Post aus Portugal #16 | Cascais – Küste, Kiosk, Karussell. Oder: Ebbe im Höllenschlund

Himmelfahrt, 9.45 Uhr. Irre orientierungslos durch die untere Ebene des Bahnhofs Cais do Sodré, das Gleis suchend, an dem der Zug nach Cascais abfährt. Ich habe keine Ahnung, wo wir hinmüssen. Zu viele Gänge, zu wenige Schilder.

Ein Jugendlicher, circa 16/17, nimmt seinen In-Ear-Kopfhörer aus dem Ohr und schaut mich freundlich an. „Do you need help, sir?”

Sehr aufmerksam von ihm. Gleichzeitig klingt seine Frage, als spräche er mit einem geistig verwirrten Opi, der aus dem Altersheim ausgebüxt ist und nicht weiß, wo er sich befindet.

Ich erkläre, ich wolle nach Cascais. Den Ortsnamen nuschle ich mir zurecht, denn ich weiß nicht, an welche Stellen ein sch-Laut hingehört. Eher nicht an den Wortanfang, aber da kannst du dir im Portugiesischen nie sicher sein. Wahrscheinlich denkt der Knabe, mein Gebiss sitzt nicht richtig.

Nach kurzem Nachdenken erklärt er, ich müsste mit der Rolltreppe eins hoch, dann links mit der nächsten Rolltreppe zum Bahnsteig 2, dort würde der Zug abfahren. Dabei spricht er übertrieben laut und deutlich.

Strecke meinen Daumen in die Höhe, sage „excellent“ und ergänze noch „obrigado, muito obrigado“. Nun wirke ich endgültig wie ein geistig umnachteter Greis. Der Junge verzichtet dennoch darauf, mich zum Gleis zu bringen, damit ich nicht verloren gehe.

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10.15 Uhr, Abfahrt. Vorbei an Santos, wo wir fast gewohnt hätten, dann an Alcântara, wo wir zum Glück nur eine Woche verbrachten. (Stichwort: muffiges Hochhaus mit klapprigem Fahrstuhl)

Wir hatten extra Himmelfahrt für unseren Tagestrip gewählt. Für mich ein Feiertag, für die Portugies*innen dagegen nicht. Somit sollten weder Cascais noch der Zug überfüllt sein. Letzteres stellt sich als Trugschluss heraus: unser Waggon ist proppenvoll mit Handwerkern, Büroangestellten, Schüler*innen, Rentner*innen und Tourist*innen.

Durch die Gnade des Startbahnhof-Einstiegs haben wir Sitzplätze und genießen die Aussicht auf die Küstenlandschaft. (Wir müssen lediglich die Frau hinter uns ausblenden, die Tiktoks ohne Kopfhörer bei beachtlicher Lautstärke schaut.)

Nutze die knapp 45-minütige Fahrt zur Recherche über Cascais. Die war im Vorfeld zu kurz gekommen, weswegen ich nichts über den Ort weiß. (Außer dass er schwer auszusprechen ist.)

Der Cascais-Wikipedia-Artikel lehrt mich folgendes: Das Seebad liegt 30 Kilometer westlich von Lissabon, hat rund 214.000 Einwohner*innen – unter ihnen Ronaldo, der im Villenviertel Quinta da Marinha ein Anwesen besitzt –, die Postleitzahl lautet 2750. (Dies als kleine Service-Information, falls Sie mal einen Brief nach Cascais schicken müssen.)

Im „Wir waren Erster!“-Wettbewerb liegt Cascais in den Kategorien „Leuchtturm“ (erbaut im frühen 16. Jahrhundert) und „Offizielles Fußballspiel“ (1888) in Portugal vorne. (Merken Sie sich das, falls Günther Jauch Sie dazu mal auf dem Wer-wird-Millionär-Stuhl befragt.)

Cascais ist eine der beliebtesten Urlaubsdestinationen Portugals. Die königliche Familie hatte 1870 ihre Sommerresidenz dorthin verlegt und weil Könige damals Travelfluencer waren, wollte der Adel und das gehobene Bürgertum ebenfalls in Cascais urlauben. Bis heute gilt der Ort als Refugium der Reichen und Schönen. (Siehe Ronaldo.)

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11 Uhr, Ankunft. Der Bahnhof deutet nicht auf gehobenen Urlaubsort hin. Leidlich überdachte Gleise, ein Empfangsgebäude, das mal wieder einen Anstrich vertragen könnte, ein Mini-Supermarkt sowie einige Läden, die kein Millionärsshopping-Vibe ausstrahlen.

Die Altstadt glänzt dafür mit Wellenoptik-Pflaster, pittoresken Fassaden und exklusiven Boutiquen. Der Largo Luís de Camões hat wiederum eine Pub-Dichte, die locker mit Dublin mithalten kann.

Am Ende der Altstadt liegt die Praia da Rainha, einst Privatstrand von Königin Amélia. Am Vormittag herrscht hier noch kein Wimmelbild-Ausnahmezustand: vereinzelte Strandbesucher*innen, ein paar bunte Sonnenschirme, planschende Kinder am Meeressaum.

Theoretisch könnten wir bleiben, meine Frau hat sogar Badesachen eingepackt. Ich aber nicht. Meine Beziehung zu Meer und Strand ist kompliziert. (Zu viel Wasser, zu viel Sand.)

Außerdem ist meine Kleidung nicht beach-kompatibel. Um mich modisch von kurzbehosten und beflip-flopten Tourist*innen abzugrenzen, trage ich lange dunkle Hosen und ein schwarzes T-Shirt. Ich punkte also mit Stil, bei 29 Grad stellt sich allerdings die Frage, ob meine Garderobenwahl die bestmögliche war. (Ich tendiere zu einem Nein.)

Wir nehmen den Küstenweg Richtung Boca do Inferno. Laut meiner Schnellrecherche ein atemberaubendes Naturschauspiel und Must-see.

Wir passieren die monströse Cidadela de Cascais – recherchieren Sie das bitte selbst, dafür hat die Anreise nicht gereicht – und den luxuriösen Yachthafen mit seinen 600 Liegeplätzen – damit die Reichen und Schönen standesgemäß anreisen können –, am quietschgelben Museu Condes de Castro Guimarães – auch hier ist Ihre informative Eigeninitiative gefragt – legen wir eine kurze Rast ein.

Unser Proviant: zwei Flaschen Wasser, acht Kekse. Zehn Minuten später: eine Flasche Wasser, keine Kekse.

Wir ziehen weiter. Links von uns erstreckt sich der Atlantik. Nur Meer, Himmel und Horizont. Da kommst du dir winzig und unbedeutend vor und deine Sorgen werden nichtig und klein. (Um mich textlich bei Reinhard Mey zu bedienen.)

Wobei ich gar nicht so viele Sorgen und Nöte habe. Außer Hitze, schwarze Kleidung und keine Kekse.

Die touristische Infrastruktur des Boca do Inferno ist mit Imbissständen, Souvenirläden und Cafés bestens aufgestellt. Was uns Gelegenheit gibt, an einem Kiosk Eis zu holen. Schließlich sind wir Tagesurlauber und im Urlaub kannst du dir mal was gönnen, nicht auf jeden Euro schauen, verschwenderisch sein. (Mein innerer Protestant bekommt Schnappatmung.)

Nach intensivem Studium der Angebotskarte entscheiden wir uns für ein neuartiges Magnum mit Schwarze-Johannisbeere-Himbeer-Eis, Sauerkirschsauce und fruchtigen Zuckerstückchen im Schokoüberzug. (Nun schnappatmet der innere Asket.)

Souverän trete ich an den Kiosk-Tresen. „Olá, dois Magnum Nova, por favor.“ Begeistert von meiner portugiesischen Bestellung schaue ich stolz wie ein Hündchen, das gerade einen Stock apportiert hat und schwanzwedelnd darauf wartet, das Köpfchen getätschelt zu bekommen.

Nichts dergleichen passiert. Stattdessen schaut mich die junge Verkäuferin erwartungsvoll an. Da ich nichts weiter sage, erklärt sie auf Englisch, nova hieße neu, und fragt, welches Magnum ich denn wolle.

Das rechte, erkläre ich. Weil das gewünschte Eis auf der Karte rechts abgebildet war. Die Frau versteht meine krude Beschreibung trotzdem und reicht mir die beiden Magnum. Kleinlaut wie ein Hündchen, das gerade auf den Wohnzimmereteppich gepinkelt hat, trotte ich von dannen. (Das Eis schmeckt dennoch.)

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Wir steigen die Treppe hinab zur Boca do Inferno. Der so genannte Höllenschlund ist eine Schlucht im Atlantik, bei Flut im Winter peitschen die Wellen in die Felsspalte und stöhnen hörbar. Sagt das Internet.

Heute ist Ebbe und Sommer. Da peitscht nichts und gestöhnt wird ebenso wenig. Das türkisblaues Meer schwappt sanft gegen die Küste, der Himmel präsentiert tiefblau und wolkenlos. Kein Höllenschlund, sondern Postkarten-Idylle.

Den Aussichtspunkt müssen wir uns mit einer Reisegruppe von Japaner*innen teilen. Die gelten gemeinhin als höflich, zurückhaltend und zuvorkommend. An der Boca do Inferno gilt das nicht. Hier sind sie laut, rücksichtslos und rempeln und drängeln sich zu den besten Plätzen vor, ohne sich zu scheren, ob sie die Selfies anderer Menschen photobomben.

Wer sich den perfekten Spot gesichert hat, nimmt sich alle Zeit der Welt, um den Urlaubs-Schnappschuss zu inszenieren. Posen werden eingenommen, Bäuche eingezogen, Schokoladenseiten präsentiert und Lippen zu Kussmündern geschürzt. Wenn du auf „Europa in sieben Tagen“-Tour bist, willst du dich perfekt in Szene setzen.

Wir kommen unseren touristischen Dokumentationspflichten ebenfalls nach – ohne duckfacende Japaner*innen im Hintergrund –, dann machen wir uns auf den Rückweg.

Zurück in Cascais kommen wir am Jardim Visconte da Luz vorbei. Schatten, Skulpturen, Blumenbeete und Bänke laden zum Verweilen ein.

Das tun wir auch. Ein Tagesausflug besteht nicht nur aus Rumlaufen, Anschauen und Bestaunen, sondern auch aus Ausruhen. Vor allem wenn du geschwächt bist, weil du keinen Proviant mehr hast, und dein innerer Sparfuchs dir verbietet, dich in einem der überteuerten Touristen-Lokalen zu stärken.

Am Rand steht ein nostalgisches Karussell: Rot-weißes Zeltdach, warm leuchtende Lichterkette, glänzend lackierte Tiere, Jahrmarktorgel-Musik im Dreivierteltakt – eine Spieluhr im Real-Life-Format. Kinder drehen auf Pferden, Giraffen, Elefanten und anderem Getier ihre Runden, von den Eltern digital für die Ewigkeit festgehalten.

In einer Muschel wippen eine Mutter und ihr Sohn vor und zurück. Nicht weiter bemerkenswert, wäre die Mutter nicht um die 70 und der Sohn Mitte 30. Großartig. Not all heroes wear capes.

16.30 Uhr. Zurück zum Bahnhof. Der hat zum Glück nur überschaubare fünf Gleise. Da brauche ich keinen Jugendlichen, der mir den Weg weist.


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3 Kommentare zu “Post aus Portugal #16 | Cascais – Küste, Kiosk, Karussell. Oder: Ebbe im Höllenschlund

Erwähnungen

  • Franziska
  • ❤️Christian Hanne
  • Mirko Quaas

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