Föhr 2018 – Tag 3: Die Offenbarung der Camping-Wecken

Es ist 8.30 Uhr und ich hechle seit einer halben Stunde kurzatmig hinter Beach Body her. Der hatte mich kurz vor acht mit den Worten „Wer rastet, der rostet.“ aus dem Bett geworfen und mir dann auf der Straße mitgeteilt, heute sei der ideale Tag für eine schnuckelige 12er-Einheit. Ich hatte starke Zweifel am Wahrheitsgehalt seiner Aussage und fand außerdem, dass das Wort ‚schnuckelig‘ kein angemessenes Adjektiv zur Beschreibung eines Zwölf-Kilometer-Laufs ist. Beach machte aber nicht den Eindruck, dass er sich auf irgendwelche semantische Diskussionen einlassen wollte, und daher lief ich ohne Widerworte los.

Heute joggen wir nicht auf der Strandpromenade, sondern entlang der L214, die von Wyk in Richtung Alkersum führt. Der Meerblick hätte sich eher leistungsmindernd auf meine Performance ausgewirkt, so Beach Bodys Begründung für die heutige Route. Eine ablenkende Aussicht gibt es heute tatsächlich nicht. Wir laufen hauptsächlich an Feldern, landwirtschaftlichen Betrieben sowie Vieh- und Pferdeweiden vorbei. Es riecht ein wenig streng.

Auch heute läuft mir der Schweiß wieder in die Augen, was unerträglich brennt und dazu führt, dass mir Tränen auch heute einem Tsunami gleich über das Gesicht fließen. „Flennt Mr. Weichei etwa schon wieder?“ herrscht Beach mich an. Ich schüttle den Kopf und versprühe dabei fontänenartig Tränen. Daraufhin reißt Beach einen Zweig von einem Strauch am Wegesrand ab und haut mir damit zweimal kräftig auf die Rückseite meiner Oberschenkel. „Warum?“ jaule ich auf. „Damit du einen Grund zum Heulen hast“, erwidert Beach Body barsch. Ich hoffe, er hat keine Kinder, die er nach diesen Prinzipien erzieht.

Nach einer knappen Stunde erreichen wir wieder Wyk und ich taumle den Fahrradweg entlang. Von der Hitze, der Anstrengung und dem durchdringenden Pferdeäpfel-Gestank ist mir schwindelig. „Per aspera ad astra!“ blökt Beach in mein Ohr. „Durch die Mühen zu den Sternen!“ Jetzt nervt er also auch noch mit lateinischen Sinnsprüchen. Ich glaube aber nicht, dass Seneca, auf den laut Wikipedia dieser Schwachsinn zurückgeht, damit meinte, dass einem nach einem Zwölf-Kilometer-Lauf vor Erschöpfung Sterne vor den Augen tanzen.

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An der Ferienwohnung angekommen, verabschieden wir uns und ich schleiche mich heimlich zum Bäcker. Dort erwartet mich eine Schlange, die bis auf die Straße reicht, als würden in dem Laden diamantbesetzte Prototypen des iPhone11 verschenkt.

Ich reihe mich bei den Wartenden ein. Da ich Moschusgerüche wie ein Ochse in der Brunft verströme, hoffe ich, vorgelassen zu werden. Werde ich aber nicht. Und das hat seinen Grund. Bei dem Bäcker gibt es die besten Brötchen der Insel und niemand will riskieren später dranzukommen, um dann zu erfahren, dass die Lieblingssorte ausverkauft ist, nur weil man einer müffelnden Miesmuschel den Vortritt gelassen hat.

Mein Objekt der Begierde sind Camping-Wecken. (Und Begierde ist hier wörtlich zu verstehen.) Dabei handelt es sich um ein Gebäck, bei dem ein süßer Hefeteig mit Hagelzucker von einem ungesüßten Hefeteig umschlossen wird, so dass der süßere innere Teil des Brötchens nach dem Backvorgang schön saftig ist.

Als ein Mensch, der nicht zu überschäumendem Enthusiasmus und grundlosen Übertreibungen neigt, möchte ich feststellen, dass Camping-Wecken die köstlichste Backware ist, die jemals einen Ofen verlassen hat. Sie müssen von einem Virtuosen der Backkunst, von einem Mozart der Bäcker-Innung erfunden worden sein. Ich finde es erstaunlich, wenn nicht gar skandalös, dass Camping-Wecken noch nicht zum Weltkultur-Erbe erklärt wurden. Ich bin mir ziemlich sicher, wenn dies in Besucherbefragungen erhoben würde, käme heraus, dass Camping-Wecken der Hauptgrund für Touristen ist, immer wieder nach Föhr zurückzukommen. („Scheiß auf das Meer und die gute Luft, so lange du hier Camping-Wecken essen kannst.“)

Am besten schmecken Camping-Wecken übrigens mit Frischkäse und roter Marmelade (je nach Vorliebe geht Kirsche, Erdbeere oder Himbeere). Erstaunlicherweise – und ich traue mich das kaum zu sagen – passt Nutella weniger gut dazu.

Camping-Wecken sind aber nicht nur sehr lecker, sondern zeichnen sich auch durch eine extrem hohe Kaloriendichte aus. (Ein kausaler Zusammenhang darf hier angenommen werden.) Daher gibt es Überlegungen, dass bei der ersten bemannten Mars-Mission, jedes Besatzungsmitglied einen Camping-Wecken als Verpflegung bekommt. Damit sollten die Astronauten für die Reise von rund sechzehn Monaten kalorisch versorgt sein. Außerdem sind ihre Körper dann mit Glückshormonen vollgepumpt, so dass die Stimmung im Raumschiff bestens sein sollte.

Nach knapp fünfzehn Minuten Wartezeit verlasse ich die Bäckerei mit meinen ersehnten Camping-Wecken. Die Lektion des heutigen Tages lautet: „Wenn dir das Leben Camping-Wecken gibt, kauf dir noch einen mehr.“

Während ich beim Frühstück meinen Camping-Wecken genieße, schwebt mir die Gründung einer Weltreligion vor, bei der ein Camping-Wecken als Heiland verehrt wird. Durch den Verzehr von Camping-Wecken erreichen die Jünger Seelenheil, Erleuchtung und Erlösung. Das hätte auch Vorteile fürs Abendmahl. Statt altem Baguette, das eher an Pferde als an Gläubige verfüttert werden sollte, oder einer ekligen Oblate, die einem am Gaumen kleben bleibt, so dass man beim Versuch, sie dort irgendwie zu lösen, einen Krampf in der Zunge bekommt, und das Ding schließlich nur mittels des Qualitäts-Messweins runtergespült werden kann, gäbe es Camping-Wecken. Da geht der Glaube wirklich durch den Magen.

Ganz ausgereift ist diese Religionsidee vielleicht noch nicht, aber man könnte wenigstens permanent Camping-Wecken futtern. Aus diesem Grund trügen die Camping-Wecken-Jünger weit geschnittene, wallende Gewänder, denn schon nach einigen Wochen der Religionsausübung haben sie die Konfektionsgröße von Jabba the Hut.

„Ist irgendetwas?“ unterbricht die Frau mich plötzlich in meinen Gedanken. „Du starrst die ganze Zeit nur vor dich hin und isst gar nicht deinen Camping-Wecken. Möchtest du ihn etwa nicht?“ Die Frau wird ja wohl nicht wagen, sich meinen Wecken zu nehmen? Ehe-Gelübde hin oder her, das wären keine ‚schlechten Zeiten‘, in denen man sich beisteht, sondern ein sofortiger Scheidungsgrund!

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Gegen 11 Uhr gehen die Frau und ich an den Strand. Unsere Strandkorb-Nachbarn sind schon alle da, inklusive des Bein-Veteranen zu unserer Linken. Seine Wunde ist heute von einem leuchtend weißen Verband verdeckt und er hat sein Bein auf einen Hocker hochgelegt, damit es auch jeder sieht. Seine Frau und Tochter kümmern sich rührend um ihn, was er zwar immer wieder abwehrt, dabei aber den Eindruck macht, dass ihm das eigentlich ganz gut gefällt. Erneut defilieren die anderen Strandbesucher vor seinem Strandkorb und erkundigen sich nach dem Heilungsverlauf. („Schon besser. Muss ja.“) Leider erfahre ich auch heute nicht, was die Wunde verursacht hat. Die Attacke eines aggressiven Krebses, ein Säureanschlag des russischen Geheimdienstes oder ein Killervirus, das sein Bein von innen auffrisst? Wir werden sehen.

Das beherrschende Thema der Strandkorb-Community ist heute der extrem heiße Sand. Der trägt dazu bei, dass die Strandgemeinschaft noch enger zusammenwächst. Auf dem Weg ins Wasser pausieren Badewillige immer wieder im Schatten von Strandkörben oder auf den Decken anderer Urlauber, um ihren Füßen einen kurzen Moment der Abkühlung zu gönnen. („Klar kannst du dich auf mein Handtuch stellen, Helga. Der ist ja auch wirklich heiß, der Sand.“ „Ja, oder? So heiß war der noch nie.“)

So einen glühenden Sand haben wir tatsächlich selbst in Griechenland und auf Sardinien nicht erlebt. Ich überlege, ob man wohl ein Spiegelei auf dem Strand braten könnte. Aber wahrscheinlich brät nur mein Hirn, denn wer will schon sandige Eier essen. Vielleicht sollte ich mich mal ein wenig in der Nordsee abkühlen.

Der Weg zum Wasser ist äußerst unangenehm. Wie auf einem zweitklassigen Motivationsseminar, bei dem man „Tschakka“ rufend über glühende Kohlen rennen muss.

Und das, wo ich ohnehin sehr empfindliche Fußsohlen habe, was das Laufen über den Strand mit seinen Muschelstückchen, Steinchen und Ästchen zur reinsten Tortur für mich macht. Da könnte ich auch gleich barfuß durch ein Kinderzimmer gehen, in das eine Kiste Lego geschüttet wurde.

Damit meine Füße den heißen, spitzen Sand nur so kurz wie nötig berühren, springe ich leichtfüßig über den Strand, so dass ich für die anderen Badegäste wahrscheinlich wie ein Tänzer des Moskauer Bolschoi-Theaters aussehe. Oder wie ein Giraffenbaby bei seinen ersten Gehversuchen. Beide Assoziationen sind möglich. (Anmerkung der Redaktion: Nein.)

Der Einstieg ins Meer ist – wie jedes Jahr– kompliziert für mich und kaum möglich, ohne das bisschen Restwürde, das mir nach meinem Beach-Walk bleibt, auch noch zu verlieren. Das Wasser ist zwar nicht so kalt wie vor zwei Jahren in der Nord-Bretagne, als das Baden im Atlantik eher Eistauchen im Baikalsee glich, aber immer noch kühl genug, dass ich nur einen Fuß hineinhalten muss und sofort sämtliche Organe – innere und äußere – auf Miniaturgröße schrumpfen. Millimeter für Millimeter steige ich tiefer in die See und bin dabei aber so langsam, dass ich aufgrund der einsetzenden Ebbe nie das schwimmtiefe Wasser erreiche.

Nachmittags schickt der Judo-Trainer über WhatsApp ein paar Bilder aus dem Trainingslager. Ein bisschen haben die Frau und ich ein schlechtes Gewissen, dass die Tochter und der Sohn in der stickigen Halle schwitzen müssen, während wir hier am Strand faulenzen. Wir werden nachher einfach besonders an sie denken, wenn wir Eis essen. Dann fühlen wir uns bestimmt besser.

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Nach dem Strandbesuch steht Wäschewaschen an. Was schon im Alltag zu den eher unbeliebten Tätigkeiten gehört, ist im Urlaub richtig unsexy. In dem Haus unseres Ferien-Appartements gibt es zwar eine Waschmaschine im Keller, aber ein Waschgang kostet uns dort drei Euro. Zu unserer großen Enttäuschung kommt die Wäsche trotz dieses Preises nicht gebügelt und zusammengelegt aus der Maschine. Vielleicht sollten wir beim nächsten Mal für das Geld einfach eine neue Garnitur Klamotten bei Primark kaufen.

Und nun entschuldigen Sie mich bitte. Die Frau und ich wollen noch zum Strandkorb. Den Sonnenuntergang genießen. Und Sekt trinken. Selbstverständlich nur, um den Trennungsschmerz von den Kindern im Alkohol zu ertränken.

Gute Nacht!

P.S.: Nach der Rückkehr vom Strandkorb wurden noch die obligatorischen drei Runden gekniffelt. Aufgrund einer Unwucht des Tischs auf meiner Seite endete das Duell 2:1 für die Frau. Morgen spiele ich dann wieder ohne Augenbinde.

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Alle Teile des Föhr-Tagebuchs finden Sie hier.

96 Kommentare zu “Föhr 2018 – Tag 3: Die Offenbarung der Camping-Wecken

    • Ich habe noch einen kleinen Nachtrag gemacht, weil wir erst nach dem Veröffentlichen des Beitrags gekniffelt haben.

      P.S.: Die Kinder wären wahrscheinlich froh, wenn das Kniffeln ausfiele.

  1. Sicher, dass die 12er-Einheit nicht in Etappen, sondern pausenbefreit belaufen wurde?
    Wackelfreie Pferdefotos hinter Weidengatter lassen mich daran zweifeln.
    Dessen ungeachtet erstaunt mich das Mitführen eines Smartphones bei Laufübungen eines erwachsenen, schon leicht ergrauenden Homo Sapiens Sapiens, männlichen Geschlechts.
    Stört da nicht das dagegenklimpernde Kleingeld, das für den anschließenden Kauf von Backwerk benötigt wird?
    Überhaupt! Das Backwerk!
    Ein Foto dieses Camping-Wecken-Kunststückles hätte völlig ausgereicht.
    Den Leser (und natürlich bevorzugt die Leserinnen) zusätzlich mit gustatorischen, olfaktorischen und fabrikatorischen Beschreibungen zu überhäufen und damit eine allgemeine Scheelsucht zu wecken (haha), hat ein leicht prahlerisches Gschmäckle. Erzähl mir keiner, das sei unbedacht und ungewollt.
    Immerhin wissen wir nun alle, was es mit dem Fehlen von Nutellagläsern auf sich hat. Ein Mysterium weniger!
    Das Mysterium des ausgeweideten, mittlerweile fachärztlich eingebundenen Beines bleibt uns dafür wohl noch ein paar Tage erhalten. Vielleicht kann ja durch das nächstwöchige Eintreffen des Judo-Nachwuchses mehr Zeit für und Aufmerksamkeit auf die notwendigen Abhörtätigkeiten gelegt werden. Ich will da jetzt aber keinen unnötigen Druck aufbauen, schließlich kann ich mit künstlich aufrecht gehaltener Spannung umgehen.
    Ich muss jetzt auf die Terrasse. Einen Strandkorb habe ich zwar nicht, auch keine Begleitung, aber bei 32°C im Mondschein erspare ich mir wenigstens einen Sonnenbrand.

    • Das Kleingeld wird in Form eines Kleinscheines nebst dem Handy in einer alten Socke transportiert. Somit wäre ein weiteres Mysterium gelöst.

  2. Herzlichen Dank für einen neuen Blick auf Föhr.
    Mittlerweile selbst im 40. Lebensjahr, davon mehr als die Hälfte im Sommer auf Föhr verbracht (immer drei Wochen, hehe), ist es interessant zu sehen, wie andere die Insel wahrnehmen.
    Das markanteste Erlebnis bisher: die “Fischsupp” unserer Strandkorbnebensitzer. Seitdem geflügeltes Wort in unserer Familie.

    Campingwecken sind einfach nur geil. Nur noch vom Butterkuchen getoppt.

  3. Auf die Camping-Brötchen gehört gar nix drauf! Diese Gaumenfreude muss man pur genießen!

    Und falls Marzipan gerne gegessen wird: Marzipan-Lärchen. Göttlich! Und mehr Zucker geht nicht 😁
    Vor, äh, Jahren, gab es in einer Seitenstraße noch ein älteres Ehepaar, die in ihrem Bäckerladen die Backwaren des Camping-Brötchen-Bäckers verkauft haben. Eben auch jene Brötchen und die Marzipan-Lerchen. Ich, zarte 18.5 Jahre jung, deutete unschuldig auf die Auslage “2 von den Törtchen bitte” – entgegnet die Bäckersfrau: “Sie meinen die Jungfrauenbrüste?” Meine Augen waren weit aufgerissen, die Röte kroch nach oben, ich nickte kaum merkbar, bezahlte zügig und verließ noch schneller den Laden.. 🙈😂

    • Pur geht auf jeden Fall auch, was aber nicht schmeckt, ist mit Nutella. (Wer hätte gedacht, so einen Satz einmal zu schreiben.)
      Ich glaube an den Laden des Ehepaars kann ich mich auch noch erinnern. Gab es da auch diese wagenradgroßen Butterkuchen. Die waren sehr köstlich.

Erwähnungen

  • Morgen startet der alljährliche Familienurlaub. Um eins gleich vorwegzunehmen: Im Gegensatz zum letzten Jahr geht es diesmal nicht nach Föhr, wenngleich der (fast) tägliche Genuss köstlicher Campingwecken eine ziemlich starke Anziehungskraft ausübt. Allerdings ist Föhr nicht sonderlich groß und im letzten Jahr habe ich festgestellt, dass doch die ein oder andere Urlauberin*, meine täglichen Berichte über das Brötchenholen, die Trainingseinheiten mit Beach Body oder das Leben in der Strandkorb-Siedlung lasen. Einerseits schmeichelt das selbstverständlich meinem Autoren-Ego, andererseits kann es im ungünstigen Fall aber dazu führen, dass eine wildfremde Person am Strandkorb auftaucht und sagt: „Ich wollte nur mal schauen, wie sie in echt aussehen.“ Im noch ungünstigeren Fall erscheint eine Person, über die ich am Vortag geschrieben habe, und haut mir eine rein. Beides eher unschöne Szenarien, die es zu vermeiden gilt. Es musste also ein etwas weiter entfernter Urlaubsort sein – vorzugsweise außerhalb Deutschlands –, der mehr Anonymität verspricht.

    (*Im Folgenden verwende ich ausschließlich die weibliche Form, Männer und andere
    Geschlechter sind aber mitgemeint. Außer ich vergesse es und benutze die männliche
    Form. Dann sind Frauen und andere Geschlechter mitgemeint.)

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    Föhrwell! #schoenefoehrien #werbungdaortsnennung #nomoneynocry Ein Beitrag geteilt von Familienbetrieb (@betriebsfamilie) am Aug 12, 2018 um 1:08 PDT

    https://www.instagram.com/embed.js

    Während die Frau und ich uns noch im Entscheidungsfindungsprozess bezüglich eines geeigneten Urlaubsziels befanden, trugen die Tochter und der Sohn den Wunsch an uns heran, sie hätten gerne mal ein Ferienhaus mit Pool. Meine Antwort, ich hätte gerne eine Million Dollar, aber das wäre genauso unrealistisch, wurde mit einem Augenrollen der Kinder quittiert. Wenn du noch kein eigenes Geld verdienst, scheint die Höhe der Miete kein sonderlich wichtiges Kriterium bei der Auswahl des Feriendomizils zu sein. Der Chill-Faktor und eine Instagram-taugliche Hintergrundkulisse dafür umso mehr.

    Mein Vorschlag, wir könnten doch einfach ein Planschbecken auf unseren Balkon stellen und Staycation in Berlin machen, stieß bei den Kindern auf wenig Begeisterung. Auch die Frau reagierte eher sparsam und erstickte mein Staycation-Gedankenspiel im Keim, indem sie die linke Augenbraue hob.

    Stattdessen recherchierte sie intensiv im Internet nach Unterkünften mit Pool. Dazu müssen sie wissen, dass unsere Ehe durch strenge Arbeitsteilung gekennzeichnet ist. (Die Frau macht beispielsweise die Wäsche, ich das Geschirr und es ist uns strengstens untersagt, uns in ein fremdes Aufgabengebiet einzumischen.) Dieses Prinzip gilt auch für die Urlaubsvorbereitung. Zur Aufgabe der Frau gehört unter anderem die Suche nach möglichen Domizilen und sie hat dafür ein richtig gutes Händchen. Das muss ich hier mal lobend erwähnen. Mir obliegt es dagegen, finanzielle Einwände gegen ihre Auswahl vorzubringen, wofür ich ebenfalls ein gutes Händchen habe. Allerdings hat sich die Frau dazu noch nie anerkennend geäußert.

    Die Aufgabe der Kinder besteht wiederum darin, Partei für ihre Mutter zu
    ergreifen, wodurch ich überstimmt werde und obendrein wie ein pfennigfuchsender
    Geizkragen dastehe. Meine Hinweise, ein zu teurer Urlaub führe zu Altersarmut und
    lasse das Erbe der Kinder schrumpfen, interessiert hier niemanden. Mich
    eigentlich auch nicht, denn da das Erbe der Kinder erst mit meinem Ableben
    eintritt, ist es mir vollkommen wumpe, wie hoch es ausfallen wird. Außerdem
    muss ich noch 20 bis 25 Jahre arbeiten. Da ist es nicht ausgeschlossen, dass
    ich bis zu meinem Renteneintritt noch einen siebenstelligen Lottogewinn
    einstreiche, was mir einen Lebensabend frei von finanziellen Sorgen ermöglichen
    wird. Und ich kann mir eine altersgerechte, barrierefreie Villa in der Toskana kaufen,
    was mir einen Lebensabend frei von kulinarischen Sorgen ermöglichen wird.

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    Was das Urlaubsland angeht, einigten die Frau und ich uns sehr schnell auf Griechenland. Dort hatten wir in der Vergangenheit bereits sehr gute Urlaubserfahrungen gemacht.

    Sieh dir diesen Beitrag auf Instagram an

    Urlaubsblog is coming. #kreta2019 Ein Beitrag geteilt von Familienbetrieb (@betriebsfamilie) am Jul 12, 2019 um 8:35 PDT

    https://www.instagram.com/embed.jsDas Wetter ist garantiert gut, die Badetemperaturen sind angenehm, das Essen lecker und die Menschen freundlich. (Letzteres ist für jemanden, der in Berlin lebt und täglich mit Unhöflichkeiten konfrontiert ist, die als Berliner Schnauze beschönigt werden, besonders angenehm.) Vor allem aber war es das einzige Land, in dem die Frau Ferienhäuser mit Pool fand, die wir uns leisten können, ohne verzichtbare Organe verkaufen, diverse Körperflüssigkeiten spenden oder nackt putzen gehen zu müssen. (Letzteres ist für einen genanten Menschen, den nudistische Hobbys eher befremden, ebenfalls besonders angenehm.)

    Neben den vielen kulinarischen, meteorologischen und finanziellen Vorzügen, die Griechenland zu bieten hat, gibt es allerdings einen gravierenden Nachteil: Wir müssen mit dem Flugzeug anreisen. Das ist zum einen unschön, weil die Frau und die Tochter Flugangst haben. (Der Sohn dagegen schaltet sobald er im Flugzeug sitzt, irgendein mobiles Endgerät an, auf dem er irgendetwas zockt, bis die Daumen schmerzen, und das er erst wieder ausmacht, wenn wir gelandet sind.)

    Ich selbst fliege auch nicht sehr gerne. Sie können mir tausendmal die physikalischen Grundlagen des Fliegens erklären und mir irgendetwas von Auftrieb, Anstellwinkel und Tragflächengeometrie erzählen, ich finde es trotzdem unbegreiflich, wie sich ein Flugzeug mit hunderten von Menschen an Bord und einem Gesamtgewicht von 60 bis 70 Tonnen in die Luft erheben und dort fortbewegen kann. (Genauso unbegreiflich ist mir übrigens die Funktionsweise des Fernsehers und wie dort auf Knopfdruck Personen auf dem Bildschirm erscheinen. Dabei kann ich aber gemütlich, Chips essend auf dem Sofa lümmeln und sitze nicht 12.000 Meter in der Höhe in einem unbequemen Sitz und werde bei jeder noch so kleinen Turbulenz an „Lost“ oder „Katastrophenflug 232“ erinnert.)

    Fliegen ist aber nicht nur aufgrund des mulmigen Gefühls, das es beim Großteil der Familie verursacht, problematisch, sondern auch weil es wahrscheinlich die klimaschädlichste Art des Reisens ist. In Zeiten des nicht mehr zu leugnenden Klimawandels, der geradezu messianischen Verehrung für die Klimaschutzikone Greta Thunberg und von Friday-for-Future-Demonstrationen mit zehntausenden von Schülerinnen ist es äußerst unpopulär geworden, in den Urlaub zu fliegen. Sozial so geächtet wie das Ertränken von Hundewelpen, das Abschlachten von Robbenbabys oder Besuche im Swinger-Club.

    Schamlose Eigenwerbung (Affiliate-Link)

    Du traust dich eigentlich kaum, öffentlich zuzugeben, den Flieger zu benutzen. In Schweden gibt es sogar ein eigenes Wort dafür: Flygskam, also Flugscham. Ich finde, das ist ein gutes Konzept, schädliches Verhalten mit einem eigenen Scham-Wort anzuprangern. Eine Andreas-Gabalier-Konzert-Scham oder eine AfD-Scham würde ich beispielsweise sehr begrüßen.

    Um meine eigene Flugscham etwas zu lindern, recherchiere ich im Internet nach Seiten, wo der eigene CO2-Ausstoß kompensiert werden kann. Dort wird die Menge an CO2, die du verursachst, berechnet, und dafür spendest du einen entsprechenden Betrag an ein Klimaschutzprojekt. Damit wird zwar nicht die eigene CO2-Emission ungeschehen gemacht, aber wenigstens wird an anderer Stelle etwas Gutes für das Klima getan. Quasi ein moderner Ablasshandel.

    Laut einer dieser Seiten sollen wir 65 Euro spenden, weil wir mit unserem Hin- und Rückflug mehr als 2.800 Kilo CO2 verursachen. Das sind mehr als 30 Prozent unseres jährlichen CO2-Ausstoßes, den wir maximal produzieren dürfen, damit das 2°C-Ziel erreicht werden kann. Fast ein Drittel in ungefähr sechs Stunden! Sofort habe ich ein noch schlechteres Gewissen. Das Prinzip CO2-Kompensation trägt bisher nicht wirklich dazu bei, meine Flugscham zu reduzieren.

    Um mir meine CO2-Balance schönzureden, beruhige ich mich damit, dass ich ansonsten ein verhältnismäßig C02-armes Leben führe. Ich fliege im Schnitt nur alle zwei Jahre, ich besitze kein Auto, sondern fahre Rad und benutze den Berliner ÖPNV, mein Fleischkonsum ist moderat, und ich habe einen sehr stabilen Magen, so dass ich nach dem Genuss von Zwiebeln oder Hülsenfrüchten nicht überdurchschnittlich viel klimaschädliches Methan in die Luft puste. (Eine Information, die Sie sicherlich brennend interessiert.) Trotzdem erhöhe ich unseren Kompensationsbetrag vorsichtshalber auf 100 Euro. Schließlich weiß ich ja nicht, wie gut ich das griechische Essen vertrage!

    CO2-Kompensation: Ablasshandel gegen die Flugscham###

    Diesmal führt uns der Griechenlandurlaub nicht nach Psakoudia wie vor ein paar Jahren, sondern nach Kreta und zwar in den Ort Bali. Die Betonung von Bali liegt auf dem i, wodurch es phonetisch von der indonesischen Insel Bali, bei der das a betont wird, unterschieden werden kann. Trotzdem soll es schon Touristinnen gegeben haben, die im Internet eine Unterkunft für Bali gebucht haben und bei der Ankunft auf Kreta festgestellt haben, dass ihr Urlaubsdomozil ungefähr 10.000 Kilometer weiter östlich liegt. Eine Entfernung, bei der tägliches Pendeln zum Mittelmeer-Strand eher herausfordernd ist. An dieser Stelle möchte ich mich aber nicht über irgendwelche vertrottelten Urlaubsreisende mit mangelhaften Geographie-Kenntnissen lustig machen. Das mache ich erst, wenn ich am Samstag wirklich den Schlüssel zu unserer kretischen Pool-Villa in den Händen halte und mir nicht mitgeteilt wird, dass wir ins falsche Land gereist sind, weil ich tatsächlich eine vergammelte Strandhütte auf dem indonesischen Bali gemietet habe.

    Das Bali mit dem langgezogenen i liegt an der Nordküste Kretas zwischen Rethimnon und Heraklion. Kreta-Kennerinnen wird das etwas sagen, mir aber nichts. Aber das kann sich in den nächsten zwei Wochen ja noch ändern.

    Berlin – Bali: Ein kleiner Fußmarsch von 462 StundenUnser Ferienhaus liegt als eine von drei Villen in den Bergen etwas außerhalb
    von Bali und bietet einen malerischen Ausblick aufs Meer. Zumindest wenn den gephotoshoppten
    und durch mehrere Filter gejagten Bildern auf der Website des Vermieters Glauben
    geschenkt werden kann. Was die Unterkunft besonders attraktiv macht: Jede der drei
    Villen hat einen eigenen Pool, der nicht mit anderen Gästen geteilt werden muss.
    Ein Traum! Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich habe nicht prinzipiell etwas gegen
    andere Menschen, aber ich möchte nicht mit ihnen reden. Und schon gar nicht mit
    ihnen in einem Pool schwimmen.

    Die Entfernung von unserem Ferienhaus zum Meer beträgt ungefähr zweieinhalb bis drei Kilometer. Die Frau und ich betrachten das als fußläufige Distanz. Somit haben wir beschlossen, auf einen Mietwagen zu verzichten. Das entlastet die Urlaubskasse (Stichwort Miete für eine Villa mit Pool), schont das Klima (Stichwort Flugscham) und ein wenig körperliche Ertüchtigung schadet auch nicht (Stichwort Strandfigur). Die Kinder sehen das wahrscheinlich etwas anders. Deswegen werden wir ihnen die Information, dass wir kein Mietauto haben, bis zu unserer Ankunft auf Kreta vorenthalten.

    Bali selbst wird im Internet als beliebter Urlaubsort für Familien angepriesen. Es gibt drei Strände – einer ist flach und eignet sich besonders gut für kleine Kinder, ein anderer ist wegen der starken Brandung bei Wassersportlerinnen sehr beliebt und der dritte wird aufgrund des klaren Wassers von Taucherinnen geschätzt –, die Nächte sollen sehr ruhig sein und die Wikipedia-Seite zu Bali weist ganze zwei Sehenswürdigkeiten auf: Den alten Ortskern rund um den Hafen sowie ein altertümliches Kloster, das ungefähr einen Kilometer außerhalb von Bali auf einem Hügel gelegen ist. Der ganze Artikel ist ohnehin nur 295 Wörter lang. Mehr hat Bali anscheinend nicht zu bieten.

    Alles in allem ist Bali wohl einer der langweiligsten und ödesten Urlaubsorte der Welt. Herrlich! Ich freue mich darauf.

    Gute Nacht!

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    Alle Beiträge des Kreta-Tagebuchs finden Sie hier.

    Christian Hanne

    Christian Hanne, Jahrgang 1975, hat als Kind zu viel Ephraim Kishon gelesen und zu viel „Nackte Kanone“ geschaut. Inzwischen lebt er mit seiner Frau und seinen beiden Kindern in Berlin-Moabit. Kulinarisch pflegt er eine obsessive Leidenschaft für Käsekuchen. Sogar mit Rosinen. Ansonsten ist er mental einigermaßen stabil. Im März ist sein aktuelles Buch „Hilfe, ich werde Papa! Überlebenstipps für werdende Väter“ erschienen. Ebenfalls mehr als zu empfehlen sind „Ein Vater greift zur Flasche. Sagenhaftes aus der Elternzeit“ sowie „Wenn’s ein Junge wird, nennen wir ihn Judith“*. (*Affiliate-Links)

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