Dinge, die nie auf meiner Bucket-Liste standen, die ich nun trotzdem abhaken kann: In einer spanischen Kleinstadt, von der ich vorher noch nie gehört habe, auf dem Boden eines Bahnhofs schlafen, zugedeckt mit einer Rot-Kreuz-Decke.
Trotz windschützender Wand und Rucksäcke war es draußen irgendwann zu ungemütlich. Die Kälte kroch unter die Decke, meine beiden Jacken, die ich trug, meine Kleidung, bis in die Knochen hinein.
Gegen halb zwei verzogen wir uns in die Wartehalle, um uns ein Plätzchen zu suchen. Der einzige noch freie Raum war eine Gasse, die für den Weg zum Klo freigehalten worden war. Ich befand, ein Klogässchen müsste ausreichen und legte mich an den Rand.
In der verklärenden Erinnerung meines Kurzzeitgedächtnisses hatte ich auf dem Bahnhofsvorplatz eine halbwegs bequeme Schlafposition gefunden. Hier gelingt mir das nicht so recht. Auf dem Rücken liegend, tun die Fersen weh, drehe ich sie nach außen, schmerzen die Knöchel.
In der Seitenlage drückt wiederum mein Beckenknochen unangenehm auf den Betonboden. Oder der Betonboden auf meinen Beckenknochen. Das ist eine Frage der Perspektive. Allerdings mit dem gleichen Resultat: Aua.

Trotz des harten und unangenehmen Untergrunds möchte ich mich aber nicht zu sehr beschweren. Schließlich befinden wir uns freiwillig in dieser Situation.
Also, nicht vollkommen freiwillig. Ich habe vor unserer Reise nicht gesagt: „Hey, in der Nacht vom 28. auf den 29. April will ich im Bahnhof von Zamora auf dem Fußboden schlafen. Am liebsten ohne Isomatte, damit es möglichst unkomfortabel ist.“
Aber wir sind nicht auf der Flucht, mussten nicht aus politischen oder finanziellen Gründen oder wegen einer Naturkatastrophe unsere Heimat verlassen und auch nicht unser Hab und Gut zurücklassen. Wir hatten durchaus eine andere Wahl.
Wir hätten letzte Nacht problemlos in ein Hotel gehen können. Unsere EC-Karten funktionieren, das Girokonto ist gedeckt und mit einem absurd üppigen Überziehungsrahmen ausgestattet. Damit hätten wir uns ein Quartier in der Stadt nehmen können.
Außer vielleicht eine Suite in einem 5-Sterne-Luxushotel, in der die Nacht 20.000 Euro kostet. So üppig ist unser Überziehungsrahmen dann doch nicht und da hätte sich unsere Bank sicherlich mal gemeldet und nachgefragt, ob alles in Ordnung ist oder wir irgendeine Art von psychischem Zusammenbruch erlitten haben.
Wir sind aber aus freien Stücken am Bahnhof geblieben. Damit wir morgens unter keinen Umständen verpassen, falls ein Zug oder Bus nach Vigo fährt. Oder eine Pferdedroschke.
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Das letzte Mal, dass ich mit mir unbekannten Personen in einem Raum geschlafen habe, war Ende der 90er in einem Hostel in London. Ich war 23, hatte noch kein Zimmer für mein Auslandssemester gefunden und mein Budget reichte nur für ein 16-Mann-Schlafsaal mit Metallbetten und durchgelegenen Matratzen. Nach sieben Nächten schwor ich mir, so etwas nie wieder zu machen.
Gut, nicht alle Schwüre halten ein ganzes Leben. Nun liege ich sogar mit 80 bis 100 Fremden in einem Bahnhof. Ohne Bett und ohne Matratze.
Im Wartesaal lausche ich auf das tiefe Atmen, Husten, Schnaufen, Herumwälzen und Schnarchen der anderen. (Letzteres zum Glück nur leise.) Manche gehen aufs Klo, einige laden ihre Handys an den Steckdosen auf, ein paar unterhalten sich flüsternd. Eine Gruppe von Japaner*innen verlässt das Gebäude, voluminöse Rollkoffer hinter sich herziehend.
Alle sind so leise wie möglich, jede*r ist rücksichtsvoll, niemand will stören. Außer die Rollkoffer rollenden Japaner*innen. Die waren nur so mittelleise wie möglich, begrenzt rücksichtsvoll und ob sie jemanden stören, stand auf ihrer Prioritätenliste nicht ganz oben.
Ab und an kommt ein junger Mann in die Halle. Er trägt eine noch eingeschweißte Rot-Kreuz-Decke unter dem Arm, schaut sich um, geht wieder raus, läuft unter dem Vordach auf und ab, dreht anschließend ein paar Runden auf dem Bahnhofsplatz. Das Ritual wiederholt sich mehrmals in der Nacht, immer in der gleichen Reihenfolge. Blick in den Wartesaal, auf und ab unter dem Vordach, Runden auf dem Bahnhofsplatz.
Er erinnert mich an meinen Schulkameraden T. Der kam in der siebten Klasse zu uns und lief vor der ersten Stunde sowie in jeder Pause den Schulhof im Kreis ab. Allein, ohne mit jemandem zu sprechen. Sieben Jahre lang, jeden Tag, bis zum Abitur.
Während der gesamten Schulzeit habe ich einmal gehört, wie T. etwas im Unterricht gesagt hat. Der Physiklehrer hatte ihn etwas gefragt, die Antwort war richtig. In Arbeiten und Tests schrieb T. immer Einsen und Zweien, in mündlicher Mitarbeit bekam er Vieren oder Fünfen. (Die Fünfen, weil er anwesend war und seine Hausaufgaben machte, manchmal eine Vier, weil er nie störte.)
Heute wäre T. ein Fall für den Schulpsychologen, aber den gab es bei uns damals nicht.
Ich weiß nicht, ob der nächtlich umherwandernde junge Mann auch therapeutische Unterstützung gebrauchen könnte. Auf mich wirkt er ein wenig ziel- und rastlos. Vielleicht sucht er aber einfach den perfekten Schlafplatz.
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Ich schlafe unruhig. Ab und an dämmere ich weg, kurze Zeit später wache ich wieder auf. Blick auf die Uhr. Vier. Noch anderthalb bis zwei Stunden will ich ausharren, bevor ich aufstehe.
Als ich das nächste Mal die Augen aufschlage, ist es sieben. Eine Stunde später, als zuhause der Wecker klingelt. Besonders erholsam war der Wartesaal-Schlaf allerdings nicht.
Vertrete mir auf dem Bahnhofsvorplatz die Beine. Alles fühlt sich steif an, mein Körper schmerzt an der ein oder anderen Stelle. „Ist ja nur für eine Nacht“, äffen meine Knochen meine Aussage von gestern Abend nach und machen wieder eine Mischung aus abwertender und obszöner Handbewegung.
Vor dem Rot-Kreuz-Wagen mit den heißen Getränken hat sich eine lange Schlange gebildet. Dafür, dass es sich um löslichen Kaffee handelt, schmeckt er ganz okay. Nicht 1a und auch nicht in den Top Ten der besten Kaffees, die ich je getrunken habe, aber gut genug.
Ohnehin wären jetzt und hier weder der richtige Moment noch der richtige Ort, um zu fragen: „Könnte ich einen Java Chip Chocolate Cream Frappuccino mit extra Espresso-Shot und laktosefreier, fettarmer Milch haben?”
An einem Tisch verteilt das Rote Kreuz Kekse, Obst, Wasser und Saft-Trinkpäckchen. Um meinen Reisemagen nicht mit Vitaminen zu verwirren, nehme ich ein paar Kekse.
Die Rot-Kreuz-Helfer*innen sind immer noch freundlich, hilfsbereit und zugewandt, obwohl sie seit gestern 21 Uhr da sind und ohne Schlaf auskommen mussten. Der Vertreter von Renfe, war ebenfalls die ganze Nacht hier. Er sieht ein wenig zerzaust aus.
Anschließend Zähneputzen und ein bisschen Gesichts-Katzenwäsche auf dem Bahnhofsklo. Fühle mich nicht wie ein neuer Mensch, aber wenigstens wie ein Mensch mit frisch geputzten Zähnen, der sich etwas Wasser ins Gesicht gespritzt hat.
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Halb acht. Langsam wüsste ich gerne, ob wir heute irgendwie nach Vigo und dann nach Porto kommen. Das spanische Stromnetz läuft noch nicht auf voller Kapazität und der Zugverkehr wird nicht prioritär behandelt.
Angeblich soll ein Schnellzug nach Madrid fahren, das hilft uns aber nicht weiter. Mit dem kämen wir Porto nicht näher, sondern entfernten uns.
Eine halbe Stunde später eine Ansage des Renfe-Manns. Sie hätten Busse organisiert, die uns zu unseren jeweiligen Haltestationen bringen. Nach Ourense, nach Pontevedra und nach Vigo.
Allerdings dauere das noch ein wenig, die Busse müssten vorher noch Kinder in die Schulen fahren. Wahrscheinlich hätten die Schüler*innen uns gerne den Vortritt gelassen und heute auf den Schulbesuch verzichtet. Aus reiner Nächstenliebe, versteht sich.
Ich frage mich, wie sie später nach Hause kommen. Bis Schulschluss werden die meisten der Busse noch unterwegs sein. Da werden sich die Eltern schön bedanken, wenn sie einen halben Tag Urlaub nehmen müssen, um ihre Kinder abzuholen, weil die Schulbusse ein paar doofe Touris durchs Land kutschieren.
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9.30 Uhr. Die ersten Busse biegen auf den Bahnhofsvorplatz ein. Der vermeintliche Obdachlose von gestern Abend entpuppt sich als Passagier und steigt in den Bus nach Pontevedra ein. Anscheinend war der Mann auf Camping-Wandertour und mit Isomatte und Schlafsack bestens für eine Nacht im Bahnhof ausgerüstet. Oder er ist doch obdachlos und freut sich, kostenlos nach Pontevedra zu kommen.
Selbstverständlich kommen die Vigo-Busse als letzte. Gegen halb elf. Weil der erste so voll ist, nehmen wir den zweiten. Kaum ist Bus Nummer 1 aufgebrochen, erklärt der Renfe-Mann, unser Fahrer sei bereits seit 6.30 Uhr unterwegs und müsse nun seine gewerkschaftlich vorgeschriebene Pause von einer dreiviertel Stunde einlegen.
Nicht ideal, aber da will man trotzdem nichts sagen. Arbeitsrechte sind schließlich wichtig. Obendrein fördert es das eigene Sicherheitsempfinden, wenn der Fahrer nicht seit zweieinhalb Tagen ununterbrochen auf Tour ist und sich nur noch mit Aufputschmitteln wachhält, sondern ausgeruht hinterm Steuer sitzt.
Außerdem sind inzwischen schon über 24 Stunden seit Beginn unserer Reise vergangen. Da sind 45 Minuten mehr oder weniger auch egal.
Als wir schließlich alle im Bus sitzen, verkündet der Fahrer, der Trip nach Vigo dauere ungefähr fünf Stunden. Er dürfe aber nicht länger als vier Stunden am Stück fahren, daher machten wir kurz vor Vigo nochmal Rast.
Kurz finde ich, Arbeitsrechte seien doch überbewertet und Amphetamin-Missbrauch bei Busfahrern eigentlich gar nicht so schlimm. Anscheinend bin ich gerne bereit, die Grenzen meines eigenen Sicherheitsempfinden etwas laxer zu interpretieren, so lange ich nicht auf einer gottverlassenen spanischen Autobahnraststätte abhängen muss, sondern schnellstmöglich nach Vigo komme.
Anderseits sind seit Beginn unserer Reise inzwischen 25 Stunden vergangen. Da sind 45 Minuten mehr oder weniger noch egaler.
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Überraschenderweise erreichen wir ohne weitere Zwischenfälle gegen 17 Uhr den Bahnhof in Vigo. Ohne in einen mehrtägigen Superstau zu geraten und die Tankstelle auf dem Rastplatz fliegt während unseres Stopps auch nicht in die Luft. Inzwischen hätte mich das nicht allzu sehr gewundert.
Wir erwischen sogar noch einen Bus nach Porto. (Weil wir in Deutschland mit Busfahrten immer schlechte Erfahrung gemacht haben, hatte ich die Anreise nach Lissabon so organisiert, dass wir ausschließlich Zug fahren. Ein Vorhaben, das definitiv gescheitert ist.)
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Als wir abends in unserem Airbnb im Bett liegen, kann ich nicht einschlafen. Zu viel Adrenalin, zu viele Eindrücke, zu viele Gedanken.
Die letzten beiden Tage waren wie in einer Blase, in der die Zeit stehen geblieben war und aus der es kein Entkommen gab. Gestrandet irgendwo im Nirgendwo, abgeschnitten von der Außenwelt, immer zu wenige Informationen, keine Ahnung, wie es weitergeht, der Sprache nicht mächtig. Im wahrsten Sinne des Wortes „lost in translation“.
Gleichzeitig haben wir Hilfsbereitschaft, Empathie und Gemeinschaft erlebt. Alle waren relaxt, bewahrten die Ruhe und unterstützten sich gegenseitig. Die Polizei und die unermüdlichen Helfer vom Roten Kreuz sorgten für uns, wir hatten ein Dach über dem Kopf, genügend Verpflegung und waren zu keiner Zeit in Gefahr.
Außerdem trafen wir wunderbare Menschen, die wir ohne den Blackout niemals kennengelernt hätten:
- Marianne, eine brasilianische Filmkritikerin, die von einer Preisverleihung in Madrid auf dem Weg nach Braga war. Wo sie vor den Filmfestspielen in Cannes ein paar Tage entspannen will. Wir halfen ihr mit ihren riesigen Koffern, sie uns mit unermüdlichen Übersetzungen. Sie war eine der wenigen, die Spanisch und fließend Englisch sprach. Ich hoffe, wir sehen uns nächstes Jahr zur Berlinale.
- Das schwedische Ehepaar, das sich nach mir an dem Burger-King-Bestellautomaten noch ungeschickter anstellte als ich, so dass ich mich weniger schlecht gefühlt konnte. Das kann ich ihnen gar nicht hoch genug anrechnen.
- Der Argentinier mit den spanischen Eltern, der uns anfangs mit Transistorradio-Neuigkeiten versorgte, auch wenn diese lediglich darin bestanden, dass es keine Neuigkeiten gibt.
- Der junge Mann im Zug, der für mich die Polizeianweisungen dolmetschte. Ungefragt, einfach weil er mitbekommen hatte, dass ich kein Spanisch spreche.
- Der kauzige alte Mann in Wandermontur, der mich wegen unserer großen Trekking-Rucksäcke fragte, ob wir auch den Camino de Santiago wandern wollen. Ich werde seine enttäuschten Augen nie vergessen, als ich seine Frage verneinte.
- Und Ava und Charlotte, zwei liebenswerte ältere Neuseeländerinnen auf Europarundreise. Wir teilten mit ihnen die von Marianne übersetzten Informationen, sie gaben mir zum Schluss einen Zettel mit ihren Telefonnummern, damit wir sie anrufen, wenn wir mal nach Neuseeland kommen. Und das, obwohl ich Charlotte im Zug viel zu ausführlich erklärt hatte, dass meine Frau ihre Tage hat und gerade ihren Tampon auf der Toilette wechselt.
Hätte mich vorher jemand gefragt, ob ich will, dass wir mit dem Zug stundelang irgendwo in der Pampa stehenbleiben, mehrfach mit Bussen durch die spanische Landschaft gondeln, die Nacht auf dem harten Betonboden eines Bahnhofs verbringen und schließlich über 24 Stunden später als geplant in Porto ankommen, meine Antwort wäre definitiv nein gewesen.
Aber rückblickend kann ich aus voller Überzeugung sagen: Ich möchte keinen einzigen Moment davon missen.
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Christian Hanne, Jahrgang 1975, hat als Kind zu viel Ephraim Kishon gelesen und zu viel “Nackte Kanone” geschaut. Mit seiner Frau lebt er in Berlin-Moabit, die Kinder stellen ihre Füße nur noch virtuell unter den elterlichen Tisch. Kulinarisch pflegt er eine obsessive Leidenschaft für Käsekuchen. Sogar mit Rosinen. Ansonsten ist er mental einigermaßen stabil.
Sein neues Buch “Wenn ich groß bin, werde ich Gott” ist im November erschienen. Ebenfalls mehr als zu empfehlen sind “Hilfe, ich werde Papa! Überlebenstipps für werdende Väter”, “Ein Vater greift zur Flasche. Sagenhaftes aus der Elternzeit” sowie “Wenn’s ein Junge wird, nennen wir ihn Judith”*. (*Affiliate-Links)
Herrlich!!! Vielen Dank für diesen spannenden Dreiteiler – ich freue mich aber auch schon über weitere Berichte über eure Zeit in Porto, Lissabon und sonstwo in Portugal! (Ich lebe nämlich in der Nähe von Lissabon und habe demnach den Blackout auch live miterleben dürfen! Falls ihr mal eine Stadtführung in Lissabon machen möchtet, schaut mal auf unserer Webseite!)
Weiterhin eine tolle Zeit!
Beijinhos
Sara