Föhr 2018 – Tag 2: Tag am Meer. Oder: Das Leben der Anderen

Es ist kurz nach acht, als ich aufwache. Mein Mund ist so trocken, dass die Wüste Gobi dagegen als Feuchtbiotop gelten kann. Ich gehe in die Küche, um eine Glas Wasser zu trinken. Am Esstisch sitzt Beach Body und lutscht an einer Stange Sellerie.

„Schön, dass der Herr Langschläfer auch mal gedenkt, aufzustehen“, begrüßt er mich und schaut missbilligend auf die Wanduhr.

„Hast du schon mal etwas von Urlaub gehört?“, frage ich ihn knurrig.

„Hast du schon mal etwas von Aktiv-Urlaub gehört?“, fragt Beach Body zurück.

„Nein, habe ich nicht und möchte ich auch nicht“, antworte ich genervt. „Außerdem beantwortet man Fragen nicht mit Gegenfragen.“

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Beach Body lässt sich auf keine Diskussionen ein. „Los jetzt, rein in die Sportklamotten. Nur der frühe Vogel fängt den Wurm.“

Da Widerstand zweckloser als bei einer Borg-Invasion zu sein scheint, ziehe ich mich um.

„Heute machen wir eine kleine Fitness-Einheit“, eröffnet mir Beach Body fröhlich, als wir schließlich unten auf der Straße stehen. Der Enthusiasmus in seiner Stimme will so gar nicht zum Inhalt seiner Aussage passen.

„Warum?“ frage ich matt.

„Fitness-Einheiten sind essenziell für deine Strandfigur“, doziert er. „Ohne Schweiß kein Preis.“ Anscheinend hat er heute früh ein Buch mit Kalenderweisheiten auswendig gelernt.

„Aber zuerst mal ein kleines Läufchen, um die Pumpe hochzufahren“, ruft Beach Body und setzt sich in Bewegung. Ich versuche, hinterherzukommen. Es sieht aus, als würde ein Araber-Hengst vorneweg galoppieren und hinterher trottet ein Ackergaul, der gerade ein Feld pflügt.

Nach einem knappen Kilometer hält Beach Body bei ein paar Reckstangen an. „Da wären wir“, ruft er und klatscht in die Hände.

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„Zum Einstimmen machst du erstmal eine gemütliche Runde Wandsitzen.“

Ich schaue ihn fragend an.

„Du lehnst dich an einen der Pfosten von den Reckstangen und beugst deine Knie im 90-Grad-Winkel“, erklärt Beach Body. „Vier Minuten sollten für den Anfang reichen.“

Ich tue, wie mir geheißen wird, Beach Body macht in der Zwischenzeit einbeinige Kniebeugen und singt: „Auf und nieder, immer wieder.“ Nach sechzig Sekunden zittern meine Beine wie eine Nähmaschine, nach neunzig Sekunden kippe ich zur Seite und bleibe liegen.

„Na, na, na!“ tadelt mich Beach Body. „Was ist denn mit dir los? Willst du der Schlappschwanz von Föhr werden?“ Obwohl er mit meiner Performance nicht zufrieden ist, lässt Beach Body mich kurz pausieren. Eine Minute.

„Und jetzt machst du Kniebeugen“, befiehlt er mir barsch. Das hört sich machbar an, denke ich, und gehe in die Knie. Plötzlich springt Beach Body auf meinen Rücken und ruft: „Wir sind hier ja nicht bei der Senioren-Gymnastik.“ Ich wünschte mir, wir wären es, während ich mich mühevoll nach oben drücke. „Jetzt nur noch neunzehn“, brüllt Beach Body in mein Ohr. Nach der vierten Wiederholung breche ich zusammen.

Anschließend lässt mich Beach Body noch Klimmzüge, Sit-Ups und Liegestütz machen, bis ich nur noch wimmernd am Boden kauere. Dann legt er mich über seine Schultern und joggt mit mir zurück zur Ferienwohnung.

„Im Kühlschrank findest du ein paar Selleriestangen“, sagt Beach Body zum Abschied. „Dazu ein lauwarmes Glas Wasser und schon hast du ein leckeres Frühstück, das dir Energie für den Tag bringt.“ Er hebt die Hand zum Gruße und zieht von dannen. Ich strecke ihm die Zunge raus und gehe zum Bäcker.

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Nachdem wir gefrühstückt haben, gehen die Frau und ich kurz vor elf zu unserem Strandkorb. Wie gestern schon geschrieben, sind Strandkörbe ein nicht wegzudenkender Bestandteil am Föhrer Strand. Auf den ersten Blick sind es Sitzgelegenheiten, die Schutz vor Sonne und Wind bieten, aber tatsächlich sind sie viel, viel mehr. Zum einen ist ein Strandkorb ein Ankerpunkt am Strand, der Kontinuität und Sicherheit verspricht. Wenn du morgens zum Strand gehst, weißt du, dass du einen Platz hast und dir nicht erst mühevoll suchen oder gar erkämpfen musst. Zum anderen ist er eine Art Homebase, dein Lager für den Tag, wo du deine Sachen und dein Essen deponierst und wohin du immer wieder zurückkehrst. Dadurch ist er auch ein Refugium, ein Ort, an den du dich zurückziehen kannst, wenn du deine Ruhe haben willst.

Außerdem ist die Lage des Strandkorbes ein Gradmesser für soziale Hierarchie. Je näher dein Strandkorb zum Meer steht, umso höher ist dein Status. In der ersten Reihe gehörst du zur In-Group, zu den Alteingesessenen, zu denen, die Bescheid wissen, und zu denen die anderen aufschauen. Hast du dagegen einen Strandkorb in der letzten Reihe, rangierst du auf der sozialen Leiter ganz unten und musst darauf hoffen, dass dich die Strandkörbler aus den ersten Reihen in die Gemeinschaft aufnehmen.

Nicht zuletzt ist ein Strandkorb eine Stätte der sozialen Begegnung, wo man sich trifft und ein Schwätzchen hält. So ein Strandkorb-Abschnitt am Meer funktioniert quasi wie ein 300-Seelen-Dorf. Man kennt sich („Ach, Hans-Peter, schön, dass du wieder da bist.“), man tauscht sich aus („Was machen die Kinder?“), unterstützt sich gegenseitig („Geh ruhig ins Wasser, ich schaue nach deinen Sachen.“) und kontrolliert die Einhaltung der geltenden, meist informellen, Normen („Denkst du bitte daran, nachher deine leeren Flaschen mitzunehmen. Wäre ja schade, wenn die hier rumliegen.“).

Und für mich ist der Strandkorb ein idealer Ort für nicht-teilnehmende Beobachtungsstudien. Wenn Sie nämlich denken, dass Menschen im Internet freizügig mit ihren persönlichen Informationen umgehen, sollten Sie sich mal in einen Strandkorb setzen. Nach einer halben Stunde wissen sie alles über die Strandbesucher in einem Umkreis von zwanzig Metern. Was sie arbeiten, welche Hobbys sie haben, an welchen Krankheiten sie leiden, was sie gestern gegessen haben, was sie heute essen werden, wo sie herkommen, wie lange sie schon auf der Insel sind, wie lange sie noch bleiben und wann sie das letzte Mal Sex hatten. (Vielleicht sollte ich an die Urlauber in unserem Strandabschnitt meine Datenschutzerklärung verteilen.)

Im Strandkorb rechts von uns sitzt zum Beispiel ein Paar mit einem knapp achtjährigen Sohn. Der Mann ist Anwalt und führt mehrmals am Tag geschäftliche Anrufe. Eigentlich ein Traum. Er hockt am Strand und verdient dabei 400 Euro die Stunde. Eben hat er einem Mandanten erklärt, es gäbe einen Unterschied zwischen ‚nicht dürfen‘ und ‚nicht machen‘. Ob man für solch tautologische Schlichtheiten wirklich vierzehn Semester Jura studieren muss? Oder reicht es, alle Staffeln von ‚Boston Legal‘, ‚Ally McBeal‘ und ‚Suits‘ angeschaut zu haben?

Seine Frau ist an dem Leben der Stars und Sternchen interessiert, was ich aus der Gala, der Bunten und der O.K., die neben ihr im Strandkorb liegen, schließe. Außerdem hat sie kein Verständnis dafür, dass die Radlerhose dieses Jahr wieder als modisch akzeptierte Beinbekleidung gilt. (Ich möchte ihr da zustimmen.) Der Sohn der beiden isst gerne Eis (Schoko und Banane, kein Himbeer und auf gar keinen Fall Zitrone), außerdem Pommes, Pizza und Fischbrötchen sowie Popel.

Im Strandkorb links von uns residiert wiederum eine Familie bestehend aus Vater und Mutter (beide Ende 50, Anfang 60 und mit einem BMI weit oberhalb des Normalbereiches) sowie ihrer Tochter, deren Alter irgendwo zwischen 15 und 20 liegt. Genauer kann ich das nicht eingrenzen, denn ich möchte nicht unnötig lange hinschauen. Das macht ja keinen guten Eindruck, als Anfang 40-jähriger junge Mädchen am Strand anzuglotzen. (Das ist quasi nur eine Stufe von Bums-Urlaub in Thailand machen entfernt.)

Der Vater hat am Bein eine offene Wunde, die aussieht wie die Eingeweide einer überfahrenen Katze. An dieser Verletzung nimmt die Strandkorbgemeinschaft großen Anteil. Immer wieder erscheinen andere Urlauber und erkundigen sich nach dem Wohlbefinden des Mannes. Er gibt bereitwillig Auskunft („Geht schon wieder!“), erzählt von seiner Medikation (irgendeine antibiotische Salbe) und seinen Reha-Maßnahmen (kühlen, schonen, hochlegen). Lediglich wie er sich diese Verletzung zugezogen hat, erfahre ich nicht. Wurde er von einem Hai gebissen? Ist sein Bein in eine Schiffsschraube geraten? Wurde er von Piraten verstümmelt? Keine Angst, ich werde da für Sie dranbleiben.

Im Strandkorb hinter uns sitzen wiederum ein Vater und eine Mutter mit ihrer ungefähr 5-jährigen Tochter. Die Mutter strahlt die Herzlichkeit und Liebenswürdigkeit von Kathy Bates als psychopathische Massenmörderin in ‚Misery‘ aus. Allerdings muss ich ihr zugutehalten, dass sie eine tiefe, sonore Stimme hat, was es mir erheblich erleichtert, ihren Ausführungen zu folgen. Es gibt nämlich nichts nervigeres als leise sprechende Menschen, die ihren Strandkorb von einem wegdrehen, so dass man allenfalls ein paar Gesprächsfetzen aufschnappt und ihren Dialogen kaum folgen kann. Von daher lautet die heutige Lektion: „Wenn dir das Leben flüsternde Strandkorbnachbarn gibt, besorg‘ dir ein Richtmikrofon.“

Auf jeden Fall ist Kathy Bates hinter uns der Meinung, dass ihr Mann zu wenig im Haushalt hilft, sich wie ein fürchterlicher Pascha aufführt und nie auch nur ein bisschen mitdenkt. Der Mann ist von eher schweigsamer Natur und hat zuhause wahrscheinlich nicht viel zu sagen. Die Tochter mag gerne T-Shirts mit Disney-Prinzessinnen und ihre Lieblingsserie ist ‚Paw Patrol‘. Heute Abend gibt es Pellkartoffeln mit Quark.

Vor uns stehen schließlich ein paar Strandkörbe von drei befreundeten Familien. Bei der mittleren kam es gestern zum Eklat, weil die Schwiegermutter nicht damit klar kam, dass das Essen nicht um 19 Uhr, sondern erst um 19.45 Uhr auf dem Tisch stand. Aus den Äußerungen des Vaters entnehme ich, dass es das letzte Mal ist, dass er mit seiner Schwiegermutter in den Urlaub fährt. Seine Frau schaut, als sei darüber noch nicht das letzte Wort gesprochen.

Als wir gegen 18 Uhr den Strand verlassen, nickt mir der versehrte Mann zu unserer linken zum Abschied zu. Morgen werde ich mich wohl erkundigen müssen, ob es mit seinem Bein allmählich besser geht. Ende der Woche werden wir dann mit den Familien vor uns abends picknicken.

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Vom Strand aus gehen wir noch schnell in den Supermarkt. Sie wissen schon, das Nötigste einkaufen, wofür wir wieder eine erstaunlich hohe Summe entrichten müssen. Falls jemand die Nummer von Peter Zwegat kennt, würde ich mich über eine Nachricht freuen. Wobei? Peter Zwegat findet sicherlich, dass zwei Flaschen Sekt nicht zum Nötigsten gehören. Vielleicht will ich seine Nummer lieber doch nicht haben.

Nach dem Abendessen (Zuccini mit Hackfleisch von semi-glücklichen da toten Föhrer Rindern) genehmigen die Frau und ich uns in einer Bar noch einen Apérol Spritz. (Zum Unwillen des Kontos. Und von Peter Zwegat.)

Gute Nacht!

P.S.: Nachdem die Frau nach ihrem – wenn man es denn so ausdrücken möchte – Kniffel-Sieg vom Anreisetag gestern das Kniffeln verweigerte, aus Angst vor meiner Revanche, kam es heute noch zu einem Kniffel-Duell über drei Runden, das mit einem Sieg für beide und einem Unentschieden endete. Da ich aber insgesamt 688 und sie nur 630 Punkte erzielte, gebührt der Tagessieg mir. Um es mit Donald Trump zu sagen: “I won. It was beautiful. Best victory in the world.”

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83 Kommentare zu “Föhr 2018 – Tag 2: Tag am Meer. Oder: Das Leben der Anderen

  1. Im Café Alte Schule in Midlum gibts klasse Kuchen und Torten. Die haben bestimmt auch Käsekuchen, Vielleicht lässt sich der Beach Body ja damit bestechen!? 😁

  2. Beach Body scheint ein klassischer Schinder alter DDR-Schule und zudem des Lesens eines handelsüblichen Kalenders nicht mächtig zu sein. Wegen eines oder beider Gründe konnte und wollte er den 2-Tage-Laufrhythmus nicht einhalten. Angesichts der geforderten Übungen mag aber auch nur ein kleiner Trimmy aus den 70ern in ihm stecken. Schlimm genug!

    Die eindrückliche Beschreibung der Strandkorbnachbarschaft nötigt mir den größten Respekt vor des Blogbetreibers aktuell noch erkennbarer Gelassenheit ab. Letztere wird sich im Folgenden wohl auch am Entzündungsgrad des Beingeweideten. Manche Bevölkerungsteile (gerne Impfgegner, Flacherde- u. Chemtrailgläubige) schwören in solchen Fällen ja auf Schwarze Salbe. Nur als Tipp, falls es dem Korbnachbarn an Unterstützung aus der Strandburgumgebung mangelt.
    Jedenfalls bleibt es spannend und manchmal hofft man vielleicht auch, dass die typischerweise geflüsterten Unterhaltungen aus Wartezimmern (warum auch immer), an Stränden ebenso Einzug halten möchten. Gut für die Entspannung, schlecht gegen Langeweile.
    Da muss man eben entscheiden.
    Ich persönlich bin förmlich schon körperlich mehr gespannt auf die Strandschicksale, als auf kommende Kniffelergebnisse. Man möge mir verzeihen.

  3. gback: fabian.

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