Wir nutzen unseren Corona-Hausarrest, um jedes Wochenende eine Runde „Jede/r ein Lied“ zu spielen:
- Jedes Familienmitglied wählt nacheinander einen Song auf YouTube aus, den wir uns dann gemeinsam anhören.
- Das Lied wird bis zum Ende gespielt, egal wie schlimm es alle anderen finden.
Weitere Folgen von „Jede/r ein Lied“ finden Sie hier.
One Direction: What makes you beautiful
Die Tochter sucht ein Lied von One Direction aus. Eine klassische Boy-Band, wobei die Band-Mitglieder in dem Video so jung aussehen, dass die Bezeichnung Kita-Band eigentlich zutreffender wäre.
Die Frau lässt sich trotzdem enthusiastisch über das gute Aussehen und die sportlichen Figuren der Knaben aus. Für meinen Geschmack etwas zu enthusiastisch. Meine Güte, sie könnte ihre Mutter sein! Oder Großmutter!
In dem Clip fährt die Band unter Missachtung jeglicher Social-Distancing-Vorgaben in einem engen VW-Bus an den Strand, wo ein paar junge Frauen zu ihnen stoßen. Das Geschlechterverhältnis von fünf Jungs und drei Mädchen scheint mir problematisch zu sein. Da sind die Konflikte doch vorprogrammiert. Außer zwei der Jungs sind homosexuell, dann geht es wieder. Oder zwei der Mädchen sind lesbisch und vier der Jungs sind schwul. Oder zwei der Jungs feiern noch einmal am Strand, bevor sie morgen ins Priesterseminar gehen. Ach egal, es wird schon irgendwie gut gehen.
In dem Lied wird einem schüchternen Mädchen Mut zugesprochen, es sei schön und dass sie das nicht wisse, würde sie gerade schön machen.
You dont know you’re beautiful, oh-oh
That’s what makes you beautiful.
Klingt erstmal ganz sympathisch und nach Frauen-Empowerment. Aber auch etwas scheinheilig, handelt es sich bei den Mädchen aus dem Video doch um attraktive Nachwuchs-Model und nicht um übergewichtige Teenies mit fettigem Haar und blühender Akne.
Abgesehen davon, macht das Lied aber gute Laune, was nicht zuletzt daran liegt, dass es mit dem charakteristischen Gitarren-Riff von „Hang on Sloopy“ startet. (Die Älteren erinnern sich.)
Passenger: Let her go
Etwas überraschend nach seiner letzten Bausa-Deutsch-Rap-Wahl entscheidet sich der Sohn diesmal für das Kuschelrock-kompatible „Let her go“ von Passenger. (Nicht zu verwechseln mit „Let it go“ aus Frozen oder „Let it snow“ von Dean Martin!)
Das Lied habe ich schon mal gehört, dachte aber, es wäre von Shawn Mendes. Die Tochter rollt mit den Augen. Verständlich, denn Passenger, der eigentlich Mike Rosenberg heißt, sieht überhaupt nicht aus wie Shawn Mendes. Eher wie ein netter Ewok, der sich mal wieder kämmen könnte.
Während Bausa durchaus hoffnungsvoll nächtens zu seiner angebeteten Mary rennnt, ist bei Passenger die Messe schon gesungen. In „Let her go“ geht es um eine vergangene, unglückliche Liebe.
Only know you’ve been high when you’re feeling low
Only hate the road when you’re missing home
Only know you love her when you let her go.
Ob der Sohn uns mit diesen Liedern etwas sagen will? Schwärmt er für ein Mädchen und muss sie vergessen, weil er einen Korb von ihr bekommen hat? Vielleicht sollte ich ihn mal fragen, was romantikmäßig gerade so geht. Vielleicht sollte ich uns ein solches unangenehmes Gespräch aber auch lieber ersparen. Ohne meinem Vater zu nahe treten zu wollen, hätte ich mich mit 13 nicht mit ihm über meine unerwiderte Schwärmerei zu Miriam aus der 8b unterhalten wollen. (Mit meiner Mutter auch nicht.)
Ich finde das Lied trotz der leicht weinerlichen Stimme von Passenger ganz gut. Das hätte ich mir als unglücklich verliebter Teenager in meinem abgedunkelten Zimmer auch angehört. Oder auf ein Mix-Tape für Miriam aufgenommen.
Maximo Park: Karaoke Plays
Die Frau wartet mit „Karaoke Plays“ von der britischen Band Maximo Park auf. Sänger Paul Smith ist ihr Celebrity Crush. Nach einem Konzert hat sie sich mal ein Autogramm geben lassen und er hat ihr die Hand geschüttelt. Wäre der Corona-Ausbruch nicht gekommen, hätte sie sich Zeit ihres Lebens die Hände nicht mehr gewaschen.
Zu Beginn des Videos ist eine Gruppe junger Menschen in einer Art Party-Bus unterwegs. Das Bier fließt in Strömen, es wird getanzt, geknutscht und gefummelt. Also, ein ganz normaler Freitagabend in einer englischen Kleinstadt.
Irgendwann erreicht der Bus den Strand, wo sich einige der Männer bis auf die Unterhose entkleiden und ins Wasser rennen. Die Typen haben erfreulich untrainierte Körper. Keine Six-Packs, keine ausdefinierten Bizeps und Trizeps, sondern kleine Fettpölsterchen und teilweise sogar leichte Bauchansätze, die auch durch bemühtes Luftanhalten nicht zu kaschieren sind. Das ist ganz gut für das eigene Körpergefühl, wenn im Zuge der Corona-Selbstisolation alle Fasten-Vorsätze über Bord geworfen wurden und die Ausgewogenheit der Ernährung sich in erster Linie auf die Balance von fetthaltigen Speisen und Lebensmittel mit kurzkettigen Kohlenhydraten bezieht.
Sofern ich den Text richtig verstehe, was ich aufgrund des starken Newcastle-Dialekts von Paul Smith eher bezweifle, handelt „Karaoke Plays“ von einer zerbrochenen Beziehung, der hinterhergetrauert wird. (Schönen Gruß an Passenger!)
Oh, I waited up for you, but you didn’t come back home
I waited up for you. Couldn’t you come back home?
(Sollte der Song autobiographische Züge tragen, wäre die Frau sicherlich gerne bereit, Paul Smith zu trösten.)
Im Refrain wird die Frage „What makes a grown man cry?“ aufgeworfen. Die Antwort ist recht einfach und steckt schon im Titel „Karaoke plays“. Wenn ich Karaoke singen müsste, brächte mich das auf jeden Fall zum Weinen. (Und das Publikum ebenfalls. Und zwar alle, nicht nur die erwachsenen Männer.)
Ace of Base: The Sign
Bisher gab es bei unserer Lied-Auswahl noch keine einzige weibliche Interpretin. Das ist natürlich kein Zustand.
Warum ich mich zur Erhöhung des Frauen-Anteils ausgerechnet für die schwedische Pop-Band „Ace of Base“ entscheide, die wenigstens zu 50 Prozent aus Frauen besteht, ist mir allerdings selbst ein Rätsel. Möglicherweise eine Mischung aus Selbsthass, Masochismus und nostalgischer Verklärung. So wie auf 90er Partys, wenni 40-50-jährige Menschen, bei den Klängen von DJ Bobo und Captain Jack begeistert auf die Tanzfläche stürmen. Vielleicht möchte ich den Kindern aber einfach nur zeigen, dass wir es früher auch ohne Corona nicht leicht hatten.
Das Video zu „The Sign“ ist eher schlicht gehalten. Die vier Ace-of-Base-Mitglieder bewegen sich mit spärlich choreographierten Tanz-Moves, im Hintergrund laufen leicht psychedelisch anmutende Bilder und Film-Sequenzen ab. Möglicherweise haben sich die Video-Produzenten von dem Alpia-Motto „Wir stecken keine Mark in die Werbung, sondern jede Mark in die Schokolade.“ inspirieren lassen. (Die Älteren erinnern sich.)
Allerdings scheint auch nicht allzu viel Geld in die Musik und den Text geflossen zu sein.
Life is demanding without understanding.
Eine Zeile, die für die Frau und die Kinder meine Video-Auswahl recht gut beschreibt.
Dennoch sollte „The Sign“ nicht vorschnell auf der Müllhalde des Trash-Pops entsorgt werden. Inhaltlich geht es bei dem Song um eine Frau, die glücklich ist, nachdem sie ihren Partner verlassen hat.
I saw the sign
And it opened up my eyes
And I am happy now living without you
I’ve left you
Verse, die ein wenig trivial wirken, aber mehr Frauen-Empowerment vermitteln als das leicht esoterische One-Direction-Geschwurbel, „du bist schön, weil du nicht weißt, dass du schön bist.“ Die Botschaft: Frauen, lasst euch nicht von irgendwelchen Typen runterziehen, nehmt euer Leben in die Hand und beendet Beziehungen mit Partnern, die euch nicht guttun! (Der schlechte Musikgeschmack des Partners sollte jedoch ruhig toleriert werden, aber das nur am Rande.)
Damit ist „The Sign“ gewissermaßen die musikalische Speerspitze des Feminismus und es ist mehr als gerechtfertigt, dass ich dieses Lied ausgesucht habe. Der Rest der Familie ist trotzdem skeptisch.
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Die komplette Jeder-ein-Lied-Playlist bei Spotify:
Christian Hanne, Jahrgang 1975, hat als Kind zu viel Ephraim Kishon gelesen und zu viel “Nackte Kanone” geschaut. Mit seiner Frau lebt er in Berlin-Moabit, die Kinder stellen ihre Füße nur noch virtuell unter den elterlichen Tisch. Kulinarisch pflegt er eine obsessive Leidenschaft für Käsekuchen. Sogar mit Rosinen. Ansonsten ist er mental einigermaßen stabil.
Sein neues Buch “Wenn ich groß bin, werde ich Gott” ist im November erschienen. Ebenfalls mehr als zu empfehlen sind “Hilfe, ich werde Papa! Überlebenstipps für werdende Väter”, “Ein Vater greift zur Flasche. Sagenhaftes aus der Elternzeit” sowie “Wenn’s ein Junge wird, nennen wir ihn Judith”*. (*Affiliate-Links)
Haben wir heute gespielt – der Sohn hat uns „Johnny Däpp“ vorgespielt, woraufhin uns Spotify „Quarantänamera“ vorgeschlagen hat. Das ist so schlecht, dass es schon wieder witzig ist!