Cassis 2022 – Heimreise (23.07.): Au revoir!

Der alljährliche Urlaubsblog. Nicht live, aber dafür in Farbe und HD. Falls Sie, aus welchen Gründen auch immer, alle Beiträge des Cassis-Blogs lesen möchten, werden Sie hier fündig.


Abreisetag. Traditionell der unschönste Tag des Urlaubs. Dass der Handywecker um 4.45 Uhr klingelt, macht ihn nicht schöner. (Kein Tag wird schöner, wenn du um 4.45 Uhr aus dem Schlaf gerissen wirst.) Das einzig Gute an der frühen Uhrzeit: Die Zikaden schlafen auch noch und ihr tagesfüllendes Plärrkonzert beginnt erst später. Das macht das Letzte-Urlaubstag-Glas zwar nicht halbvoll, aber wenigstens fünf Prozent voll. (Vielleicht auch nur drei Prozent. Oder zwei.)

Wir stehen selbstverständlich nicht freiwillig und aus Spaß an der Freude so früh auf oder um uns selbst zu kasteien. Unser Zug nach Frankfurt fährt um 8.10 Uhr in Marseille los. Um ihn zu erreichen, müssen wir um 6.32 Uhr in Cassis die Regionalbahn nehmen. Theoretisch ginge auch die Bahn um 7. 32 Uhr. Dann kämen wir allerdings nur dreizehn Minuten vor Abfahrt des TGV in Marseille an.

Als lebenserfahrener und übervorsichtiger, immer mit dem Schlimmsten rechnender Mensch ist mir das zu riskant. Dem Sohn, der es für vollkommen ausreichend hält, zwei Minuten vor Abfahrt am Bahnhof zu erscheinen, haben wir verschwiegen, dass es eine spätere Reiseoption gibt. Es hilft ja niemandem, die mühsam erarbeitete Urlaubserholung zu gefährden, indem du fruchtlose Diskussionen mit einem Teenager führst, die du irgendwann diktatorisch beendest, was bei allen Beteiligten zu Frust und schlechter Laune führt.

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Cassis 2022 – Heimreise (23.07.): Au revoir! (Teil 2)

Teil 1


Inzwischen ist es kurz nach halb vier. Nicht mehr lange, bis wir in Frankfurt sind. Die automatisierte Lautsprecherdurchsage verkündet: „Wir sind gleich da.“ Dann schiebt sie leicht passiv-aggressiv nach: „Sicher nichts am Platz liegen gelassen? Ein letzter Blick kann nicht schaden.“

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In Frankfurt kommen wir mit einer knappen Viertelstunde Verspätung an. Unter normalen Umständen würden wir jetzt unseren Anschlusszug verpassen. Die Umstände sind aber tatsächlich normal und er hat ebenfalls fünfzehn Minuten zu spät. Er fährt auf den gleichen Schienen hinter unserem TGV her. Dadurch ist das Umsteigen vollkommen entspannt.

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Im ICE nach Berlin sitzt auf dem 4er-Platz neben unserem ein junger Mann. Er schaut auf seinem Laptop einen Film. Plötzlich steht ein älterer Herr auf, der in der Reihe dahinter sitzt, tritt in den Gang und fragt: „Ist das Taxi Teheran?“ Der junge Mann bejaht das.

Daraufhin startet der Senior einen längeren Vortrag darüber, wie phantastisch der Film sei, was für eine famose schauspielerische Leistung Hana Saeidi abgeliefert hätte, dass der Regisseur Jafar Panahi 2015 auf der Berlinale mit dem Goldenen Bären ausgezeichnet worden sei – zu Recht wie der ältere Mann betont – und dass er nun leider im Iran im Gefängnis säße.

Der junge Mann nickt zunächst immer wieder höflich. Mit zunehmender Dauer des cineastischen Spontanreferats schaut er allerdings immer gequälter. Wahrscheinlich würde er sich gerne selbst einen Eindruck davon machen, wie phantastisch der Film ist, welch famose schauspielerische Leistung die Hana Saeidi abgeliefert hat und Jafar Panahi tatsächlich zu Recht den Goldenen Bären bekommen hat.

Sachen, die wir während des Urlaubs nicht gemacht haben

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Um kurz nach halb neun fährt unser Zug am Berliner Hauptbahnhof ein. Mit dem Bus fahren wir nach Moabit, am Otto-Spielplatz steigen wir aus und gehen den restlichen Weg nach Hause.

Auf einer Bank sitzt ein angetrunkener Obdachloser. Er schaut mich an und lacht. Dann steht er auf und singt aus voller Brust: „Strangers in the night!”

Schön, wieder daheim zu sein.

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Vielen Dank an alle, die tapfer durchgehalten, täglich den Urlaubsblog gelesen und hier oder bei Facebook fleißig kommentiert haben. Und ebenfalls vielen Dank, dass Sie über Orthographie-, Interpunktions- und Grammatikfehler sowie jegliche Ungereimtheiten und Inkonsistenzen großzügig hinweggeschaut haben. (Ist ja alles kostenlos hier.)

Falls Ihnen die Texte gefallen haben, haben Sie vielleicht auch Spaß an einem meiner Bücher. (Oder an allen.) Falls Ihnen die Texte nicht gefallen haben, haben Sie vielleicht Freude daran, meine Bücher an Menschen zu verschenken, die Sie nicht leiden können.

Sollten Ihnen die Texte gefallen haben, aber Sie haben gerade keine zehn Euro zur Verfügung, würde ich mich über ein paar Sterne beim großen A freuen. Wir finden natürlich alle, dass Jeff Bezos doof ist, aber leider sind für uns Autor*innen, die nicht jährlich 4,3 Milliarden Bücher verkaufen, diese Bewertungen leider ziemlich wichtig. Das ist auch gar nicht schwierig, sie zu schreiben und tut auch nicht weh. Ich hatte das auch schon mal ausprobiert.

Merci!


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Cassis 2022 – Tag 14 (22.07.): Ein letztes Mal

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Der letzte Urlaubstag und damit der letzte morgendliche Lauf. Was die Strecke angeht, gilt heute: Keine Experimente! Da halte ich es ganz mit der 50er-Jahre-CDU. (Ein Satz, von dem ich auch nicht gedacht hätte, dass ich ihn mal schreibe.) Nach gestern möchte ich aber nicht noch einmal so einen gebirgspfadartigen Weg laufen. Meine Sehnen, Bänder und Gelenke auch nicht.

Stattdessen quäle ich mich noch ein letztes Mal die Bahnhofsberg-Waldweg-Villenviertel-Strecke hoch. Um der guten alten Zeiten willen. Eine Idee, die auch so CDUig klingt. Und ziemlich bescheuert ist. Du gehst ja auch nicht zu deinem alten Klassenkameraden, der dich früher gemobbt hat, damit er dir um der guten alten Zeiten willen nochmal eine reinhaut.

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Cassis 2022 – Tag 14 (22.07.): Ein letztes Mal (Teil 2)

Teil 1


Ein letztes Mal zum Supermarkt. Proviant für die Heimreise morgen kaufen.

Nach einer Viertelstunde liegen in unserem Wagen drei Toastbrote, Käse, Schinken, Butter, Kekse mit Schokostückchen, Kekse mit Schokoüberzug, Waffelröllchen mit Schokoüberzug, belgische Waffeln, eine Packung mit kleinen Brioches, eine Packung mit einem großen Brioche, Chips mit Salt and Vinegar, Chips ohne alles, Eistee, Orangina light und Cola Zero. Die Tochter meint, wir würden wie Dreijährige einkaufen, die sonst nie zuckerhaltige Lebensmittel essen dürften, heute aber die Erlaubnis bekommen hätten, alles auszusuchen, worauf sie Lust haben.

Gut, unser Einkaufswageninhalt mag zwar nicht den neuesten ernährungswissenschaftlichen Erkenntnissen über eine gesunde und ausgewogene Ernährung entsprechen, aber er hat doch etwas Gutes: Das erste Mal in zwei Wochen liegt unser Einkauf im zweistelligen Bereich.

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Ein letztes Mal am Strand. Bei unserem ersten Besuch hier hatte ich von den Vorzügen des Steinstrands geschwärmt. Du liegst erstaunlich bequem und hast keinen Sand-to-go in der Ferienwohnung. (Und vor allem nicht in deinem Koffer, wo du ihn ein Jahr später vor dem nächsten Urlaub wiederfindest.)

Die Kinder am Strand stören sich nicht daran, dass es keinen Sand gibt, um Burgen zu bauen und Kuchen zu backen. Sie spielen stattdessen mit den Steinen. Am Wasser steht zum Beispiel ein kleiner Junge, der einen ungefähr kindskopfgroßen Stein immer wieder mit voller Wucht auf einen kleineren Stein wirft. Wahrscheinlich hofft er, dass der am Boden liegende Stein zerschmettert wird. Ich befürchte allerdings, dass er sich eher seinen Fuß zerschmettert.

Neben dem Jungen spielt ein kleines Mädchen ebenfalls mit den Steinen. Allerdings ein sehr spezielles Spiel. Energisch kommandiert sie ihren Papa herum, ihr in einem Eimerchen immer wieder neue Steine zu bringen. Dabei muss er jedes Mal einen anderen Eimer nehmen. Die Kleine hat erstaunlich viele davon. (Fast so viele wie wir Beach-Tennis-Sets.) Nimmt der Vater aus Versehen doch mal den gleichen Eimer, weist sie ihn mit der Freundlichkeit eines Navy-Seals-Ausbilders auf sein Missgeschick hin. Das Ganze sieht ein bisschen so aus, als schuftete der Vater in einem Gefängnissteinbruch. Wobei der Umgang dort wahrscheinlich weniger rau ist.

Während der Papa Steine schleppt, kümmert sich das Mädchen liebevoll um ihre Babypuppe. Diese strahlt mit ihrem fratzenhaften Gesicht, den weit aufgerissenen Augen und dem leicht geöffneten Mund starke Chucky-Vibes aus. Sollte ich heute Nacht schlecht träumen, weiß ich wovon.

Neben unserem Platz sitz ein Mann mit einem kleinen bunten Sonnenschirm auf dem Kopf. Ob er den wohl ironisch trägt? Oder hat er ihn heute Morgen aufgesetzt, sich im Spiegel angeschaut und gedacht: „Wie praktisch. Der Hut schützt mich vor der Sonne und sieht auch noch super aus!“

Etwas entfernt von uns sitzt ein anderes kleines Mädchen in einem Planschbecken. Einem mit Wasser gefüllten Planschbecken. Auf dem Strand. Im ersten Moment irritiert mich das, aber bei längerem Überlegen ist das eigentlich eine gar nicht so schlechte Idee. Da hast du als Eltern Gewissheit, dass dein Kind sicher ist und du musst nicht die ganze Zeit aufpassen, damit ihm im Meer nichts passiert. Aber skurril ist es trotzdem. Ein Planschbecken mit an den Strand zu nehmen, ist wie mit deinem Kind ins Kino zu gehen und ihm dann auf dem Tablet einen anderen Film zu zeigen.

Als wir den Strand verlassen kommt mir eine kleine rundliche Frau entgegen. Auf ihrem T-Shirt steht „Colour of Joy“. Das T-Shirt ist grau. Genau mein Humor.

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Auf dem Heimweg vom Strand werde ich Zeuge eines Verbrechens. Eine junge Frau macht sich einer großen Verletzung der sehr strengen Kleidervorschriften in Cassis schuldig. Hier weisen alle paar Meter Schilder darauf hin, dass du als Mann nicht oberkörperfrei und als Frau nicht im Bikini rumlaufen sollst. Die Hinweise gehen da nicht ins Detail, aber ich glaube, Männer dürfen auch nicht im Bikini und Frauen nicht oben ohne durch den Ort flanieren.

Zuwiderhandlungen kosten 38 Euro. 38 Euro ist eine merkwürdig krumme Summe. Fast wie Lebensmittel, die immer Irgendwas Komma 99 kosten. Um unter der psychologischen Kaufschwelle zu bleiben. Vielleicht ist das hier bei der Strafgebühr auch so. Weil sie unter 40 Euro liegt, verstoßen die Menschen häufiger gegen die Vorschriften und die Stadt nimmt mehr ein. Sehr clever!

Die junge Frau trägt Bikini und darüber ein Strandkleid, das vorne geöffnet ist. Ein städtischer Sicherheitsmann bittet sie höflich, das Kleid zuzuknöpfen. Sie leistet seiner Aufforderung sofort folge Allerdings ist das Strandkleid eher ein dünnes Nichts, so dass der Bikini darunter immer noch zu erkennen ist. Eigentlich sieht er jetzt noch aufreizender aus, als wenn sie vollkommen entblößt rumliefe. Aber Vorschrift ist Vorschrift!

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Möglicherweise fragen Sie sich, ob wir gar kein Eis im Urlaub gegessen haben. (Sehr wahrscheinlich ist Ihnen das vollkommen wumpe, aber es macht ein schönes Gefühl, sich vorzustellen, Sie beschäftigten sich eingehend mit meinen Beiträgen.) Das haben wir tatsächlich nicht getan.

Das liegt nicht daran, weil es einen Mangel an Eisdielen in Cassis gibt. Der Grund sind die unfassbar teuren Eis-Preise. Die günstigste Kugel Eis, die ich im Ort entdeckt habe, liegt bei 2,50 Euro. Das lässt die Verwendung des Wortes günstig etwas unangemessen erscheinen. Dabei handelt es sich nicht um Kugeln in Handballgröße, sondern um durchschnittlich große Eiskugeln. In einem Laden wird sogar 3,60 Euro für die Kugel verlang. Auch dort werden keine kürbisgroßen Eise über die Theke gereicht.

In einem anderen Laden formen die Verkläufer*innen das Eis zu detailgetreuen Blumen. Das ist aufwändig, sieht schön aus und für dieses Eis-Kunsthandwerk ist ein Preis von 2,80 Euro nicht unangemessen. Aber machen wir uns nichts vor: nach zehn Sekunden ist das auch nur noch ein stinknormales Eis.

Normalerweise bin ich ein eher sparsamer Mensch, aber im Urlaub genieße ich das Privileg, nicht auf jeden Cent achten zu müssen. (Die Urlaubskasse runzelt die Stirn. „What?“) Aber bei zwei fuffzig für `ne Kugel Eis ist meine Schmerzgrenze erreicht.

Früher gab es bei uns im Ort das Eiscafé Venezia. (Natürlich hieß das so. Wie auch sonst?) Dort kostete die Kugel Eis 50 Pfennig. 50 Pfennig! Ich behalte das hier aber für mich. Immer wenn ich davon erzähle, und das ist ziemlich oft der Fall, bekommen die Kinder so einen glasigen Tunnelblick. (Die Brausebonbons beim Bäcker haben damals auch nur zwei Pfennig gekostet, aber das ist eine andere Geschichte, die noch uninteressanter ist als die historische Eiskugelpreis-Entwicklung.)

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Apropos Eis. Kommen wir zum Kniffel-Turnier. Das endet mit einer riesigen Enttäuschung für mich. Nicht weil mir doch noch der Gesamtsieg entrissen wird. Das passiert nicht. Im Gegenteil, ich gewinne mit dem größten Vorsprung seit der Aufzeichnung unseres Urlaub-Kniffel-Turniers – und das schreibe ich mit der gebotenen und mir innewohnenden Bescheidenheit.

Ob dieses Triumphs hatte ich eigentlich erwartet, dass Konfetti von der Decke fällt, Champagnerkorken knallen, Raketen starten und die Familie mich auf den Schultern durch die Wohnung und dann durch die Straßen von Cassis trägt, bis die Bürgermeisterin mich am Rathaus empfängt, wo ich die Stadt beehre, indem ich mich als Kniffel-Champion ins Goldene Buch eintrage.

Zu meiner großen Irritation – und sicherlich auch der meiner treuen Stammleser+innen – geschieht nichts dergleichen. Die Familie nimmt meinen geschichtsträchtigen Sieg mit einer Mischung aus Desinteresse und Geringschätzung zur Kenntnis.

Ist mir aber egal. In Berlin lasse ich mir den Kniffel-Pokal mit Spaghetti-Eis füllen.


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Cassis 2022 – Tag 13 (21.07.): The boat that rocked

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„Fuck, fuck, fuck! Warum ist das hier so steil und rutschig? Fuck, fuck, fuck!“ Eine Frage, die ich mir bei meinem morgendlichen Lauf stelle und nicht beantworten kann. Dazu fehlt mir das geographische und geologische Wissen über die Entstehung und Entwicklung der südfranzösischen Topographie.

Ohnehin müsste die Frage eher lauten: „Fuck, fuck, fuck! Warum bin ich so bescheuert, hier zu laufen, wo es so steil und rutschig ist? Fuck, fuck, fuck!“ Wobei ich auch dies nicht beantworten kann, weil mir dazu das psychoanalytische und entwicklungspsychologische Wissen fehlt.

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Cassis 2022 – Tag 13 (21.07.): The boat that rocked (Teil 2)

Teil 1


Es kamen weitere Wellen – ich verbitte mir, in diesem Zusammenhang von Wellchen zu sprechen – und das Boot schwankte weiter. Dabei dachte ich daran, wo meine Bootaversion herkommt. Mit ungefähr zehn machte ich mit meinem Vater, meinem Bruder, einem befreundeten Vater und seinen beiden Töchtern eine Kanutour. Gegen Ende des Ausflugs versuchten wir, vom Altrhein in den Rhein zu fahren. Der Rhein hatte dagegen etwas einzuwenden und wir kenterten. Das hört sich etwas dramatischer an, als es war. Aber ich bin dabei mit dem Kopf unter Wasser gekommen und aufmerksamen Leser*innen ist meine ablehnende Haltung zu den Themen Wasser, Kopf und unter hinlänglich bekannt. Da war schon klar, das zwischen mir und Booten keine große Freundschaft entstehen würde.

In der 8. Klasse war ich dann auf Klassenfahrt auf Norderney. Da wollten damals einen Tagesausflug nach Helgoland machen. Das führte zu meinem nächsten Erlebnis, das mein distanziertes Verhältnis zu Bootsaufenthalten verstärkte.

Helgoland soll sehr schön sein. Ich weiß das aber nur aus Erzählungen, denn wir sind dort nie angekommen. Möglicherweise denken Sie jetzt: „OMG, die Fähre ist gekentert. Wieviel Pech kann ein Mensch haben, dass ihm so etwas zweimal passiert? Trotzdem eine geile Geschichte, also erzähl gefälligst weiter!“

Da muss ich sie leider enttäuschen. Das Boot ging nicht unter, sondern der Wellengang war so stark, dass wir nach einer knappen Stunde umdrehten. Außer unserer Klasse war unter anderem eine Gruppe von Seniorinnen an Bord. Die kotzten so viel, dass der Kapitän Angst um ihre Gesundheit hatte und die Fahrt abbrach.

Nachdem wir den Hafen wieder erreichten und die Fähre verlassen konnten, knieten mein Freund Patrick und ich uns auf den Boden und küssten diesen. Als Achtklässler bist du dir für große Gesten ja nicht zu schade.  man ja den Hang zu großen Gesten. Und was dem damaligen Papst recht war, sollte uns nur billig sein.

Heute ist der Seegang nicht so stark, dass sich die mitfahrenden Senioren übergeben müssen. Das Meer ist aber auch nicht vollkommen ruhig. Zumindest in meiner Wahrnehmung. Da gibt es schon immer wieder Wellen. Zwar eher kleine Wellen, aber immerhin stark genug, um das Boot von vorne nach hinten und von links nach rechts zum Schwanken zu bringen.

Ich mache mir deshalb folgende Gedanken:

  1. Sind wir nahe genug am Ufer, dass ich dort hinschwimmen könnte, falls das Boot kentert?
  2. Wäre ich dort in der Lage, an Land zu klettern, oder gibt es da nur extrem steile Böschungen, die ich nicht hochkomme, so dass das Ufer für mich nicht das rettende, sondern das tödliche ist?
  3. Könnte ich eine Nacht oder mehrere Tage am Ufer und auf den Klippen überleben?
  4. Gibt es unter den Passagieren jemanden, der aussieht als sei er auf einer einsamen Insel noch nutzloser als ich, so dass er vor mir von den anderen aufgegessen wird?

Während ich quasi eine Nahtoderfahrung habe, fahren wir an einer wunderschönen, malerischen Kulisse vorbei. Mit vielen Klippen, aber auch viel Grün und einigen Bäumen, mit blauem Himmel und blauem Wasser. Das Einzige, was die Idylle stört, sind die ständigen Wellen. (HERRGOTT NOCHMAL, DAS SIND KEINE WELLCHEN!!!)

Der Wind und das Wasser haben in tausenden von Jahren die Felsen zu bizarren Skulpturen verformt. Ab und an gibt es kleine Felsvorsprünge und Höhlen. Sieht ein bisschen aus wie die Szenerie eines Fünf-Freunde-Films und ich erwarte jeden Moment, dass irgendwo Timmy auftaucht. (Oder hieß der Tommy? Egal, Hauptsache nicht Jonas, Peter oder Bob.)

In den Buchten ist das Wasser so klar, dass du bis auf den Boden schauen kannst. Außerdem ist das Wasser spiegelglatt. Da gibt es keinerlei Wellen – nicht einmal Wellchen – und das Boot neigt sich keinen Millimeter. Hier gefällt es mir.

Auf den Felsen und Klippen stehen immer mal wieder vereinzelt Häuser. Von dort hast du bestimmt einen phantastischen Meerblick. Dafür ist die ÖPNV-Anbindung katastrophal.

Meine Freude über das ruhige Wasser währt nicht lange. Eine Stunde ist rum und wir fahren zurück. Durch die Wellen. Das Boot wackelt. Ich stemme mich mit den Füßen in den Boden und halte mich mit krampfigen Händen an der Vorderbank fest. Das gibt mir Stabilität und Halt und ein trügerisches Gefühl von Sicherheit. Sogar ein selbstbetrügerisches. Sollte die Fähre kentern – die Chance liegt bei ungefähr 0,0000214 Promille – hilft es mir rein gar nichts, mich an die Bank zu klammern. Die Chance, dass mir das etwas hilft, liegt bei 0,000000000000000719 Promille.

Um mich von dem Wackeln und Schaukeln des Bootes abzuhalten, fange ich an zu zählen. 1, 2, 3, 4, 5, … Zahlen sind gut. … 37, 38, 39, 40, 41, … Zahlen schwanken nicht, … 163, 164, 165, 166, 167, … Zahlen wackeln nicht, … 488, 489, 490, 491, 492, … Zahlen neigen sich nicht, … 1.317, 1.318, 1.319, 1.320, 1.321, … Zahlen bewegen sich nicht, … 1.844, 1.845, 1.846, 1.847, 1.848, … Zahlen gehen einfach regungslos immer weiter und weiter und weiter, … 2.125, 2.126, 2.127, 2.128, 1.229, …

Bei 2.711 erreichen wir endlich den Hafen. Diesmal verzichte ich darauf, den Boden zu küssen. Das kannst du als Achtklässler machen, mit Mitte 40 ist es das etwas zu melodramatisch.

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Ich möchte Sie nicht langweilen, aber ich muss Ihnen von unserem Kniffel-Turnier von einem weiteren Sieg meinerseits berichten. Dabei hatte ich nur 245 Punkte. Das ist nicht übermäßig viel. Das kann man durchaus übertreffen. Dazu müsste man halt auch mal einen Kniffel werfen. Hat aber niemand vom Rest der Familie. Dann kann ich es auch nicht ändern.

Vor dem letzten Spiel habe ich 288 Punkte Vorsprung vor dem Sohn. Ich fühle das Metall des Pokals in meinen Händen und schmecke das Spaghettieis in meinem Mund.


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Cassis 2022 – Tag 12 (20.07.): Türlich, türlich!

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Ich laufe durch das Villenviertel hinter dem Waldweg und in meinem Kopf singt es: „Schweiß, Schweiß, Baby. Schweiß, Schweiß, Baby.“

Sorry, ich komm nochmal rein.

Ich laufe durch das Villenviertel hinter dem Waldweg und in meinem Kopf singt es: „Like Schweiß in the sunshine!“

CUT! Nochmal von vorne. Und ACTION!

Ich laufe durch das Villenviertel hinter dem Waldweg und in meinem Kopf singt es: „I’ve had the Schweiß of my life!“

Egal, das bleibt jetzt so. Ist ja kostenlos.

Am Ende des Villenviertels ist die Straße leicht abschüssig. Das ist ungewohnt, aber auch mal ganz schön.

Da ich mir heute 16,5 Kilometer auferlegt habe – bitte sagen Sie nichts –, erreiche ich heute einen Nachbarort von Cassis. Auf dem Schild am Ortseingang steht Roquefort. Wie cool ist es bitte schön, in einem Ort zu wohnen, der wie ein Käse heißt? Noch cooler wäre es nur, in einem Käse zu wohnen. Oder in einem Käsekuchen. (Auch wenn der wahrscheinlich sehr schwer sauber zu halten ist.)

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Cassis 2022 – Tag 12 (20.07.): Türlich, türlich! (Teil 2)

Teil 1


In zwei Tagen endet unser Urlaub. Es ist an der Zeit, uns um Mitbringsel zu kümmern. Schließlich heißt es nicht umsonst: “Urlaubsgeschenke erhalten die Freundschaft.” Außerdem erhöhen sie die Wahrscheinlichkeit, dass deine Eltern ihr Geld später dir vererben und nicht ans örtliche Tierheim spenden.

Als erstes gehen wir in einen Laden, in dem es Gebäck und Kekse aus der Provence gibt. Gebäck ist immer gut. Das besteht aus viel Fett und Zucker. Da legt der Körper nach dem Verzehr den Turbo bei der Glückshormonproduktion ein. Wer würde sich nicht über ein Päckchen Kekse als Urlaubsmitbringsel freuen? Menschen mit Glutenunverträglichkeit. Aber darunter leidet in unseren Familien glücklicherweise niemand.

Wer sich auch nicht freut, ist die Urlaubskasse. Ein Paket Kekse kostet 25 Euro. Und wir reden hier nicht von einem Schrankkoffer voller Gebäck, sondern von einer 500-Gramm-Packung. Schon der Gedanke an den Preis ist ein schwerer Schlag für die Glückshormonproduktion. Um die wieder anzukurbeln, müsstest du eigentlich die Kekse essen, die dir aber zu teuer sind, was dich noch unglücklicher macht. Es ist ein Teufelskreis.

Auf der anderen Straßenseite befindet sich ein Feinkostgeschäft. Davor steht – wie jeden Tag – ein Mann und bietet Probierhäppchen an. Was er genau auf seinem Tablett hat, weiß ich nicht. Ich bin immer schnell an ihm vorbeigehuscht, weil ich Angst hatte, dass er mich ansprechen könnte.

Der Mann trägt eine schwarze Schürze aus dickem Stoff, in die mit goldenem Faden der Name und das Logo des Geschäfts gestickt ist. Ein sicheres Zeichen, dass das Angebot dort sehr hochpreisig ist. Oder haben Sie in einem 1-Euro-Shop schon mal Verkäufer*innen gesehen, die mit Gold bestickte Schürzen tragen? Genau.

Das Schaufenster des Feinkostladens ist sehr edel dekoriert. Ein weiteres Indiz dafür, dass wir dort keine Mitbringsel in unserer Preiskategorie finden. Gegen die Produkte dort, sind die 25-Euro-Kekse billiger Tand.

Stattdessen gehen wir in einen Seifenladen. Seife zu verschenken ist natürlich etwas grenzwertig. Das kann leicht missverstanden werden. (Oder genau richtig.)

Die Seifen sind in großen Stücken sehr verkaufsanregend angerichtet. Sie riechen nach Erdbeere, Himbeere, Apfel, Pfirsich, Mango, Joghurt, Zimt, Vanille und vielem mehr. Bei meinem Friseurbesuch hatte ich geschrieben, dass ich kein Freund von nach Obst duftenden Shampoos bin. Hier riecht das aber alles sehr lecker. Vor allem die Zitronenseife. Die sieht auch aus wie eine Zitrone. Ein Grund mehr, gleich drei Stück davon in unseren Korb zu packen.

Damit uns die Mitbringsel-Optionen nicht ausgehen, hatte ich beim Betreten des Ladens beschlossen, nicht auf die Preise zu schauen. Das war ein ziemlich cleverer Move. So kommt mir das alles total billig vor. (Fast schon geschenkt.) Um diese Illusion nicht zu zerstören, lasse ich meine Frau alleine zur Kasse gehen.

Zum Schluss holen wir uns in einem klassischen Souvenirgeschäft noch einen Kühlschrankmagneten mit einem Bild von Cassis. Das machen wir schon seit Jahren im Urlaub. Also, wir holen uns nicht überall einen Kühlschrankmagneten mit einem Bild von Cassis, sondern mit einem Motiv von dem jeweiligen Urlaubsort. Dies zur Erläuterung, falls Sie das falsch verstanden haben. (Reißen Sie sich bitte zusammen und konzentrieren Sie sich. Es sind nur noch drei Beiträge, die sie lesen müssen!)

Unser Kühlschrank wimmelt inzwischen nur so von Magneten. Eigentlich haben wir gar nicht so viele Sachen, die wir aufhängen können. Schließlich gehen die Tochter und der Sohn schon lange nicht mehr in die Kita. Deswegen bringen sie auch nicht mehr täglich selbstgemalte Bilder vom Umfang des Berliner Telefonbuchs mit. (Falls Sie sich fragen, was ein Telefonbuch ist, sind Sie nach 2004 geboren. Aber dann lesen Sie das hier ohnehin nicht. Oder Sie haben nie ein Telefon besessen, weil Sie Amish sind. Dann lesen Sie das hier aber ebenfalls nicht.)

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Die Würfel sind uns beim Kniffeln heute nicht gewogen. Mir reichen bescheidene 229 Punkte, um Erster zu werden. Schon mein sechster Tagessieg. Damit habe ich 50 Prozent aller Spiele gewonnen. Aber das nur am Rande. Sie sollen nicht den Eindruck bekommen, dass ich mich mit meinen Kniffelerfolgen brüste, weil ich sonst nichts zum Brüsten habe. Das stimmt aber nicht. Ich kann auch einen recht leckeren Käsekuchen backen.


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Cassis 2022 – Tag 10 (18.07.): Je ne parle pas français. Really not.

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Kurz nach 8. Bin etwas früher aufgewacht als gestern, bleibe aber noch liegen. Erstens ist das Bett bequem – wenngleich es nicht mit einer Brioches-Matratze punkten kann – zweitens muss ich dann keine Berge hoch joggen, und drittens hat es hier keine 35 Grad, sondern ist erfrischend kühl. Für letzteres sorgt die Klimaanlage in unserem Schlafzimmer.

Die Klimaanlage läuft die ganze Nacht, was mir ein wenig ein schlechtes Öko-Gewissen macht. (Stichwort Stromverbrauch, CO2-Ausstoß usw.) Wir kühlen unseren Raum runter und heizen dadurch den Planeten auf, so dass er für unsere Ur-Ur-Enkel*innen unbewohnbar wird. (Vielleicht schon für unsere Ur-Enkel*innen. Sorry!)

Klimaanlagen sind zwar nicht gut fürs Öko-Karma, aber leider für angenehme Raumtemperaturen. Ohne sie hätten wir sehr unwirtliche Schlafbedingungen und würden über Nacht ganz langsam gegart. Wobei das ja eine sehr schonende und bekömmliche Kochmethode sein soll. (Leckere „Pulled Human“-Rezepte finden Sie im Dark-Web auf meinem Kochblog „Grilling them softly“.) (Verstörende Sätze wie diese sind der Grund, dass auch am Tag 10 dieser Urlaubsblog immer noch kostenfrei ist.)

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Cassis 2022 – Tag 10 (18.07.): Je ne parle pas français. Really not. (Teil 2)

Teil 1


Heute gehen wir ausnahmsweise nicht zu unserem Stamm-Supermarkt. Stattdessen machen wir ein paar Besorgungen in einem der kleineren Tante-Emma-Märkte, an dem wir auf dem Rückweg vom Strand vorbeikommen.

Am Eingang begrüßt uns ein außerordentlich freundlicher Security-Mann und erklärt etwas auf Französisch. Ich antworte mit meinem akzentfreien „Je ne parle pas français.“ Daraufhin erklärt uns der Mann in einem Mix aus einzelnen englischen Worten, pantomimischen Handbewegungen in bester Marcel-Marceau-Tradition sowie etwas, das nach Breakdance-Moves aussieht, wir dürften unsere Strandtaschen nicht mit in den Laden nehmen.

Meine Frau und ich gehen strandtaschenlos durch den Laden und besorgen unsere Sachen, die sich wieder am Prinzip „nur das Allernötigste“ orientieren. Neben Wasser, Brioches und Schoko-Creme noch ein paar Knabbereien für den Abend sowie eisgekühlte Softdrinks, die unser Überleben auf dem steilen Anstieg zu unserer Ferienwohnung sichern sollen.

Aus den Augenwinkeln sehe ich, wie der Security-Mann in der Obstabteilung der Tochter irgendetwas erzählt. Ich komme ihr zu Hilfe. Wenn ich ihn richtig verstehe, sind die Honigmelonen im Angebot. 3 Stück für 10 Euro. Ich habe keine Ahnung, ob das ein guter Deal ist. Es ist schon sehr lange her, dass ich Honigmelonen gekauft habe. Um ehrlich zu sein, erinnere ich mich nicht, ob ich überhaupt jemals Honigmelonen gekauft habe.

Der Security-Mann lässt sich durch mein „Merci, non, merci“ nicht aus der Ruhe bringen. Er erklärt uns, welches Obst in der Auslage aus der Region kommt. Aprikosen, helle Trauben, dunkle Trauben und die bereits von ihm angepriesenen Honigmelonen. Smalltalken gehört nicht gerade zu meinen Stärken – eine Formulierung, die davon ablenken soll, dass ich über die Small-Talk-Fähigkeiten einer Schrankwand „Eiche rustikal“ verfüge. Daher weiß ich nicht so recht, was ich sagen soll. Im Französischen noch weniger als im Deutschen. Ich werfe einfach an Stellen, die mir am wenigsten unpassend erscheinen, einzelne Worte ein. In erster Linie englische Vokabeln, die ich französisch ausspreche. Wahrscheinlich wundert sich der Security-Mann, warum ich Elbisch rede.

Das hält ihn nicht davon ab, unsere „Unterhaltung“ fortzuführen. Er fragt, wo wir herkommen. „Allemagne“, antworte ich. Seine Augen leuchten. „Ah, die Mannschaft!“, ruft er. Wenigstens einer, der den DFB-Marketingclaim für die deutsche Männermannschaft übernommen hat. Da wird sich Oliver Bierhoff freuen.

Dann fragt er mich: „Bayern?” Ich denke, er will wissen, wo in Deutschland wir wohnen. Also erwidere ich „Non, Berlin.“ Das war aber ein Missverständnis meinerseits, denn er wollte wissen, ob ich Bayern-Fan bin. Nun denkt er, ich bin Berlin-Anhänger. Er verzieht das Gesicht und sagt „Hertha bäh!” Dazu macht er eine wegwerfende Handbewegung.

Das verstehe ich sehr gut, denn ich hege auch keinerlei Sympathien für Hertha BSC. Deswegen sage ich „Hertha non“ und mache dazu eine linkische Daumenbewegung nach unten. Wahrscheinlich hält der Security-Mann mich jetzt für einen rückgratlosen Lappen, der seinen Lieblingsverein verleugnet und ihm nach dem Mund redet. Diesen unschmeichelhaften Eindruck verstärke ich, indem ich „Bayern top“ sage. Dabei bewege ich den Daumen nach oben. Hoffentlich ist das in Frankreich keine obszöne Geste à la „Ich steck dir meinen Daumen in den Po.“

Der Security-Mann nickt aber anerkennend und sagt „Bayern monster.“ Wenn ich nicht vollkommen falsch liege, erzählt er dann, dass er Müller gut findet und die Bayern mal im Velodrom, dem Stadion von Olympique Marseille, gesehen hat. Anstatt mich langsam aus der Unterhaltung zu stehlen, fühle ich mich bemüßigt, ihn auch nach seinem Lieblingsclub zu fragen: „Favourite club toi?“ Das hört sich an, als könnte ich nicht nur kein Französisch, sondern auch kein Englisch. Und wahrscheinlich nicht einmal Deutsch.

Die Tochter steht derweil mit regungslosem Gesichtsausdruck neben mir. Wahrscheinlich würde sie gerne gehen, aber meine Interaktion mit dem Sicherheitsmann ist wie ein Autounfall, bei dem du nicht wegschauen kannst.

Meine kryptische Frage löst bei dem Security-Mann einen Redeschwall aus, von dem ich Null Komma Nichts verstehe. Damit ich nicht vollkommen nutzlos rumstehe, werfe ich ab und an ein „Oui“ ein. Diese sinnentleerte Zustimmung animiert in ungünstigerweise, seinen Monolog fortzuführen.

Ein ehemaliger Kollege, der früher im diplomatischen Dienst gearbeitet hat, hat mir mal erklärt, dass du beim Smalltalk immer eine Exit-Option parat haben solltest, durch die du die Unterhaltung elegant verlassen kannst. Fieberhaft suche ich jetzt nach einem geschmeidigen Gesprächsausstieg. Ich könnte mich mit Benzin übergießen und anzünden. Das wäre aber vielleicht ein wenig zu radikal. Stattdessen wähle ich einen nur geringfügig eleganteren Abgang: Ich deute auf mein Handgelenk, an dem sich allerdings gar keine Armbanduhr befindet, und sage „Pardon.“ Dann nehme ich drei Honigmelonen und gehe zur Kasse.

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Nach ihrem gestrigen Premieren-Kniffelsieg legt die Tochter heute mit einer 314er-Runde nach. Das reicht trotzdem nicht zum Tagessieg. Den hole ich mir dank eines Doppel-Kniffels. Trotzdem komme ich nur auf 348 Punkte. Das liegt am verpassten Bonus im oberen und einem gestrichenen Viererpasch im unteren Teil. Der Rest der Familie findet dafür aber keine Worte des Bedauerns und des Mitgefühls. Diese emotionale Kälte, ist der Preis, den du als Führender für deinen Erfolg bezahlen musst.

Der Sohn überholt seine Mutter und ist als Zweitplatzierter nun mein ärgster Verfolger. Wobei mir bei einem Rückstand von 400 Punkten, die Bezeichnung „ärgster Verfolger“ nicht ganz passend erscheint. Fast schon irreführend. Möglicherweise sind solche Sätze der Grund für die emotionale Kälte, die mir meine „Mit“spieler*innen entgegenbringen.


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