Der Schlager-Marathon (2). Oder: Die Karawane zieht weiter

Den ersten Teil des Schlager-Marathons finden Sie hier.

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Um 9.30 Uhr ist es endlich soweit: Das Rennen geht auch für unseren Startblock los. Zusammen mit hunderten, wenn nicht gar tausenden, anderen Läuferinnen und Läufern setze ich mich in Bewegung. Meine Playlist ist gefüllt mit Schlagermusik und NDW-Hits, denn diese erwiesen sich in der Vorbereitung als mein idealer Laufbegleiter. Entsprechend schickt mich Udo Jürgens mit einem getragenen „Heute beginnt der Rest deines Lebens“ auf die Strecke und ich fürchte mich ein wenig vor den vor mir liegenden 42 Kilometern. In dreieinhalb Stunden will ich den Marathon schaffen und habe das Vorhaben in einer Mischung aus Pathos und Tschakka-Selbstmotivation „Projekt 210“ genannt. Um den Druck zusätzlich zu erhöhen, habe ich ganz vielen Freunden und Bekannten davon erzählt. Vielleicht wäre „Projekt Volltrottel“ ein passenderer Name gewesen.

Der Platz auf der Laufstrecke ist ziemlich begrenzt. Die erste Herausforderung des Marathons besteht anscheinend darin, keine fremden Ellenbogen in die Rippen zu bekommen und gleichzeitig niemandem von hinten in die Haxen zu treten. Am besten reiht man sich hinter Teilnehmern ein, die das gleiche Tempo laufen wie man selbst. Die Höhner begleiten mich musikalisch bei diesem Versuch mit „Die Karawane zieht weiter, dä Sultan hätt Doosch!“

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„Doosch“ ist allerdings kein gutes Stichwort, denn ich verspüre immer noch den starken Drang, Wasser zu lassen. Dabei bin ich noch nicht einmal 1.000 Meter gelaufen. Nun stehe ich vor dem Dilemma, entweder meine quengelnde Blase zu ignorieren, was aber unweigerlich dazu führen wird, dass ich irgendwann nur noch mit zusammengekniffenen Beinen weiterlaufen kann und immer langsamer werde, oder mich in die Büsche zu schlagen und gleich am Anfang wertvolle Zeit zu verlieren, die ich irgendwo wieder aufholen muss. Es ist die Wahl zwischen Pest und Cholera, zwischen Kuhdung und Pferdeäpfeln, zwischen Tripper und Syphilis.

Nach kurzer Bedenkzeit, in der mir die Höhner immer wieder das Wort „Doosch“ in die Ohrmuschel plärren, entscheide ich mich schließlich für Cholera, Pferdeäpfel und Syphilis und mache einen kurzen Abstecher in den angrenzenden Tiergarten. Dort entleere ich meine Blase und trage mit schlechtem Gewissen zur Übersäuerung des Bodens bei. Erleichtert um ein paar Milliliter Urin kehre ich auf die Laufstrecke zurück und versuche, meinen Rhythmus zu finden, damit ich mein „Projekt 210“ nicht schon nach einem Kilometer begraben muss.

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Nach knapp fünf Kilometern kommt der erste Höhepunkt des Tages für mich. Da verläuft die Strecke durch Moabit, meinem Kiez, und die Familie wartet am U-Bahnhof Turmstraße, um mich anzufeuern. Der Sohn pustet in eine Tröte, als sei er vom Leibhaftigen besessen, und die Tochter haut nach Leibeskräften auf eine kleine Trommel ein, die sie extra im Keller aus einer Kiste mit ausrangiertem Spielzeug hervorgekramt hat.

Ich klatsche die Kinder ab und die Frau ruft mir hinterher: „Du siehst noch gut aus!“ Eine Anfeuerung, die mich ein wenig irritiert. In der Vorbereitung bin ich über 1.500 Kilometer gelaufen und habe fünf Mal in der Woche trainiert, da sollte man davon ausgehen, dass ich bei Kilometer 5 wie das blühende Leben aussehe. Oder mache ich jetzt schon einen so erschöpften Eindruck, dass die Frau meint, sie müsse mich mental aufbauen?

Kilometer 5. Die Frisur sitzt. Noch.

Kilometer 5. Die Frisur sitzt. Noch.

Und was meint sie mit, ich sähe „noch“ gut aus? Erwartet sie vielleicht, dass ich im späteren Rennverlauf einbrechen werde? Oder ist sie allgemein skeptisch bezüglich meines Aussehens in den nächsten Jahren und Jahrzehnten? Conny Francis singt derweil „Schöner fremder Mann“, womit ich aber nur bedingt gemeint bin, wenn ich die Worte der Frau richtig deute.

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Bei Kilometer 7 habe ich mich wieder gefangen und laufe in flottem Tempo am Kanzleramt vorbei. Endlich habe ich meinen Laufrhythmus gefunden und flitze mit der Geschwindigkeit eines ICEs durch das Berliner Regierungsviertel. Naja, wenigstens mit der Geschwindigkeit eines ICs. Oder eines Interregio-Expresses. Für Außenstehende eventuell auch einer Draisine, die von zwei altersschwachen Bahnbediensteten kurz vor der Verrentung bewegt wird. Thematisch passend singt Christian Anders dazu vom Zug, der nach Nirgendwo fährt.

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Als ich kurz danach den Reichstag passiere, trällert Gitte davon, dass sie gerne einen Cowboy als Mann hätte, da sie der Meinung ist, das US-amerikanische Viehhüter gut küssen können. Irgendwie passt das ganz gut zum Läuferfeld. Also, nicht weil heute viele Cowboys am Start sind – zumindest habe ich keine gesehen – oder viele gute Küsser mitlaufen – die Lippenfertigkeiten der Teilnehmerinnen und Teilnehmer vermag ich nicht zu beurteilen –, sondern weil die gute Gitte aus Dänemark kommt. Und vor, neben und hinter mir laufen unglaublich viele Dänen. Fände der Marathon in Kopenhagen statt, könnten es nicht mehr sein. Auch am Straßenrand stehen unzählige Fans, die Fahnen mit weißem Kreuz auf rotem Grund schwenken und ihre Landsleute anfeuern. Das nächste Mal ziehe ich einfach ein dänisches Laufshirt an und dann werde ich permanent angefeuert. Also, falls es ein nächstes Mal geben wird.

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Inzwischen habe ich circa zehneinhalb Kilometer hinter mich gebracht, was ungefähr ein Viertel der Strecke ist. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass noch drei Viertel vor mir liegen. Weil sich das aber nicht so schön anhört, beschließe ich nicht weiter darüber nachzudenken. Dass das viele Denken ohnehin keinen Sinn macht, bläut mir Juliane Werding mit ihrem „Wenn du denkst, du denkst, dann denkst du nur, du denkst“ ein.

Ohnehin muss ich mich jetzt auf das nächste Zusammentreffen mit der Familie konzentrieren und da stört die Denkerei auch nur. Wir sind an der Karl-Marx-Allee, kurz nach Kilometer 11, verabredet. Aber der Familie kommt diesmal nicht die Rolle der Jubelperser zu, sondern die Frau soll mir eine neue Trinkflasche übergeben. Um bei den Erfrischungsstationen keine Zeit zu verlieren, habe ich mich nämlich entschlossen, mein eigenes Trinken mit mir zu führen. Bei meiner intensiven Recherche nach dem optimalen Marathongetränk stieß ich irgendwann auf die Seite von Herbert Steffny, seines Zeichens ehemaliger Weltklasse-Langstreckenläufer aus Deutschland, der dort unter anderem ein Rezept für einen selbstgemixten Laufdrink veröffentlicht hat.

An Herbert Steffny konnte ich mich noch gut erinnern, hatte ich ihm doch als Elfjähriger auf dem heimischen Sofa mehr als zwei Stunden dabei zugeschaut, wie er 1986 bei der Leichtathletik-Europameisterschaft in Stuttgart die Bronzemedaille im Marathon gewann, was ich nicht zuletzt auf meine Anfeuerung zurückführte.

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Aufgrund dieses gemeinschaftlichen Erfolges befand ich, dass ein Getränk, das für Herbert Steffny gut genug ist, auch für mich geeignet sein sollte. So ein Europameisterschafts-Medaillengewinner wird bei der Getränkeauswahl schon nicht ganz falsch liegen. Geschmacklich eventuell schon, denn das Gebräu aus abgestandenem Mineralwasser, Zucker, Speisestärke und einer guten Prise Kochsalz, dem lediglich zur Abrundung eine geringe Menge O-Saft zugeführt werden darf, schmeckt doch etwas gewöhnungsbedürftig.

Aber bei einem Marathongetränk geht es ja auch nicht um ein Geschmackserlebnis wie bei einer exquisiten Weinverkostung, sondern um die optimale Versorgung mit Nährstoffen, damit man es bis ins Ziel schafft. Und wenn das wie altes Spülwasser mit Orangennote schmeckt, dann ist das halt so. Roland Kaiser empfiehlt mir derweil „Sieben Fässer Wein“, was aber definitiv nicht einer adäquaten Marathon-Trinkversorgung entspricht.

Kilometer 22. Ein Läufer greift zur Flasche.

Kilometer 11. Ein Läufer greift zur Flasche.

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Nachdem die Getränkeübergabe reibungslos geklappt hat, beschließe ich, mich bei der nächsten Verpflegungsstation mit Nahrung zu versorgen. Wencke Myhre ermahnt mich, „Beiß nicht gleich in jeden Apfel“, was aber gar nicht nötig ist, da ich mich für Bananenstücke entscheide. Die sind sehr süß und ich bilde mir ein, dass sie mir sofort Energie spenden. Allerdings sind sie auch ein wenig matschig und ich bilde mir nicht nur ein, dass sie mir die Hände verkleben.

An dem Essenstand gibt es auch Energy Gels, aber von denen lasse ich lieber die Finger. Ein Arbeitskollege von mir hat damit mal sehr schlechte Erfahrung gemacht. Bei seinem ersten Marathon hatte er sich unterwegs so ein Gel reingepfiffen und das verdauungstechnisch nicht sonderlich gut vertragen. Falls Sie in den 80er-Jahren die Werner-Comics gelesen haben, erinnern Sie sich sicherlich noch an den Begriff „Flitzkacke“. (Ein Ausdruck, den man nie wieder vergisst, wenn man ihn mal gehört hat.) Ohne zu sehr ins unappetitliche Detail zu gehen, sei lediglich erwähnt, dass der Kollege an dem Tag mehr Zeit auf Dixie-Klos als auf der Laufstrecke verbrachte.

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Als ich Kilometer 18 passiere, beginnt es zu regnen. Und zwar nicht nur ein paar Tropfen, sondern in Mengen, als habe der Herrgott entschieden, das mit der Sintflut noch einmal auszuprobieren. Im gleichen Moment singt Drafi Deutscher „Weine nicht, wenn der Regen fällt“, und lacht dabei hämisch. Jetzt weiß ich auch wieder, warum ich schon immer fand, dass Drafi Deutscher eine blöde Hackfresse ist.

Durch den Platzregen bilden sich schwimmbadgroße Pfützen auf der Straße, was das Laufen nicht gerade einfacher macht. Wencke Myhre hat Mitleid mit mir und bietet mir ein „Knallrotes Gummiboot“ an. Das hilft mir aber auch nicht weiter, denn ich bin bereits von Kopf bis Fuß pitschnass. Das wiederum amüsiert anscheinend Nana Mouskouri, die mich mit ihrem enervierend fröhlichen „Guten Morgen, Sonnenschein“ verspottet. Ich entwickle Gewaltphantasien, bei denen ich der Griechin ihre schwarze Hornbrille aus dem Gesicht ohrfeige.

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Bei Kilometer 20 hört der Regen wieder auf und es bahnen sich sogar ein paar Sonnenstrahlen ihren Weg durch die Wolkendecke. Die Playlist ist begeistert und shuffelt mir Peter Maffay mit „Und es war Sommer“ in den Gehörgang. Kalendarisch ist das Ende September nicht ganz korrekt und angesichts der aktuellen meteorologischen Situation auch ein wenig überenthusiastisch.

Außerdem ist der Rhythmus des Liedes zu langsam für mein Lauftempo. Und ich habe auch keine rechte Lust, mir anzuhören, wie Peter Maffay mit Tremolo in der Stimme rumschmalzt, wie sein 16-jähriges musikalisches Ich angeblich zum Manne wurde, nur weil ihm eine 31-jährige zeigte, dass es sexuell gesehen auch eine Alternative zur exzessiven Dauermasturbation gibt. Ohnehin habe ich große Zweifel, dass die besungene Frau besonders glücklich ist, Gegenstand des Maffayschen Coming-of-Age-Songs zu sein, und immer wieder daran erinnert zu werden, dass sie – wahrscheinlich in einem Zustand geistiger Umnachtung und/oder übermäßigen Alkoholgenusses – einen verpickelten Teenager entjungfert hat, der dies dann in einem Lied verarbeitete.

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Gerade als ich die Halbmarathonmarke passiere, klingelt plötzlich mein Handy. Auf dem Display erscheinen Name und Nummer der Tochter. Da es nur noch anderthalb Kilometer bis zur nächsten Getränkeübergabe sind, hat sie mir vielleicht etwas Wichtiges mitzuteilen. Kaum habe ich die grüne Telefontaste betätigt, ruft die Tochter hektisch in mein Ohr: „Wir stehen am Innsbrucker Platz auf der rechten Seite, Papa! Du musst rechts laufen, nicht links, damit du deine Flasche bekommst. Hast du verstanden? Rechts, nicht links! Auf keinen Fall links, da stehen wir nicht!“ Bevor ich eine Antwort keuchen kann, hat sie schon wieder aufgelegt.

Das ist nun wirklich eine wichtige Information, denn es würde mich aus meinem labilen Marathongleichgewicht bringen, wenn wir uns bei der Flaschenübergabe verfehlten. Allerdings hat die Tochter eine ausgeprägte links-rechts-Schwäche. In mehr als der Hälfte der Fälle, wenn sie „rechts“ sagt, meint sie eigentlich „links“, und umgekehrt ist ihre Trefferquote auch nicht besser. Da sie gesagt hat, ich solle rechts laufen, hat sie das mit einer Wahrscheinlichkeit von über 50 Prozent mit links verwechselt. Vielleicht hat ihr aber auch die Frau vorher erklärt, was sie sagen soll. Deren links-rechts-Genauigkeit liegt immerhin bei 67,4 Prozent.

Ich beschließe, einfach in der Mitte des Pulks zu laufen, und wenn ich die Familie hoffentlich erblicke, mich irgendwie an den anderen Läufern vorbei zu ihnen durchzuschlagen. Tatsächlich funktioniert mein Plan, was auch damit zusammenhängt, dass Sohn und Tochter tröten und trommeln, was das Zeug hält, so dass ich sie nicht überhören kann. Das Geld in ihre musikalische Früherziehung war doch gut investiert.

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Kurz nach der erfolgreichen Flaschenübergabe meldet mein Kleinhirn an, dass die Blase den Füllhochstand erreicht hat und um Entleerung bittet. Ich bin höchst verwundert und frage mich, was wohl mit meiner Blase los ist. Zuhause muss ich doch auch nicht alle zwei Stunden pinkeln. Ob die Marathonblase wohl die Steigerung der Konfirmandenblase ist? Schon wieder bin ich mit der Frage konfrontiert, ob ich mit unangenehm drückender Blase weiterlaufen oder mich wieder im öffentliche Urinieren betätigen soll. Da noch gut 90 Minuten vor mir liegen, entscheide ich mich für Letzteres.

Ich lege einen kurzen Zwischenstopp auf dem Mittelstreifen der Rheinstraße ein und wässere einen Baum. Dabei versuche ich, die unzähligen Läufer und Zuschauer um mich herum zu ignorieren, und wundere mich über meine erstaunlich niedrige Schamgrenze. So oft, wie ich heute öffentlich uriniert habe, ist es bis zum ersten Nudisten-Marathon nicht mehr weit.

Nach meinem unfreiwilligen Wasserstopp fällt es mir unglaublich schwer, wieder loszulaufen. Erneut muss ich Zeit auflaufen, die Beine sind schwer, die Waden zwicken und die Füße sind der Meinung, es wäre eine reizvolle Alternative irgendwo hochgelegt zu werden, anstatt über den Asphalt zu stapfen. Roland Kaiser lässt aber keine Gnade walten und singt „Es geht schon wieder los“. Welcher Idiot hat eigentlich die ganzen Roland-Kaiser-Lieder auf die Playlist gespielt?

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Langsam setze ich mich in Bewegung und halte Ausschau nach einem Läufer, der ungefähr mein Tempo läuft, so dass ich mich ein wenig im Windschatten mitziehen lassen kann. Schließlich erblicke ich eine Mittfünfzigerin, die mir als Lokomotive geeignet erscheint, und ich klemme mich hinter sie. Henry Valentino singt dazu sein Stalker-Lied „Im Wagen vor mir fährt ein schönes Mädchen“.

Nach kurzer Zeit muss ich jedoch feststellen, dass mein Windschattenplan zwar in der Theorie ein guter war, in der Praxis aber nicht so einfach umzusetzen ist. Die Frau läuft nämlich nicht „ungefähr mein Tempo“, sondern „ungefähr ein etwas schnelleres Tempo“ als ich imstande bin. Außerdem wird sie immer schneller. Wahrscheinlich ist sie von meinem hechelnden Atem im Nacken genervt und will mich abschütteln.

Zerknirscht muss ich eingestehen, dass ich bei dieser Geschwindigkeit nicht lange durchhalten werde. Um mir einen Besuch im Sauerstoffzelt zu ersparen, lasse ich die Frau ziehen, was für meine Motivation nicht gerade förderlich ist. Mich beschleicht das ungute Gefühl, dass die 15 Kilometer bis zum Ziel noch sehr lang werden. Udo Jürgens ist da ganz meiner Meinung und stimmt „Tausend Jahre sind ein Tag“ an.

Kilometer 27. Das "Projekt Volltrottel" läuft.

Kilometer 27. Das “Projekt Volltrottel” läuft.

Fortsetzung folgt.

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4 Kommentare zu “Der Schlager-Marathon (2). Oder: Die Karawane zieht weiter

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