Post aus Portugal #10 | Halbwissen über Lissabon

„Hello, my name is Beatriz and I am your tour guide.”

Es war Anfang Mai, wir wohnten noch in unserem muffigen Hochhaus-Airbnb, und standen mit rund zwölf Personen an der Statue des Dichters António Ribeiro Chiado, gegenüber des historischen Café A Brasileira, dem Ausgangspunkt für unseren gemeinsamen dreistündigen Stadtspaziergang.

Wie immer hatten wir eine englischsprachige Tour gebucht, um nicht mit einem Rudel Deutscher durch die Stadt latschen zu müssen. Diesmal funktionierte das auch, wie sich nach der Vorstellungsrunde rausstellte. Die Gruppe bestand aus Amerikanern, Engländern, Neuseeländern und einer Japanerin.

Außer uns war ein anderes Paar aus Deutschland dabei. Schon bevor sie sich vorstellten, meinte meine Frau, die beiden sähen deutsch aus. Wir möglicherweise auch. Ich glaube, es sind die Eastpak- und Fjällräven-Rucksäcke, die uns Deutsche verraten.

Gelber Lisboa-Schriftzug auf dem Praça do Comércio

Die folgenden Ausführungen basieren weitestgehend auf den Erzählungen unserer Stadtführerin plus intensivem Nachgoogeln, weil mein schlechtes Gedächtnis verhindert, dass ich mir Namen, Zahlen und Fakten behalte. Oder sie kommen gar nicht erst bei mir an. Wenn jemand eine Jahreszahl oder eine berühmte Persönlichkeit erwähnt, höre ich nur „Bliblablö“ oder „Bliblablubb“.

Beatriz hat auf der Tour noch viel mehr erzählt, aber ich konnte mir nicht alles davon merken. (Stichwort „schlechtes Gedächtnis“) Etwaige Ungenauigkeiten oder Falschinformationen in dem Text gehen selbstverständlich auch nicht auf Beatriz zurück, sondern sind ganz allein auf meine schlechte Nachrecherche beziehungsweise mein Vertrauen auf dubiose Internetquellen zurückzuführen.

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Als gute Stadtführerin erzählt Beatriz als erstes vom großen Erdbeben vom 01. November 1755. Das Beben hatte eine Stärke von 8,5 bis 9 und verursachte einen riesigen Tsunami, der sich seinen Weg vom Atlantik über den Tejo in die Stadt bahnte.

Zwischen 30.000 und 100.000 Menschen kamen ums Leben, der untere Teil Lissabons, die Baixa, wurde mitsamt ihren Palästen, Verwaltungsgebäuden und Kirchen sowie dem Hafen nahezu vollständig zerstört.

Den Wiederaufbau organisierte Premierminister Sebastião de Mello, aka Marques de Pombal. Er ließ die Straßen verbreitern und quadratisch anordnen sowie große, weitflächige Plätze anlegen. Eine Stadtarchitektur, die bis heute charakteristisch für die Baixa ist.

Die Oberstadt (Bairro Alto) blieb von dem Erdbeben weitgehend verschont ebenso wie der Stadtteil Alfama. Dort sehen die engen, verwinkelten und verwirrenden kleinen Gassen heute fast noch genauso aus wie unter der maurischen Besatzung im 8. bis 12. Jahrhundert. Nur mit mehr Souvenirläden und Airbnb-Wohnungen.

Die Familie des damaligen Königs José I. überlebte Erdbeben und Tsunami übrigens unbeschadet. Sie weilte zu dem Zeitpunkt nicht in Lissabon, weil die Tochter am Allerheiligen-Feiertag unbedingt einen Ausflug nach Belém unternehmen wollte. Oder wie Beatriz es ausdrückte: „Being spoiled can save your life.“

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Das Wappen von Lissabon ziert ein Segelschiff mit zwei Raben und ist in der ganzen Stadt vorzufinden. Unter anderem an öffentlichen Gebäuden, auf Gedenktafeln, Bushaltestellen, Wasserspendern und Pollern oder in den Boden gepflastert.

Die Symbole stehen für den Schutzheiligen von Lissabon, den heiligen Vinzenz – beziehungsweise auf Portugiesisch São Vicente, was weniger piefig klingt –, der 304 als Märtyrer in Valencia starb. Nachdem König Afonso I. Ende des 12. Jahrhundert Lissabon von den Mauren befreit hatte, ließ er die Gebeine des Heiligen nach Portugal bringen.

Während der wochenlangen Schiffreise beschützten zwei Raben den Leichnam des ollen Vicente, damit ihn keine Geier als kleinen Mittagssnack wegschnabulieren. Aus Dankbarkeit prangt ihr Konterfei heute auf allen Mülleimern in Lissabon.

Lissabon ist bekannt für seine besondere Gehwegpflasterung, die so genannte Calçada Portuguesa. Mosaike aus weißen und schwarzen Steinen bilden Formen und Figuren, durch ihre Sonnenreflektion tragen sie zum besonderen Licht in der Stadt bei.

Ein beliebtes Pflastermotiv ist das Mar Largo – nicht zu verwechseln mit Mar-a-Lago, dem Wohnsitz der wütenden Orange in den USA. Das wellenförmige Muster symbolisiert die Nähe Lissabons zum Meer und die historische Bedeutung der Seefahrerei.

Durch eine optische Täuschung entsteht der Eindruck, dass sich der Boden wie echte Wellen senkt und hebt. Eine große Herausforderung für Menschen mit Seh- und Gehbeeinträchtigungen.

Um ehrlich zu sein, auch für Leute, die gut zu Fuß sind und über exzellente Sehkraft verfügen. Und mit „Leute, die gut zu Fuß sind und über exzellente Sehkraft verfügen“ meine ich mich. Wobei ich mit meiner starken Weitsichtigkeit plus Hornhautverkrümmung wahrscheinlich aus der Kategorie „exzellente Sehkraft“ ausgeschlossen bin.

Anhand der Straßenlaternen in den älteren Stadtteilen Lissabons kann man ablesen, wie wichtig eine Gegend ist. Je größer die Zahl der Seitenflächen, umso bedeutsamer die Straße. In irrelevanten Gassen haben die Lampen vier Ecken, in den Prachtmeilen mit großen Kirchen und pompösen Gebäuden bis zu acht.

Ein Wissen, mit dem Sie von nun an Ihren Small-Talk bei langweiligen Stehempfängen aufpeppen können.

Lissabon ist wahrlich nicht arm an eindrucksvollen Gebäuden. Unter ihnen sticht die Kirche São Domingos besonders hervor, allerdings nicht äußerlich, sondern innen.

Gegründet 1241, war das Gotteshaus 1506 Ausgangspunkt des Massakers von Lissabon, ein antisemitischer Pogrom, bei dem tausende „Neue Christen“ – ein Euphemismus für zwangskonvertierte Juden – ermordet wurden. Angestachelt von einer Gruppe Dominikanermönche, die das neutestamentarische Liebe-deinen-Nächsten-wie-dich-selbst-Prinzip nicht so recht verinnerlicht hatten.

1531 beschädigte ein Erdbeben die Kirche stark, das Erdbeben-Remake von 1755 zerstörte sie fast komplett. Nach dem Motto „Aller guten Dinge sind drei“ brannten 1959 bei einem Feuer der Dachstuhl ab und der Innenraum aus.

Weil die Kirchenoberen der ständigen Wiederaufbauerei überdrüssig waren, erneuerten sie lediglich das Dach und ließen den Rest mehr oder weniger so wie er war. Daher sind bis heute an den Wänden und Säulen die Ruß- und Feuerspuren deutlich zu sehen, was Kirchenschiff und Altarraum einen ganz besonderen, leicht morbiden Charakter verleiht. Bei der Historie der Kirche durchaus passend.

Die Rua Garrett 73-75, im noblen Stadtteil Chiado, ist die Adresse der Livraria Bertrand. Diese wurde 1732 gegründet und gilt als älteste Buchhandlung der Welt. Steht so im Guinness Buch der Rekorde und das ist die maßgebliche Instanz in solchen Fragen.

Von außen lassen das mit hellblauen Azulejo-Kacheln verzierte Gebäude sowie die imposante hölzerne Eingangstür die Historie des Ortes erahnen ebenso wie der erste Raum mit seinen antik anmutenden, deckenhohen Bücherregalen. Die anderen Räumlichkeiten sind dagegen eher schnöde-spartanisch gehalten, mit funktionalen Regalen, weiß getünchten Wänden und verkaufsfördernd präsentierten Bestellern. („Rich Dad, Poor Dad“ von Robert Kiyosaki)

Das Unternehmen Bertrand betreibt mittlerweile Buchhandlungen in ganz Portugal, auf Madeira und den Azoren. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter tragen ästhetisch fragwürdige Westen in leuchtendem orange und blau, mit denen sie weniger wie Buchhändlerinnen wirken, sondern mehr wie Schülerlotsen.

Dafür kannst du dir beim Kauf dein Buch abstempeln lassen, als Beweis, dass du es in der ältesten Buchhandlung der Welt erworben hast. Auf Englisch oder auf Portugiesisch. Ich entschied mich für letzteres, damit mich die Kassiererin nicht für einen gewöhnlichen Touristen hält. Was sie selbstverständlich trotzdem tat, da ich sie auf Englisch darum bat.

Lissabon verfügt wahrscheinlich über eine der höchsten Souvenirläden-Dichte der Welt. Häufig befinden sich drei, vier Andenken-Shops direkt nebeneinander. Meistens neu eingerichtet, sauber, hell erleuchtet und alle mit dem identischen Angebot. Kühlschrankmagneten, Postkarten und Ronaldo-Devotionalien.

Was die Läden ebenfalls gemein haben: Hinter der Kasse stehen nahezu ausschließlich südasiatische Männer, die so gut wie nichts zu tun haben, weil fast niemand dort etwas kauft. (Außer der Sohn vor zwei Jahren ein Ronaldo-Trikot.)

Laut unser Stadtführerin sind die Shops eine Mischung aus Geldwäsche, Steuerhinterziehung und Menschenhandel. Deswegen solle man sie meiden. (Wir werden es dem Sohn mitteilen.)

Gebaut auf „sieben Hügel“ – ich glaube ja, es sind deutlich mehr – ist Lissabon gleichermaßen auto-, fahrrad- und fußgängerunfreundlich. Da muss man der Stadt durchaus Respekt zollen, wie sie unterschiedslos allen Verkehrsteilnehmern das Leben schwer macht.

Autofahrer müssen sich die häufig engen Straßen mit Bussen, Lieferwägen, Straßenbahnen und Tuk-Tuks teilen und immer damit rechnen, dass ihnen orientierungslose Touris unvermittelt vor den Wagen laufen.

Radfahrer quälen sich die unzähligen, unfassbar steilen Anstiege hoch – fast ausschließlich Lieferdienst-Fahrer –, auf den wenigen ebenen Strecken laufen sie Gefahr, auf einer Motorhaube zu landen, weil der Fahrzeuglenker in ein Telefonat vertieft war.

Fußgänger haben ebenfalls mit den Steigungen zu kämpfen. Oft auf sehr schmalen Bürgersteigen mit allenfalls ausreichend Platz für abgemagerte Top-Model oder ausgemergelte Ultraläufer. Dazu bietet das glatte Kopfsteinpflaster ungefähr so viel Halt wie eine frisch geeiste Schlittschuhbahn. Alternativ kannst du dir den Oberschenkelhals brechen, indem du in eine der unzähligen Stolperfallen in Form von Pflastersteinlücken trittst.

Der Straßenverkehr in Lissabon ist mit anarchisch recht präzise beschrieben. Im Minutentakt ertönen Hupgeräusche, Autos stauen sich in Kreuzungen hinein, Motorroller schlängeln sich durch die Verkehrsmassen und Fußgänger gehen bei Rot über die Straße. Dafür passieren erstaunlich wenige Unfälle.

Überraschenderweise haben Fußgängerüberwege eine echte Bedeutung im Sinne der Straßenverkehrsordnung. Nicht wie in Italien, wo sie Autofahrern als Orientierungshilfe dienen, um Passanten besser ins Visier zu nehmen. Wenn du dagegen in Lissabon einen Zebrastreifen überquerst, halten PKWs, Laster und Co. tatsächlich an. Meistens.

Beatriz warnte uns, die Restaurants rund um den Praça do Comércio und in den umliegenden Straßen seien häufig sehr touristisch. (Ein nicht wahnsinnig überraschender Hinweis.) Kellnerinnen und Kellner halten dir offensiv laminierte Speisekarten mit schlecht belichteten Fotos der Gerichte unter die Nase und du bekommst mäßige Qualität zu überteuerten Preisen.

Ein Hinweis für ein gutes, traditionelles portugiesisches Restaurant seien Bedienungen mit kurzärmeligen weißen Hemden. Noch besser seien Lokale mit Kellnern mit Bierbäuchen.

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Was den Franzosen der Rotwein, den Engländern der Tee und den Deutschen das Bier ist, ist den Portugiesen der Kaffee. Ihr Nationalgetränk, das sie mit fast schon religiöser Hingabe trinken. (Möglicherweise sind auch Ginjinha – ein Sauerkirschlikör –, Portwein, Medronho – ein Likör aus der Frucht des Erdbeerbaums – oder Bier die portugiesischen Nationalgetränke, aber das tut hier nichts zur Sache.)

Besonders beliebt ist die Bica, eine portugiesische Variante des Espresso. (Oder der Espresso ist eine italienische Variante der Bica. Das ist eine Frage der Perspektive.) Getrunken wird sie zu jeder Tages- und Nachtzeit.

Aufgrund der Kaffeeliebe der Portugiesen, musst du dich sehr anstrengen, um ein schlechtes Kaffeegetränk in Lissabon zu finden. Der portugiesische Kaffee ist dunkel, aromatisch und stark ist. So stark, dass sich nach dem ersten Schluck kurzzeitig dein Herzschlag verdoppelt.

Recht billig ist er auch. Die Bica kostet häufig nur einen Euro. Zumindest in den kleinen, urigen Café-Bars. Weil ich mich in die nicht reintraue, muss ich die teureren Varianten an den Pavillons oder in den Pastelerias (Bäckereien) nehmen.

Die Popularität des Kaffees ist eng mit der Kolonialgeschichte des Landes verknüpft. Ab dem 18. Jahrhundert ließ Portugal in seinen Kolonien Kaffee anbauen, verbunden mit Sklavenhandel, menschenfeindlichen Arbeitsbedingungen und anderen unschönen Begleiterscheinungen, die man lieber verdrängt, um den Kaffeegenuss nicht zu trüben.

Ebenfalls großer Beliebtheit erfreuen sich in Portugal Gebäck, Kuchen und Teilchen. (Falls Sie sich fragen, woran das liegt, sollen die Stichworte Zucker und Kolonien als Antwort genügen.) Schon ein Blick auf die üppigen Auslagen in den Pastelerias genügt, um dein Tageskalorienziel abzudecken. Für die nächsten drei Wochen.

Das bekannteste portugiesische Süßgebäck sind die Pastéis de Nata, kleine Blätterteigtörtchen mit einer Eigelb-Zucker-Sahne-Mehl-Füllung.

Ihren Ursprung haben sie im Hieronymuskloster in Belém, einem Stadtteil im Westen Lissabons. Dort verwendeten die Nonnen im 18. Jahrhundert ordentlich Eiweiß, um ihre Kleidung zu stärken. Übrig blieb ein Haufen Eigelb, mit dem niemand etwas anzufangen wusste. Bis ein paar Mönche die nobelpreiswürdige Idee hatten, sie als Füllung für kleine Törtchen zu verwenden. (Was für Genies!)

Bis heute werden die Pastéis dort nach dem klösterlichen Ursprungsrezept gebacken und unter der Bezeichnung Pastel de Belém verkauft. In ganz Lissabon gehen täglich dreißig- bis vierzigtausend Pastéis de Nata über die Ladentheke. Sagt zumindest ChatGPT, ist sich aber nicht ganz sicher. („Alle Pastéis de Nata in ganz Lissabon: wahrscheinlich mindestens 30.000–40.000 pro Tag (schätzungsweise).“)

Mit Pastéis de Nata zur Bica macht man auf jeden Fall nie einen Fehler. Allenfalls mit zu wenigen.


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