Der Dominostein – oder wie die sächsische Traditionsbäckerei Dr. Quendt poetisch schreibt: „Der unvergleichliche Geschmack von Weihnachten, liebevoll vereint in einem mundgerechten Stück!“
Das muss jemand verfasst haben, der noch nie einen Dominostein gegessen hat oder zu viel am Bittermandel-Aroma schnüffelt. Wahrscheinlich beides.
Dominosteine sind aus der Weihnachtszeit nicht wegzudenken. Was kein Prädikat ist, sondern eine fatalistische Feststellung.
Die Kalorien-Betonwürfel gelten nicht umsonst als Voldemort unter den Lebkuchenspezialitäten. Sie sind der Lebkuchen, dessen Namen nicht genannt werden darf, und wie der dunkle Zauberer verbreiten sie Angst und Schrecken unter den Menschen.
Zu Dominosteinen gibt es nur zwei Meinungen: Entweder man findet sie ekelerregend oder man hasst sie.

Schöpfer der Dominosteine ist der Dresdner Chocolatier Herbert Wendler. Der erfand sie in den 1930er Jahren als günstige Alternative zur Praline. Im Zweiten Weltkrieg erfreuten sie sich besonders großer Beliebtheit. Entgegen landläufiger Meinung stirbt im Krieg nicht die Wahrheit zuerst, sondern der gute Geschmack.
Herbie Wendler vermarktete seine Dominosteine unter dem Namen „Notpraline“. Was den Geschmack ziemlich gut trifft. Noch passender wäre die Bezeichnung „Notdurftpraline“.
Der klassische Dominostein kommt im Schichtsystem daher:
- Ganz unten ein Gewürzbrot vom letzten Jahr, das damals schon vom Vorjahr war.
- In der Mitte eine gallertartige Masse, die bei einem Zwischenfall in einem Atomkraftwerk entstanden ist und dann von jemandem mit Fruchtaroma versetzt wurde, der noch nie eine Frucht gegessen hat.
- Oben dann Marzipan, das sein Mindesthaltbarkeitsdatum vor vielen Jahren überschritten hat, maximal süß, klebrig und vollkommen ungenießbar ist. Wird in der Produktion gespart – und davon ist bei Dominosteinen auszugehen –, kommt stattdessen Persipan zum Einsatz, die billige und noch übler schmeckende Schwester des Marzipans.
- Zum Schluss wird das Ganze mit einer Schokolade übergossen, die Sarotti wegen Qualitätsmängeln aussortiert hat. Um den Geschmack zu verbessern, ist sie mit Altöl gestreckt.
Das dreistöckige Geschmacks-Jenga aus der Hölle ist kein Genussmittel, sondern eine kulinarische Mutprobe. Der Lebkuchen ruft: „Ho ho ho! Ich bin Weihnachten, aber bei Shein bestellt”, das Gelee jammert, es wäre lieber ein Gummibärchen geworden, das Marzipan grölt: „Welcome to Jackass!“ Der Schokolade ist alles egal, denn wer als Dominostein-Überzug endet, hat keine Ambitionen mehr.
Das Lebkuchen-Gelee-Marzipan-Trio sieht harmlos aus, aber nur bis du es in den Mund nimmst. Dort löst es eine Geschmacksexplosion aus, und zwar von der unguten Sorte. Eher wie eine Detonation einer unheilvollen Melange aus billigem Zucker, ranzigem Fett und einem Aroma, das du nicht ganz zuordnen kannst, und das ist auch besser so.
Erstaunlich, dass es noch keine Jochen-Schweizer-Abenteuer-Gutscheine „Dominosteine essen“ gibt. Wahrscheinlich ist das Haftungsrisiko zu groß.
Der Geschmacksapokalypse zum Trotz wird der Weihnachtswürfel des Grauens Jahr für Jahr in Massen produziert, als gäbe es keinen Morgen mehr. Allein beim Weltmarktführer Lambertz laufen jährlich rund 800 Millionen Dominosteine vom Band. Aneinandergereiht ergäben diese eine Länge von 18.400 Kilometern. Das heißt, man könnte mit den 800 Millionen Dominosteinen eine Strecke von Berlin bis ins neuseeländische Wellington legen. Was ohne Zweifel eine wesentlich sinnvollere Verwendung wäre, als sie zu essen.
Um mit einer versöhnlichen Note zu enden: Am Dominostein ist nicht alles schlecht. Beispielsweise ist die mundgerechte Größe lobend hervorzuheben. So kannst du ihn mit einem Happs runterschlucken und mit etwas Glück kommt er unten unverdaut wieder raus.
###
Nachdem ich nun mehr als 500 Worte lang abgerantet habe, wie ekelhaft und widerwärtig die schokolierte Gewürzbrot-Dreifaltigkeit schmeckt, muss ich ein Geständnis ablegen: Ich liebe Dominosteine. Sie sind mein All-time-Favorite unter den Weihnachtssüßigkeiten.
Der würzige Lebkuchen! Das fruchtige Gelee! Das süßliche Marzipan! Die knackige Schokolade! Himmlisch! Lediglich soziale Konventionen, medizinische Erwägungen und mein mit zunehmendem Alter verlangsamter Stoffwechsel halten mich davon ab, mich in der Weihnachtszeit ausschließlich von Dominosteinen zu ernähren.
Wenn ich dann ab und an genüsslich in einen Dominostein beiße, denke ich: „Das ist der unvergleichliche Geschmack von Weihnachten, liebevoll vereint in einem mundgerechten Stück.“
Anschließend schnüffle ich ein wenig Bittermandel-Aroma.
Das perfekte Schrottwichtel-Geschenk
Sie sind noch auf der Suche nach einem Geschenk für Weihnachten? Oder fürs Schrottwichteln? Da könnte eines meiner Bücher genau das Richtige sein. Schreiben Sie mir einfach eine Mail.
Die Bücher kosten zwischen 10 und 12 Euro (plus Versandkosten). Gerne versehe ich das Buch auch mit einer persönlichen Widmung. (Das verhindert, dass es weiterverschenkt werden kann.)

Christian Hanne, Jahrgang 1975, hat als Kind zu viel Ephraim Kishon gelesen und zu viel “Nackte Kanone” geschaut. Mit seiner Frau lebt er in Berlin-Moabit, die Kinder stellen ihre Füße nur noch virtuell unter den elterlichen Tisch. Kulinarisch pflegt er eine obsessive Leidenschaft für Käsekuchen. Sogar mit Rosinen. Ansonsten ist er mental einigermaßen stabil.
Sein neues Buch “Wenn ich groß bin, werde ich Gott” ist im November erschienen. Ebenfalls mehr als zu empfehlen sind “Hilfe, ich werde Papa! Überlebenstipps für werdende Väter”, “Ein Vater greift zur Flasche. Sagenhaftes aus der Elternzeit” sowie “Wenn’s ein Junge wird, nennen wir ihn Judith”*. (*Affiliate-Links)

