hinweise auf die arabische Herrschaft vom 9. bis 11. Jahrhundert.
  • Das königliche Schloss verfügt über mehr als 3.400 Räume, weil Philipp V. zehn Jahre lang jede Nacht in einem anderen Zimmer schlafen wollte. Ich bin mir nicht sicher, ob Duarte das mit den bourbonischen Visionen gemeint hat.
  • An den wenigen Überresten der Almudena Kirche steht eine Statue mit dem schönen Namen „Neugieriger Nachbar“. Die Figur anzufassen, soll Glück bringen. Deswegen ist das Hinterteil blank gescheuert.
  • Auf dem „Plaza Mayor“ steht eine Pferde-Statue mit Philipp III. Das Standbild galt lange Zeit als verflucht, weil es bestialisch stank und in ihm regelmäßig Geräusche zu hören waren. Bei Renovierungsarbeiten stellte sich heraus, dass Spatzen durch die Nüstern des Pferdes in die Statue gelangten, aber nicht wieder herauskamen und darin verendeten.
  • Der spanische Bürgerkrieg und die darauffolgende Diktatur wurden in Spanien nie richtig aufgearbeitet und bis heute wird nicht gerne darüber gesprochen. Möglicherweise weil die Herrschaft Francos nicht in einem revolutionären Akt endete, sondern einfach mit seinem Tod 1975.
  • Maßgeblich verantwortlich für die Einführung der Demokratie in Spanien war Juan Carlos I. Der war noch von Franco als sein Nachfolger bestimmt worden, setzte sich aber zur Überraschung aller für ein modernes, demokratisches Spanien ein und stellte sich einem Putschversuch Anfang der 80er entgegen. Ich muss gestehen, dass ich Juan Carlos nur als Fremdgeher, Elefantenjäger und im Zusammenhang mit Korruption auf dem Zettel hatte. Menschen sind komplexer, als wir das häufig wahrhaben wollen.

Abendessen im Alhambra. Ein Lokal von Duartes Empfehlungsliste. Zu behaupten, die Speisekarte sei fleischlastig, ist stark untertrieben. Vegetarische Gerichte sind tabu. Abgesehen von Salat.

Dafür befolgt das Alhambra das Motto „Fleisch ist mein Gemüse“ mit geradezu religiösem Eifer. Bei den Beilagen wird sich nicht mit Brokkoli, Karotten oder Zucchini aufgehalten. Nicht einmal ein Alibi-Tomätchen liegt auf dem Teller. Zu Entrecote, Chorizo-Würsten oder iberischem Schwein gibt es Pommes. Sehr viele Pommes. Als zusätzliche Sättigungsbeilage wird Brot gereicht.

Normalerweise esse ich kaum Fleisch. (Ein Satz der starke „Ich habe nichts gegen Ausländer, aber…“-Vibes hat.) Weil mir hier nichts anderes übrigbleibt, bestelle ich gebratene Hähnchenbrust. (Was bei Hähnen die durchaus berechtigte Frage aufwirft, ob sie nicht als Fleisch gelten und warum ich nicht den scheiß Salat nehme, wenn ich doch kein Tier essen will. Auf beides habe ich keine befriedigende Antwort.)

Neben dem Pommes-Berg liegen auf meinem Teller drei riesige Hähnchenbrustfilets. Ich bin froh, ihnen nie in lebendigem Zustand begegnet zu sein, denn ihre Größe lässt vermuten, dass sie die Ausmaße und Brustmuskulatur eines mittelgroßen Gorillas hatten. Hätten sie dann noch gewusst, dass ich sie später verspeisen werde, wären sie bestimmt nicht besonders gut auf mich zu sprechen gewesen, und in einem Zweikampf Mann gegen monströse Gorilla-Hähne hätte ich definitiv den Kürzeren gezogen.

Zwei der Filets schaffe ich, bei dem dritten muss ich passen. Die Aufnahmekapazität meines Magens ist schlichtweg erreicht. Da geht einfach nichts mehr rein. (Ein Satz, den ich nur sehr selten sage.)

Im Restaurant ist es mir sehr unangenehm, wenn ich meinen Teller nicht leer esse. Weil die Kellner und Köche denken könnten, mir hat es nicht geschmeckt und dann sind sie vielleicht enttäuscht. Als harmoniesüchtiger Mensch möchte ich das nicht.

Andererseits bin ich fast 50. Da kann mir eigentlich egal sein, was Kellner und Köche, die ich nicht persönlich kenne und sehr wahrscheinlich nie wieder sehe, von mir denken. Ist es mir aber nicht. Das überkompensiere ich mit unangemessen viel Trinkgeld. (Der People Pleaser ist stark in mir.)

Abends im Bett hoffe ich auf eine ruhigere Nacht. Morgen müssen wir ausgeruht sein. Da sind wir den ganzen Tag mit der Bahn unterwegs, müssen einmal in Vigo umsteigen und den Bahnhof wechseln und kommen nach zehn Stunden um 21.18 Uhr in Porto an.

Der Erzähler aus dem Off blättert in seinen Notizen, schüttelt den Kopf und murmelt: „Was für eine spektakuläre Fehleinschätzung.“


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