05. Januar 2023, Berlin
Auf meiner morgendlichen Laufrunde komme ich an einer Kneipe vorbei. Im Fenster steht eine schwarze Tafel, auf der in weißer Schrift steht: „Montag, 19 Uhr: Mediterraner Tanz.“
Mediterraner Tanz. Was soll das sein? Tanzen die da Sirtaki und schmeißen Teller auf den Boden? Oder Flamenco und klappern mit Kastagnetten? Wobei ich mir nicht sicher bin, ob Flamenco überhaupt in der Mittelmeerregion getanzt wird. Wenn ich mich richtig erinnere, gehört der Flamenco zum katalanischen Brauchtum. Aber liegt Katalonien am Mittelmeer? Oder heißt das Meer dort noch irgendwie anders?
Man weiß es nicht. Und mit „man weiß es nicht“, meine ich „ich weiß es nicht“. (Hoffentlich gibt es nie eine Trivial-Pursuit-Edition „Die sieben Weltmeere und ihre Anrainerregionen“.) Ich könnte das nachher mal googeln, aber dazu fehlt mir die Energie. Das Jahr ist noch nicht einmal eine Woche alt und da will ich nicht direkt mit aufwändigen Geographie-Recherchen einsteigen. Somit wird es für immer ein Geheimnis für mich bleiben, was da montagabends in der Kneipe stattfindet.
Oder ich gehe nächste Woche einfach mal hin. Vielleicht aber auch nicht. Denn ich habe nur wenig Lust, meinen Montagabend damit zu verbringen, rhythmisch unterbegabten aber gleichzeitig tänzerisch übermotivierten Berliner*innen dabei zuzusehen, wie sie die mediterrane Tanzkultur demütigen, indem sie sich am Sirtaki – oder am Flamenco – vergehen. Noch weniger Lust hätte ich nur, dabei selbst mitzumachen.
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Der Sohn hat heute Zeugnistag. Seine Noten fallen insgesamt sehr erfreulich aus. Allerdings zeichnen sich seine Fächer durch eine strikte Zwei-Klassen-Gesellschaft aus. In den Kursen, die er ins Abi einbringen muss, hat er zweistellige Punktzahlen. Außer 8 Punkte in Mathe, was aber im Vergleich zu seinen Mathenoten in den letzten Jahren als zweistellig gelten kann, und 7 Punkte in Chemie, was jedoch immer noch drei Punkte mehr sind, als ich als letzte Chemie-Note hatte.
In allen Fächern, die er nicht einbringen muss, bewegen sich die Punkte im unteren Mittelfeld. Zum Beispiel in Politikwissenschaften und Geographie. Im Sinne der Allgemeinbildung ist das vielleicht bedenklich, aus Effizienzgesichtspunkten allerdings nachvollziehbar.
Ich glaube, der Sohn strengt sich in der Oberstufe so an, weil er das beste Abi in der Familie machen möchte. Bis jetzt habe ich das inne. Mit 2,2. Was natürlich keine unüberwindbare Hürde ist.
Als guter Vater unterstütze ich selbstverständlich den schulischen Ehrgeiz des Sohns. Gleichzeitig werde ich meinen Platz auf dem familiären Abi-Thron mit allen Mitteln verteidigen. Mit einer Mischung aus psychologischer Kriegsführung und Trash-Talk („Denk‘ daran, dass du noch drei weitere Mathekurse einbringen musst.“) sowie einigen Ablenkungsmanövern („Geh’ doch auch mal unter der Woche mit denen Freunden feiern. Ist doch egal, ob du morgen Englisch schreibst.“) und Verbotsandrohungen („Wenn du nicht mindestens fünf Stunden am Tag zockst, werden wir deinen Computer einkassieren.“) Falls alle Stricke reißen, kann ich vor den Abi-Prüfungen immer noch ein, zwei Lehrer*innen von ihm bestechen.
Sollte mein Plan aufgehen, wäre das quasi eine Win-win-Situation für den Sohn und mich. Ich hätte weiterhin das beste Abi in der Familie und der Sohn hätte gelernt, dass im Leben mit harten Bandagen gekämpft wird. (Darüber kann er während seiner Wartesemester nachdenken, die er einlegen muss, weil er wegen seines schlechten Abis keinen Studienplatz bekommt.)
06. Januar 2023, Berlin
Bei meinem heutigen Lauf klärt sich die Tanz-Geschichte auf. Es handelt sich gar nicht um mediterranen, sondern um meditativen Tanz. (Ich sollte vielleicht mal wieder zum Augenarzt gehen.) Das Ganze findet auch nicht in einer Kneipe, sondern in einem esoterisch angehauchten Laden für Heilkunde statt. (Of course it does!)
Da möchte ich aber auch nicht hingehen und mir anschauen, wie sich rhythmisch unterbegabte und leicht verstrahlte Berliner*innen in Trance tanzen. Und dabei mitmachen, möchte ich genau so wenig wie bei dem mediterranen Tanz, den ich mir nur eingebildet habe.
7. Januar 2023, Berlin
Die Tochter wäre heute eigentlich zurück nach Irland geflogen. Wenn sie nicht krank wäre. Mit einer rechtsseitigen eitrigen Mandelentzündung. Das Gute daran: Wir müssen nicht um 2 Uhr morgens aufstehen, um die Tochter zum Flughafen zu begleiten, wo ihr Flug nach Dublin um 6.10 Uhr startet. (Zugegebenermaßen fällt einem eine solch positive Sichtweise erheblich leichter, wenn nicht du es bist, dessen rechte Mandel entzündet ist.)
So ist die Tochter noch ein paar Tage länger bei uns und das ist ja auch schön. Abgesehen von der Eitermandel. Die ist nicht so schön. Aber ich schätze, es ist immer noch besser, bei den Eltern krank zu sein, die dich mit Tee, Saft und Suppe versorgen, als alleine in einem Zimmer in Carlow, wo du dich selbst um deine Verpflegung kümmern musst.
Die Tochter hat sich trotzdem schon um einen neuen Flug gekümmert. Ganz kostenbewusst hat sie den absolut günstigsten Flug gebucht. Für 21 Euro. Nächsten Samstag um 6.10 Uhr. Das heißt, wir müssen doch noch um 2 Uhr morgens aufstehen, um sie zum Flughafen zu begleiten. Vielleicht bin ich ja bis dahin krank.
08. Januar 2023, Berlin
Auf unserem Sonntagsspaziergang entdecke ich an einem Laternenpfahl einen Aushang. Auf diesem bietet eine mittelalte, blonde Frau namens Simone Zücker ein „GOLDENES TICKET FÜR DEIN GROSSARTIGSTES DU“ an. Besonders ansprechend finde ich das nicht. Bei mir erwecken die Großbuchstaben den Eindruck, Simone Zücker schreit mir ins Gesicht. Das möchte ich nicht. Außerdem erinnert mich das Goldene Ticket an Willi Wonkas Schokoladenfabrik und den Film fand ich super gruselig. Schließlich bin ich mir nicht sicher, ob das Adjektiv großartig überhaupt gesteigert werden kann. Oder sollte. Wenn du schon großartig bist, warum solltest du dann noch großartiger werden? Oder sogar großartigst?
Auf dem Flyer deutet Frau Zücker an, sie könne dabei helfen, meine geheimen Wünsche und Träume wahr werden zu lassen. Das bezweifle ich aber sehr. Außer sie ist im Besitz eines Rezepts für kalorienfreien, aber trotzdem leckeren Käsekuchen.
Frau Zücker führt gibt verschiedene Access-Kurse, die wahrscheinlich bei dieser Träume-und-Wünsche-Sache und dem großartigsten Du helfen sollen. Zum Beispiel die Access Foundation. Da werden Menschen in einem viertägigen Workshop ermächtigt, „zu wissen, dass und was sie wissen“. Ich höre Sokrates förmlich, wie er sich im Grab gerade fragt: „What?“
Bei dem zweiteiligen Kurs Access Körperprozesse erlernen die Teilnehmer*innen angeblich zwei Körperprozesse:
- Wir laden dein Superleben ein.
- Mutation der Verkörperung
Letzteres lässt mich rätseln, ob der Kurs in einem Abklingbecken eines Atomkraftwerks stattfindet. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob der Flyer Teil eines dadaistischen Kunstprojekts ist oder mithilfe einer künstlichen Intelligenz übersetzt wurde, die jemand programmiert hat, der der deutschen Sprache nicht mächtig ist.
Prinzipiell finde ich es gut, an sich zu arbeiten, sich Ziele zu setzen und sich Sachen vorzunehmen. Für das neue Jahr muss ich mir auch noch ein paar gute Vorsätze überlegen. Einen habe ich nach dem Lesen des Aushangs aber schon: Ich werde 2023 zückerfrei bleiben.
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Christian Hanne, Jahrgang 1975, hat als Kind zu viel Ephraim Kishon gelesen und zu viel “Nackte Kanone” geschaut. Inzwischen lebt er mit seiner Frau und seinen beiden Kindern in Berlin-Moabit. Kulinarisch pflegt er eine obsessive Leidenschaft für Käsekuchen. Sogar mit Rosinen. Ansonsten ist er mental einigermaßen stabil.
Im September erscheint sein neues Buch “Papa braucht ein Fläschchen”. Ebenfalls mehr als zu empfehlen sind “Hilfe, ich werde Papa! Überlebenstipps für werdende Väter”, “Ein Vater greift zur Flasche. Sagenhaftes aus der Elternzeit” sowie “Wenn’s ein Junge wird, nennen wir ihn Judith”*. (*Affiliate-Links)
ach, herrlich mit mediterranem Tanz und einer körperlichen Mutation des großartigsten Ich´s ins neue Jahr (oder auch ins neue Leben) zu starten. ;-)