Zum Sonntagabend gibt es meine semi-originellen Gedanken und semi-spannenden Erlebnisse aus der abgelaufenen Woche. Manchmal banal, häufig trivial, meistens egal.
09. Mai 2022, Berlin
An der Supermarktkasse steht hinter mir ein älterer Mann und begutachtet das Regal mit den Klatschmagazinen und Revolverblättchen. „Es gibt so viele intelligente Menschen und trotzdem so viele von diesen Zeitschriften“, murmelt er und schüttelt den Kopf.
Ich bin mir nicht sicher, ob er mit dem ersten Teil seiner Aussage richtig liegt, aber ich bin überzeugt, dass das Lesen von Klatschzeitschriften kein Ausdruck von Dummheit ist, sondern einen sogar klüger macht. Als Kind schaute ich mir immer bei meiner Oma Freizeit Revue, Das Goldene Blatt und Co. an und nur durch die Kreuzworträtsel in den Heften weiß ich, dass es einen Schweizer Kanton namens Uri gibt. (Was für mich damals immer aussah, als sei das eine Art Spitzname.)
Um ehrlich sein, las ich die Zeitschriften nicht zu Kreuzworträtsel-Fortbildungszwecken, sondern weil ich auf der Suche nach Babyfotos von Prinz William war, die ich dann ausschnitt und an meine Pinnwand heftete. Aber das ist eine andere Geschichte und die soll kein anderes Mal erzählt werden, sondern niemals, nie.)
10. Mai 2022, Berlin
Roland Kaiser wird heute 70. Das ist ein bisschen erstaunlich, denn Mick Jagger wird dieses Jahr 79. Genauso wie mein Vater. Um ehrlich zu sein, hätte ich Roland Kaiser eher so alt wie meinen Vater geschätzt. Und Mick Jagger so alt wie mich.
Vor vielen Jahren war ich mal mit meiner heutigen Agenturpartnerin bei einem Roland-Kaiser-Konzert. Zum einen aus kulturanthropologischem Interesse (Stichwort Teilnehmende Beobachtung), zum anderen aufgrund unserer kaum hinter ironischer Distanz versteckten Vorliebe für 60er-/70er-Jahre Kultschlager. Außerdem bekamen wir die Karten kostenlos von ihrem ehemaligen Freund, der in der Veranstaltungsbranche arbeitet.
Ich habe großes Verständnis, wenn Menschen die Lieder von Roland Kaiser verachten und seine Texte sind nicht gerade lyrische Hochkultur, sondern handeln alle mehr oder weniger verklausuliert von erhofftem Geschlechtsverkehr, mitunter mit grenzwertig jungen Frauen (Stichwort Santa Maria), aber an diesem Abend wurde ich Zeuge, wie Roland Kaiser mit seiner Musik Lahme zum Gehen brachte. Und zwar wortwörtlich. Neben uns saß eine ältere, ziemlich korpulente Frau, die sich mit ihrer Gehhilfe auf ihren Platz geschleppt hatte. Als Roland Kaiser aber Joanna anstimmte, sprang sie plötzlich auf und tanzte – ohne Stock! – als wäre sie ein junges Mädchen. (Zugegebenermaßen ein junges Mädchen mit grenzwertigem Musikgeschmack.)
Seither möchte ich nicht ausschließen, dass Jesus in Gestalt von Roland Kaiser auf die Erde zurückgekommen ist und Wunder vollbringt. (Dass er frei von Sünde ist, möchte ich allerdings bezweifeln. Stichwort Manchmal möchte ich schon mit dir.)
Alles Gute, Rolle!
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Der Sohn hat morgen seine MSA-Präsentationsprüfung. Er hat sich mit seinem Freund, mit dem er die Prüfung gemeinsam macht, die fröhliche und lebensbejahende Fragestellung „Ist Selbstmord moralisch vertretbar?“ ausgesucht.
In einem Anflug von Helikopterelterntum helfen meine Frau und ich ihm bei der Vorbereitung. Meine Frau liest den Vortrag inhaltlich gegen, ich schau mir die Powerpoint-Folien an.
Beruflich erstelle ich pro Woche im Schnitt zwei bis drei Präsentationen und würde mir daher in diesem Bereich eine gewisse Expertise zuschreiben. Daher biete ich meinen Kindern jedes Mal, wenn sie für die Uni oder die Schule eine Präsentation halten müssen, an, einen Blick darauf zu werfen und ein paar Tipps zu geben. Sie sagen dann meistens „Mal schauen“, was anscheinend so viel heißt wie „Danke, kein Bedarf“, denn mein Angebot wurde mit einer einzigen Ausnahme noch nie angenommen.
Ein bisschen wurmt mich das. Im Prinzip ist das so, als würden sich die Kinder von Roger Federer selbst Tennis beibringen und ihn nie um Rat fragen. Aber vielleicht wollen meine Kinder ihre Präsentationen auch ohne meine Hilfe erstellen, um mir zu zeigen, dass sie das selbst können. Oder – und das ist die realistischere Erklärung – sie halten mich nicht für den Roger Federer der PowerPoint-Folien, der ihnen helfen kann. (Ich glaube, sie wissen gar nicht, wer Roger Federer ist.)
Diesmal darf ich mir die Präsentation des Sohns aber anschauen. Sein Freund und er haben als Hintergrund ein dunkelblaues Tapetenmuster gewählt. Ziemlich stylish. Mit der großen weißen Schrift, die sie verwenden, sehen die Folien ein bisschen aus, als seien es Wand-Tattoos im Wohnzimmer der Addams Family. Aber das passt ja irgendwie zum Thema.
Insgesamt sieht die Präsentation ziemlich gut aus. Es gibt keine blinkenden Überschriften, keine einfliegenden Textblöcke und auch keine anderen bizarren Effekte, bei denen du dich fragst, warum sie überhaupt jemals programmiert wurde. (Niemand, wirklich niemand möchte sehen, wie einzelne Sätze in eine Folie gehüpft kommen. Außer auf einer Clowns-Convention.)
Ich richte nur die Textblöcke alle einheitlich aus und optimiere die Bilder ein wenig. Aber auch nicht zu sehr, denn die Präsentation soll ja immer noch so aussehen, als sei sie von zwei 15-jährigen erstellt worden. Trotzdem hoffe ich natürlich, dass die Lehrerin die beiden – und damit auch mich – für die schönen Folien lobt.
11. Mai 2022, Berlin
Heute ist Iss-was-du-willst-Tag. Dann ist morgen wohl Stell-dich-nicht-auf-die-Waage-Tag.
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Kurz nach 12 fährt der Sohn zur Schule für seine Prüfung. (Der späte Termin kommt seinem Biorhythmus sehr entgegen.) Er hat extra ein weißes Hemd angezogen, was er sonst höchstens an Weihnachten tut. Das ist ein bisschen niedlich. Ich hatte nicht einmal bei meinen Diplomprüfungen ein Hemd getragen. Das war aber auch okay, denn ich habe Soziologie studiert. Mit Hemd wäre ich da besser gekleidet gewesen als die meisten meiner Professoren.
Um 14 Uhr ruft der Sohn an. Er hat auf den Vortrag eine 1 bekommen. Sein Freund auch. Und meine Frau und ich auch ein bisschen.
Terminhinweis in eigener Sache
Ich habe die große Ehre und darf am 23. Mai bei der phantastischen Lesebühne Fuchs & Söhne lesen. Gemeinsam mit Kirsten Fuchs, Tilman Birr, Sebastian Lehmann und Paul Bokowski und der Gast-Leserin Jacinta Nandi von der Lesebühne Rakete2000. Im Grips-Theater. Um 19.30 Uhr. Falls Sie in Berlin leben, kommen Sie doch vorbei. Das wird bestimmt lustig. Zumindest während Kirsten, Tilman, Sebastian und Paul lesen.
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Christian Hanne, Jahrgang 1975, hat als Kind zu viel Ephraim Kishon gelesen und zu viel “Nackte Kanone” geschaut. Inzwischen lebt er mit seiner Frau und seinen beiden Kindern in Berlin-Moabit. Kulinarisch pflegt er eine obsessive Leidenschaft für Käsekuchen. Sogar mit Rosinen. Ansonsten ist er mental einigermaßen stabil.
Im September erscheint sein neues Buch “Papa braucht ein Fläschchen”. Ebenfalls mehr als zu empfehlen sind “Hilfe, ich werde Papa! Überlebenstipps für werdende Väter”, “Ein Vater greift zur Flasche. Sagenhaftes aus der Elternzeit” sowie “Wenn’s ein Junge wird, nennen wir ihn Judith”*. (*Affiliate-Links)
🤣
Midnight Lady glaubst du nicht,
dass ein Wort das Schweigen bricht?
Midnight Lady sag warum,
bleiben wir so lang stumm?🎶
All die Lieder, die ich so erfolgreich aus meinen Kindheitserinnerungen verdrängt hatte, werden diese Woche vom @Betriebsfamilie an die Oberfläche gezerrt.
Gern geschehen.
Ich überlege schon sehr angestrengt, wie ich mich revanchieren kann.