Als würden Geschenkestress, Plätzchen-Backmarathon und drei Weihnachtsfeiern – mit Wichteln – nicht ausreichen, packst du dir im Dezember noch einen Punkt auf die Wie-bekomme-ich-im-Advent-garantiert-einen-Burnout-Liste: Weihnachtspost. Persönlich, liebevoll, handschriftlich. Also alles, was du seit dem Abitur erfolgreich vermieden hast.
Früher war das einfach: Deine Eltern setzten sich am vierten Advent an den Küchentisch, holten den guten Füller raus und schrieben 25-mal: „Frohe Weihnachten und ein gesegnetes neues Jahr. Familie Lohse.“ Fertig war die Weihnachtskarten-Laube.
Heute reicht das nicht mehr: Heute musst du zeigen, dass du emotional reflektiert, kreativ UND leicht ironisch bist – mit sympathischem Hang zur Besinnlichkeit. Viel Spaß.

Das Projekt startet Ende November. Mit dem schicksalhaften Satz: „Dieses Jahr wollen wir mal wieder Weihnachtspost schreiben. So richtig analog.“
Übersetzt heißt das: „Wir starten ein mittelschweres Logistik-Großprojekt mit Materialbeschaffung, Datenerhebung und Frustrationsmanagement.“
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Schritt 1: Weihnachtskarten kaufen. Aber nicht vom Drogeriemarkt-Grabbeltisch – du hast ja Stil. Nach einer Stunde im Papierwarenladen weißt du: Es gibt genau drei Arten von Weihnachtskartendesigns:
- Kitschig-religiös: Goldene Engel, leuchtende Krippen, viel Glitzer. Definitiv zu viel Jesus für Leute, die sonst nur True Crime hören.
- Ironie aus der Hölle: Rentiere mit Sonnenbrille, Weihnachtsmann auf dem Klo, Sprüche wie „Oh du fröhliche Kalorienzeit“. Du lachst kurz, schämst dich direkt danach und legst sie wieder weg.
- Minimalistisch: Kerze auf braunem Recycling-Karton, Schriftzug „Joy“. Sieht toll aus – für Menschen, die ihre ästhetische Seele an Pinterest verkauft haben.
Du willst etwas „Schlichtes, aber Schönes“ und greifst am Ende zu einem Zehnerpack Standardkarten, auf denen eine Kerze, ein Tannenzweig und maximal generische Schriftzüge stehen: „Frohe Weihnachten und ein gutes neues Jahr.“
Der emotionale Aufwand, den du später ins Formulieren stecken musst, steigt mit jeder weiteren Karte, die du kaufst.
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Schritt 2: Briefmarken besorgen. Du gehst zur nächsten Späti-Getränkemarkt-Vape-Zubehör-Postfiliale, die Schlange reicht dreimal um den Block. Du bedauerst, dass du den Raclette-Grill nicht mitgenommen hast, weil du hier bis Heiligabend stehen wirst.
Nach fünf Stunden stehst du endlich im Laden. Dort herrscht Chaos pur:
- Eine Frau will acht mit Tesafilm zugeklebte Schuhkartons verschicken.
- Ein Kasache, der kein Deutsch spricht, versucht, ein Einschreiben mit Rückschein nach Almaty aufzugeben.
- Ein schwerhöriger Rentner lässt sich die Philatelie-Neuheiten der Jahre 2020-2025 vorstellen.
- Im Hintergrund werfen die Kiosk-Mitarbeiter Pakete durch die Gegend. („Vorsicht Glas!“)
Als du an der Reihe bist, sind alle Marken mit Weihnachtsmotiven ausverkauft. Stattdessen nimmst du die Sonderbriefmarke „200 Jahre Wurst- und Fleischhandwerk“.
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Schritt 3: Adress-Recherche. Die Hälfte der Adressen hast du nicht, ein Drittel sind irgendwo auf einem alten Handy abgespeichert, das seit 2019 in der „Muss zum Elektroschrott gebracht werden“-Kiste wohnt, und bei dem Rest weißt du nicht, ob die Leute noch leben, geschieden sind oder wie ihre Kinder heißen.
Schließlich gibst du entnervt auf und reduzierst deine Liste auf:
- Eltern
- Schwiegereltern
- eine Tante
- die eine Freundin, die immer schreibt, und bei der du seit sieben Jahren ein schlechtes Gewissen hast
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Schritt 4: Karten schreiben – per Hand. Nach der zweiten Karte merkst du, dass dein Handgelenk offenbar nur noch fürs Handyhalten trainiert ist. Deine Schrift sieht aus wie von einem betrunkenen Arzt im Nacht-Notdienst.
Außerdem schreibst du entweder zu groß – nach zwei Sätzen ist kein Platz mehr – oder zu klein – die Karte ist erst zu fünf Prozent gefüllt, du hast aber schon alles gesagt.
Beim Inhalt fallen dir nur Standardformulierungsideen deiner inneren Oma ein:
- „Frohe und gesegnete Weihnachten…“
- „Besinnliche Stunden im Kreise der Lieben…“
- „Ein gesundes neues Jahr…“
Dein innerer Zyniker ergänzt:
- „…und dass du deine Schwiegereltern überlebst“
- „…und dass der Familienfrieden auch nach Raclette, Gans und Fondue noch existiert“
- „…und dass dein Dispo die Januar-Abrechnung aushält“
Inhaltlich ist die Weihnachtspost ein Balanceakt zwischen zu ehrlich – unangenehm – und zu glatt – seelenlos.
Du willst nicht schreiben: „Dieses Jahr war ein emotionaler Autounfall, aber hey, hier ist eine Karte mit Glitzerstern.“
Aber auch nicht: „Es war ein wunderbares Jahr voller Chancen und Wachstum“, wenn du ganz genau weißt, dass du 70 % der Zeit in Jogginghose auf dem Sofa saßt und deine Midlife Crisis gepflegt hast.
Also landest du bei „ein bewegtes Jahr“, „es gab Höhen und Tiefen“, „wir blicken dankbar zurück“ – Worthülsen, die nicht nach persönlichem Weihnachtsgruß, sondern nach irgendwas zwischen Gemeindebrief und Sparkassenmagazin klingen.
Am Ende wird es eine Mischung aus Copy-Paste-Floskel, halbironischem Zusatz und einem „Liebe Grüße“ in einer Schrift, die zwischen „Zweitklässler“ und „Serienmörder-Manifest“ schwankt.
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Einen eigenen Abschnitt verdient die Königsdisziplin der passiv-aggressiven Kommunikation: der Jahresrückblicksbrief. Den bekommst du von Leuten, bei denen du dich fragst, warum du nicht schon vor Jahren den Kontakt abgebrochen hast.
Der Brief beginnt meistens harmlos: „Es war ein bewegendes Jahr …“, dann kommt die Hitliste der Familienleistungen:
- Tim hat sein Auslandssemester in Harvard/Paris/irgendeinem fancy Ort erfolgreich abgeschlossen.
- Lea wurde Jahrgangsbeste im Abi und spielt nebenher noch Geige im Jugendorchester.
- Das Familien-Meerschweinchen hat Yoga gelernt, alle sind dankbarer geworden, niemand scrollt mehr sinnlos auf dem Handy.
- „Wir sind einfach nur erfüllt und demütig.“
Was NICHT im Rundbrief steht:
- Panikattacken
- Vierstellige Steuerrückforderung vom Finanzamt
- drei Monate Kita-Magen-Darm
Du liest den Brief, guckst in dein eigenes Leben und denkst: „Wir haben dieses Jahr geschafft, nicht ständig Tiefkühl-Pizza zu essen. Reicht.“
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Am 24. Dezember, um 15:37, laufen dann die digitalen Kanäle heiß:
- Du bekommst eine Broadcast-WhatsApp: „Frohes Fest euch allen 🎄✨“ – an 125 Kontakte von irgendjemandem, mit dem du seit 2013 nicht mehr gesprochen hast.
- Über Telegram schickt dir dein aluhuttragender Schulfreund Jochen eine Nachricht. (Betreff: „Weihnachten ist eine Erfindung der Echsenmenschen“)
- Die ältere Verwandtschaft bombardiert dich mit animierten GIFs mit tanzenden Elfen, die aussehen, als wären sie seit 2006 auf Ketamin hängengeblieben.
- Nicht zu vergessen, die E-Mails mit PowerPoint-artigen Weihnachtshintergründen und Schriften, bei denen selbst „Comic Sans“ die Nase rümpft.
- Schließlich noch die unvermeidlichen Voice-Nachrichten: „Ich wollte dir GANZ PERSÖNLICH frohe Weihnachten wünschen…“ – viereinhalb Minuten. Du hörst dir 18 Sekunden davon an.
Wenn du Glück hast, wurde dein Name bei den digitalen copy & paste-Grüßen ausgetauscht und die Nachricht beginnt nicht mit „Lieber Manfred“.
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Während du dich durch die Besinnlichkeits-DOS-Attacke kämpfst, fällt dein Blick auf die Anrichte im Flur. Dort liegt ein Stapel Briefumschläge. Adressiert und mit Fleisch-und-Wurstwaren-Marken beklebt. Den du seit vier Tagen zum Briefkasten bringen wolltest.
Gut, kommen die Karten erst im neuen Jahr an. Ist ja auch schön, wenn dir im Januar jemand ein fröhliches Weihnachtsfest wünscht. In der krakeligen Handschrift eines grobmotorisch unterbegabten Zweitklässlers.
Adventskalender 2025
- Tag 01: Last Christmas
- Tag 02: Plätzchen
- Tag 03: Jesus & Maria & Josef
- Tag 04: Dominostein
- Tag 05: Weihnachtsmarkt
- Tag 06: Nikolaus
- Tag 07: Adventskalender
- Tag 08: Geschenke
- Tag 09: Essen
- Tag 10: Caspar & Melchior & Balthasar
- Tag 11: Weihnachtsfeier
- Tag 12: Zitronat und Orangeat
- Tag 13: Der kleine Trommler
- Tag 14: Elf on the fucking shelf
- Tag 15: Mandarinen und Nüsse
- Tag 16: Hallmark Movies
- Tag 17: Wichteln
- Tag 18: Lichterketten
- Tag 19: Gabriel
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Christian Hanne, Jahrgang 1975, hat als Kind zu viel Ephraim Kishon gelesen und zu viel “Nackte Kanone” geschaut. Mit seiner Frau lebt er in Berlin-Moabit, die Kinder stellen ihre Füße nur noch virtuell unter den elterlichen Tisch. Kulinarisch pflegt er eine obsessive Leidenschaft für Käsekuchen. Sogar mit Rosinen. Ansonsten ist er mental einigermaßen stabil.
Sein neues Buch “Wenn ich groß bin, werde ich Gott” ist im November erschienen. Ebenfalls mehr als zu empfehlen sind “Hilfe, ich werde Papa! Überlebenstipps für werdende Väter”, “Ein Vater greift zur Flasche. Sagenhaftes aus der Elternzeit” sowie “Wenn’s ein Junge wird, nennen wir ihn Judith”*. (*Affiliate-Links)

