Der Weihnachtsbaum – heidnisches Traditionssymbol, das zur Weihnachtszeit aus keiner Kirche wegzudenken ist. Und nicht aus Shopping-Malls, Parfümerien oder Autohäusern. Drei Wochen lang ist er der Star im Wohnzimmer – anschließend landet er mit Lichterketten-Trauma auf der Straße.

Bevor die erste Nadel auf deinem Teppich landet, beginnt die jährliche Diskussion: echter Baum oder Plastiktanne? Für den Echtbaum spricht: Tradition, guter Geruch, Naturprodukt. Die Plastikvariante punktet mit: nadelt nicht, wiederverwendbar, der Regenwald wird gerettet – irgendwie.
In der Realität wurde der echte Baum mit Liebe aufgezogen, dann mit der Kettensäge massakriert und ab dem 27.12. verliert er bei jeder Berührung 300 Nadeln. Der Plastikbaum wiederum wurde in Asien aus Erdöl gebacken, riecht nach Keller und sieht aus wie ein schlecht gelaunter grüner Besen.
Weil sich jedes Jahr die Echtbaum-Fraktion durchsetzt, stehst du am 3. Adventswochenende – zusammen mit halb Deutschland – bibbernd auf irgendeinem Parkplatz: vor dem Baumarkt, vor dem Supermarkt, vor dem Gartencenter, auf einem matschigen Acker mit dem charmanten Namen „Weihnachtsbaum-Erlebniswelt“. Überall Tannen, überall Menschen, überall gestresste Paare in Winterjacken.
Folgende Baumtypen stehen zur Auswahl:
- Nordmanntanne – der SUV unter den Weihnachtsbäumen: groß, breit, teuer, hält lange.
- Blaufichte – sticht und pikst wie ein Igel mit Nietenarmband, riecht aber gut.
- Fichte – nadelt schon beim Anschauen, dafür preislich „für die breite Masse“.
- Edeltanne – für Leute, die Sätze sagen wie: „Wir investieren in Qualität.“
Ihr dreht Tannen im Kreis, prüft Symmetrie, Dichte und Preis und sagt Sätze wie: „Der ist oben so kahl.“, „Der hängt links.“ oder „Der ist schön, aber nicht für DEN Preis.“
Der Verkäufer, kälteresistent und emotional abgestumpft, dreht seit morgens um acht Bäume aus und ein, als wären es übergewichtige Tanzpartner. Wenn du zum fünften Mal fragst: „Haben Sie den auch noch etwas größer/gerader/günstiger?“, akzeptiert er das äußerlich gleichmütig. Innerlich lebt er Gewaltphantasien aus, in denen du die Hauptrolle spielst.
Nach anderthalb Stunden nehmt ihr genau den Baum, den ihr nach zwei Minuten schon in der Hand hattet. Nur mit schlechterer Laune.
Zuhause dann der Endgegner: der Ständer. Entweder ein antikes Metallungetüm mit rostigen Schrauben oder ein moderner „Ein-Seil-Automatik-Familienständer“ mit Wasserbehälter, Fußpedal und Bedienungsanleitung in fünf Sprachen. Beide haben etwas gemeinsam: Sie funktionieren nur theoretisch.
Das jährliche Baumaufstell-Ritual bringt auch die harmonischsten Paare an den Rand einer existenziellen Beziehungskrise – und viele darüber hinaus.
- Jemand ruft: „Stell den Baum schon mal eben rein, das geht schnell.“
- Jemand liegt 20 Minuten fluchend auf dem Boden.
- Jemand anders hält den Baum und wird angeschrien: „GERADE! HALT IHN DOCH GERADE!“
- Der Wasserbehälter im Ständer wird gefüllt und das halbe Wohnzimmer geflutet.
- Am Ende steht der Baum – minimal schief, wie du nach dem letzten Weihnachtsmarktbesuch. („Das sieht man später mit Kugeln nicht.“)
- Das Schmücken wird auf später verschoben – zu viele negative Schwingungen im Raum.
Von außen betrachtet ist das Baumaufstellen eine Mischung aus Paartherapie unter Extrembedingungen und ‚7 vs. Wild‘ mit göttlicher Geduldsprüfung.“ (Scheidungsanwälten gefällt das.)
Dann kommt der schönste Teil: Das Schmücken. Sagen Menschen, die noch nie in ihrem Leben einen Baum geschmückt haben.
Du öffnest die Dekokiste und blickst auf Jahrzehnte dekorativer Eskalation: Glaskugeln in allen Größen, Holzsternchen aus deiner Öko-Phase, Strohsterne mit emotionaler Bedeutung („Die hab‘ ich in der dritten Klasse gemacht!“), ein Lametta-Rest, eine einsame goldene Trompete, eine Spitze, die nie richtig hält.
Die Lichterkette ist entweder zu kurz – der Baum ist unten Las Vegas, oben dunkel wie die Nacht – oder zu lang – dreimal um den Baum, einmal um die Katze.
Zunächst müsst ihr euch auf die optische Ausgestaltung einigen:
- „Rot-Gold-Klassiker“ – schwankt zwischen „zeitlos schön“ und „Weihnachtsdeko im 90er-Jahre-Warenhaus“.
- „Skandinavisch-minimalistisch“ – ausschließlich naturfarbene Kugeln, unbehandelte Holzanhänger und maximal eine Lichterkette, dezent wie Sternenstaub, alles so reduziert, dass du dich fragst, ob der Baum schon geschmückt ist.
- „Kinder dürfen alles“ – Ergebnis: Von Disney-Kugeln über Glitzerengel bis zu einer selbstgebastelten Klopapierrolle mit Gesicht hängt alles drin. Ästhetisch schwierig, aber irgendwie richtig.
In der Familie sind die Aufgaben strikt verteilt: Einer wickelt die Lichterkette in den Baum (die Person mit der höchsten Frustrationstoleranz), einer hängt Kugeln und Schmuck auf, einer kritisiert.
Beim Baumschmücken gelten Grundregeln, die Naturgesetzen gleichen:
- Kinder hängen ALLES auf Augenhöhe eines Siebenjährigen, darunter ist Wüste, darüber Niemandsland.
- Die schönsten Kugeln landen auf der Rückseite („Da war noch ein Loch“).
- Die Katze hält das Ganze für ein interaktives Bewegungsangebot.
Heiligabend: Der Baum hat seinen großen Auftritt. Es ist dunkel, die Kerzen oder LED-Lichter leuchten, irgendjemand flüstert „Boah, wie schön“ und alle tun so, als hätte man nicht drei Tage lang geschrien, diskutiert und Nadeln gesaugt, um an diesen Punkt zu kommen.
Die Bescherung ist so etwas wie der Elchtest für den Weihnachtsbaum. Ein Kind liegt halb im Geäst, um „nur kurz“ nach hinten zu greifen – die halbe untere Baumhälfte wackelt. Beim Geschenkefoto stößt jemand den Baum leicht an – 17 Kugeln erklingen gleichzeitig wie ein kaputtes Glockenspiel. Einer korrigiert die Lichterkette – drei Kugeln gehen zu Bruch. Und die Katze frisst Lametta und plant für später einen Tierarztbesuch.
Anschließend sammeln sich unterm Baum Geschenkpapier, Kartons, Plastikreste, Bedienungsanleitungen, einsame Socken, ein unidentifizierbarer Playmobil-Helm, zwei Dominosteine und ein halbes Stück Käse, das frühestens im Januar wiedergefunden wird.
Auf den Fotos sieht alles nach „magischem Familienmoment“ aus. In echt schwitzt du wie ein Puma, weil vierzehn Menschen, ein Baum und ein Raclette-Grill dein Wohnzimmer in eine finnische Sauna verwandeln.
Im Januar kommt der heikle Zeitpunkt des Abschmückens. Entweder zu früh (2. Januar): „Wie herzlos, Weihnachten ist doch gerade erst vorbei!“ Oder zu spät (31. Januar): „Habt ihr weihnachtliche Verlustängste?“ Vom Baum ist nur noch ein trockenes Astgerippe übrig. (Waldbrand-Gefahrenstufe 4)
Beim Abschmücken hilft zuerst „die ganze Familie“, fünf Minuten später bist du allein im Wohnzimmer. Fluchend wickelst du die Lichterkette ab, die plötzlich dreimal so lang ist wie beim Aufhängen. Und überall Nadeln. Im Teppich, in den Socken, im Bett. Auch noch in vier Monaten.
Schließlich schleppst du den halbnackten Baum – traditionell – im schlechtesten Outfit des Jahres durchs Treppenhaus. Jogginghose, altes T-Shirt, Hausschuhe. Hinter dir eine Spur wie nach einem Nadel-Massaker. Draußen liegen schon die anderen Ex-Weihnachtsbäume, nebeneinander wie eine Selbsthilfegruppe für Ausgebrannte.
„Hallo, ich bin Nordi. Ich bin Weihnachtskugeln süchtig.“
„Hallo Nordi.“
Der Weihnachtsbaum ist gleichzeitig das schönste und das absurdeste Ritual des Jahres: Du holst dir ein großes Stück Wald ins Wohnzimmer, schmückst es, streitest dich bei der Aufstellung, schiebst Geschenke drunter, postest ein Foto (#xmasvibes) und schmeißt das Ganze drei Wochen später nackt auf die Straße.
Und trotzdem: Wenn der Moment kommt, in dem im halbdunklen Wohnzimmer die Lichter am Baum angehen, alle kurz still sind, das Kind „Boah“ sagt und irgendjemand ganz leise „O Tannenbaum“ summt – dann weißt du, warum du dir den gesamten Nadel- und Lichterkettenwahnsinn jedes Jahr wieder antust.
Auch wenn du beim Abtakeln schwörst: „Nächstes Jahr schmück ich nur ’ne Zimmerpflanze.“
Adventskalender 2025
- Tag 01: Last Christmas
- Tag 02: Plätzchen
- Tag 03: Jesus & Maria & Josef
- Tag 04: Dominostein
- Tag 05: Weihnachtsmarkt
- Tag 06: Nikolaus
- Tag 07: Adventskalender
- Tag 08: Geschenke
- Tag 09: Essen
- Tag 10: Caspar & Melchior & Balthasar
- Tag 11: Weihnachtsfeier
- Tag 12: Zitronat und Orangeat
- Tag 13: Der kleine Trommler
- Tag 14: Elf on the fucking shelf
- Tag 15: Mandarinen und Nüsse
- Tag 16: Hallmark Movies
- Tag 17: Wichteln
- Tag 18: Lichterketten
- Tag 19: Gabriel
- Tag 20: Weihnachtspost
- Tag 21: Krippenspiel
- Tag 22: Weihnachtslieder
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Christian Hanne, Jahrgang 1975, hat als Kind zu viel Ephraim Kishon gelesen und zu viel “Nackte Kanone” geschaut. Mit seiner Frau lebt er in Berlin-Moabit, die Kinder stellen ihre Füße nur noch virtuell unter den elterlichen Tisch. Kulinarisch pflegt er eine obsessive Leidenschaft für Käsekuchen. Sogar mit Rosinen. Ansonsten ist er mental einigermaßen stabil.
Sein neues Buch “Wenn ich groß bin, werde ich Gott” ist im November erschienen. Ebenfalls mehr als zu empfehlen sind “Hilfe, ich werde Papa! Überlebenstipps für werdende Väter”, “Ein Vater greift zur Flasche. Sagenhaftes aus der Elternzeit” sowie “Wenn’s ein Junge wird, nennen wir ihn Judith”*. (*Affiliate-Links)

