Ich befinde mich immer noch auf der Marathonstrecke und es fühlt sich an, als sei ich schon seit zwölf Wochen unterwegs. Meine Playlist ist weiterhin mit Kultschlagern der 60er-Jahre sowie Hits der Neuen Deutschen Welle gefüllt. Im Training hatten diese sich befremdlicherweise als meine optimalen rhythmischen Laufbegleiter erwiesen, was große Fragen bezüglich meines Musikgeschmacks und meines Laufstils aufwirft. Sportlich hatte ich mir das Ziel gesetzt, den Marathon in dreieinhalb Stunden zu laufen und das Ganze pathetisch-idiotisch „Projekt 210“ getauft. Ein Beleg, dass in einem gesunden Körper nicht zwangsläufig auch ein gesunder Geist lebt.
Den ersten Teil des Schlager-Marathons finden Sie hier, den zweiten hier.
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Inzwischen habe ich zwei Drittel des Marathons hinter mir, was nach dem guten Adam Riese heißt, dass ich noch ein Drittel vor mir habe. Es freut mich, trotz der körperlichen Strapazen noch zu solch komplexen mathematischen Berechnungen in der Lage zu sein. Was mich allerdings weniger freut, ist der Umstand, dass das Marathondrittel, das ich noch zurücklegen muss, vierzehn Kilometern entspricht. Eine überschaubare Distanz, wenn man sie mit dem Auto oder dem Zug fährt. Zu Fuß im flotten Tempo, nachdem man bereits 28 Kilometer in den Beinen hat, erscheint die Strecke dagegen deutlich länger zu sein. Ein mathematisch-physikalisches Phänomen, das mal untersucht werden müsste. Aber nicht von mir. Ich muss laufen. Weiter und immer weiter.
Pippi Langstrumpf untermalt meine mathematischen Gedankenspiele musikalisch, indem sie enthusiastisch „Drei mal drei ist vier“ grölt. Eigentlich hat diese Dyskalkulie-Hymne nichts auf meiner Laufliste zu suchen, aber wahrscheinlich war mal wieder eines der Kinder verbotenerweise an meinem Handy. Das ist mir jetzt auch egal. Wenn man fast zweieinhalb Stunden ununterbrochen gelaufen ist, kann man sich über so etwas nicht aufregen. Es fehlt einem einfach die Energie dazu.
Die Aussicht auf vierzehn weitere Kilometer ist umso unschöner, da meine Oberschenkel schmerzen, die linke Wade zwickt und beide Füße wehtun. Alles körperliche Symptome, die man vielleicht erquicklich findet, wenn man Gefallen an Shades-of-Grey inspirierten Sexualpraktiken hat, nicht aber wenn man noch über eine Stunde laufen muss. Die Playlist findet, jetzt sei der richtige Zeitpunkt, um mich mit Stefan Waggershausens „Beim ersten Mal tat’s noch weh“ aufzumuntern. Gerne würde ich ihm meine Zustimmung für seine schlichte These ausdrücken. Vorzugsweise durch das Klatschen meiner Hand in sein Gesicht. Stattdessen stolpere ich wie ein betrunkenes Giraffenbaby die Straße entlang.
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Während ich versuche, meiner Gewaltphantasien Herr zu werden, passiere ich eine Verpflegungsstation, wo ich mir zur Stärkung ein paar Bananen genehmige. Allerdings wirkt sich meine körperliche Erschöpfung ungünstig auf meine Feinmotorik aus und ich zerquetsche die ohnehin schon matschigen Früchte in meinen Händen. Der größte Teil der Bananenmatsche landet dann auch nicht in meinem Mund, sondern großflächig in meinem Gesicht, so dass ich aussehe wie eine Mischung aus Joker und unserer Tochter, als sie das erste Mal Brei gegessen hat.
Ungeduldig warte ich darauf, dass die Bananen endlich Ihre energiespendende Funktion erfüllen, als ich mich Kilometer 29 nähere, wo die Familie für die letzte Getränkeübergabe bereitsteht. Jetzt ist wieder höchste Konzentration gefragt, damit dabei nichts schiefgeht. Außerdem muss ich mich zusammenreißen, um den Kindern möglichst würdevoll entgegenzutreten. Ansonsten sehe ich schwarz für meine ohnehin fragile väterliche Autorität. Wenn die beiden Zeuge werden, wie ich die Laufstrecke entlangstakse wie Johnny Depp in seiner Paraderolle als Captain Jack Sparrow, werden sie mich nie wieder ernst nehmen und ich kann mir jedwede Ermahnung, sie sollen Hausaufgaben machen, ihre Zimmer aufräumen oder ihr Instrument üben, sparen.
Am Wilden Eber entdecke ich die Familie, schleudere ihnen meine leere Flasche vor die Füße und greife wild fuchtelnd nach dem neuen Getränk, wodurch meine Jack-Sparrow-Imitation ihren Höhepunkt erreicht. Die Frau muss mehrere hundert Meter neben mir herrennen, bis ich endlich die Flasche in den Händen halte. Irritierenderweise hat die Frau keinerlei Probleme mein Tempo mitzulaufen. Genauso wenig wie die Kinder, die dabei auch noch wild trommeln und tröten. Wir bieten ein groteskes Schauspiel und die umstehenden Zuschauer denken vermutlich, es handelt sich um ein schamanisches Ritual zur Vertreibung böser Geister. Ich hoffe inständig, dass wir heute Abend nicht Aufmacher in den Lokalnachrichten sind.
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Nachdem ich Frau und Kinder endlich abgeschüttelt habe, will ich mich mit dem neuen Getränk erfrischen. Dieses war bereits bisher geschmacklich eher grenzwertig, aber nun erreicht es kulinarisch einen neuen nicht für möglich gehaltenen Tiefpunkt. Mit widerlich ist es nicht annähernd adäquat beschrieben. Dem Wasser-Traubenzucker-Stärke-Orangensaft-Plörre ist nun nämlich noch abgestandene Cola beigemischt, was einem laut Laufguru Herbert Steffny einen kurzen Kick verschaffen soll. Mir verschafft es fast einen kurzen Kotz, als das Lauf-Gebräu aus der Hölle in meinem Magen auf die noch nicht verdauten Matsch-Bananen trifft.
Unbändiger Hass erfüllt mich. Hass auf meine Frau, die mir das Getränk gereicht hat, Hass auf Herbert Steffny, der das Rezept ins Internet gestellt hat, und Hass auf mich, der ich es zusammengemischt habe. Udo Jürgens tiriliert unterdessen mit kaum erträglicher Fröhlichkeit „Der Teufel hat den Schnaps gemacht“. Dafür hasse ich auch ihn.
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Mittlerweile bin ich bei Kilometer 30 angelangt. Die magische Marke, vor der in jedem drittklassigen Marathonratgeber gewarnt wird. Hier lauert der berüchtigte „Mann mit dem Hammer“. Zu diesem Zeitpunkt sind alle Kohlehydratspeicher aufgebraucht und der Körper will sich Energie aus den Fettzellen ziehen. Da von diesen nach mehr als 1.500 Trainingskilometern aber nicht mehr allzu viele vorhanden sind, geht es mit der Leistung ab diesem Zeitpunkt ziemlich steil südwärts.
Meine Beine werden mit jedem Schritt spürbar schwerer und Heinz Erhardt trällert unterdessen seine „Hämmerchen-Polka“. Dabei lässt er sich in epischer Breite darüber aus, wie er mit dem titelgebenden Hämmerchen auf sein Sparschwein eindrischt. Er hat nicht nur Spaß an meinem körperlichen Leid, sondern verhöhnt mich gleichzeitig als fette Sau. Arschloch!
Jeder Taktschlag und mein immer schwächer werdender Körper signalisieren mir, jetzt sei der richtige Zeitpunkt, um auf dem Sofa zu lümmeln, Kuchen zu essen und einen neuen Rekord im Dauernetflixen aufzustellen, nicht aber um wie eine waidwunde Hirschkuh durch Berlin zu taumeln. Aber es hilft alles nichts, ich muss weiterlaufen. Insbesondere, weil ich kein Geld dabei habe, um mir ein Taxi zu nehmen.
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Irgendwie muss ich meine körperliche Erschöpfung überwinden, damit ich die letzten zehn Kilometer überstehe. In diesem Moment erblicke ich am Olivaer Platz eine Gruppe kleiner Kinder, die mit ihren Eltern am Streckenrand stehen und dem Läuferfeld zujubeln. Ich beschließe, mich mit den Mini-Marathon-Fans abzuklatschen und mir dadurch eine Motivationsspritze zu verpassen. Mit meinem irren Blick und meinem zur Fratze verzerrten Gesicht sehe ich allerdings aus wie der gruselige Bruder von Freddy Krüger. Als ich den Kindern meine von Bananenresten und isotonischem Lauf-Gesöff verklebte Pfote hinhalte, ziehen die Kleinen erschrocken ihre Hände zurück und fangen an zu weinen. Ich kann das sehr gut verstehen. Mir geht es ganz genauso. Michael Holm ermutigt mich, meinen Gefühlen freien Lauf zu lassen und haucht „Tränen lügen nicht“ in meine Ohren.
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Während die Eltern versuchen, ihre verstörten Kinder zu beruhigen, biege ich auf den Kudamm ein. Ich beäuge das Läuferfeld um mich herum, in der Hoffnung jemanden zu finden, der ungefähr mein Tempo läuft, so dass wir uns zu einer solidarischen Schicksalsgemeinschaft zusammenschließen können, die sich gemeinsam gen Ziel schleppt. Getreu dem Motto „Geteiltes Leid ist halbes Leid“. Was in meiner Situation allerdings nur zuträfe, wenn ich einen anderen Läufer davon überzeugen könnte, mich den Rest der Strecke huckepack zu tragen.
Schließlich entdecke ich zwei rüstige ältere Herren, die auch nicht gerade in Lichtgeschwindigkeit unterwegs sind. Augenscheinlich sind sie italienischer Nationalität, denn Sie tragen grün-weiß-rote Trikots und auf ihren Rücken sind die Namen Mario und Luigi gedruckt. (Vielleicht sind sie auf der Suche nach Prinzessin Peach.) Conny Froboess begrüßt meine neuen Laufkumpanen mit einem beschwingten „Zwei kleine Italiener“. Anscheinend halten die beiden aber nicht viel von meiner geplanten deutsch-italienisch Lauffreundschaft. Kaum das ich Anschluss bei ihnen gefunden habe, legen sie einen Zahn zu, was ich ihnen aufgrund ihres Alters nicht zugetraut hätte – weder aus physischer noch aus dental-medizinischer Sicht.
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Noch acht Kilometer und ich bin auf mich allein gestellt. Als wolle mir der Marathon-Gott einen weiteren Nackenschlag verpassen, schiebt sich langsam aber stetig ein Handbiker an mir vorbei. Vicky Leandros singt dazu „Theo wir fahr’n nach Lodz“. Ich überlege, den Handbiker zu fragen, ob er zufälligerweise auf den Namen Theo hört und etwas dagegen hat, mich auf seinem Schoß mitzunehmen. Wir müssten ja auch gar nicht bis nach Lodz fahren. Es würde mir schon reichen, wenn er mich im Ziel absetzt. Inzwischen ist der Handbiker allerdings schon am Horizont entschwunden.
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Etwas später passiere ich Kilometer 36. Ich könnte schwören, dass die letzte Kilometertafel mindestens 2.000 Meter zurückliegt. Wahrscheinlich eher 3.000. Schlimm, dass bei einer so hochkarätigen Laufveranstaltung solche Dilettanten als Streckenvermesser eingesetzt werden.
Als hätte ich nicht schon genügend körperliche und seelische Qualen zu ertragen, unterzieht mich die Playlist einer weiteren schweren Prüfung und shuffelt mir Wolfang Petry mit „Ganz oder gar nicht“ in den Gehörgang. Mittlerweile denke ich, dass es nicht zu meinen besten Ideen gehörte, mich auf dem Marathon musikalisch von deutschen Schlagern begleiten zu lassen. In welchem geistigen Zustand habe ich mir Wolle Petry, diesen singenden Wischmopp, auf das Handy geladen? Und warum hat das der Virenscanner nicht verhindert?
Wolfgang Petry gehört wirklich zum Bodensatz der deutschen Musik. Zu einfältigen Melodien und nicht minder einfältigen Rhythmen lamentiert er in schätzungsweise 80 bis 90 Prozent seiner Lieder, dass ihn irgendeine Frau verlassen hat und er sein Leben nun alleine und sexuell frustriert fristen muss. Was ja nicht sonderlich verwunderlich ist, wenn man die Wolle der halben neuseeländischen Schafspopulation an seinen Unterarm geklöppelt hat und eine Vokuhila-Frisur nebst Popelbremse im Gesicht für eine sozial akzeptierte Haarmode hält. Das halten möglicherweise nicht alle von Wolfgang Petry begehrten Geschlechtsverkehrspartnerinnen für attraktiv. Andererseits gibt es ja auch für alles einen Fetisch!?
Aber ich kann mich nicht weiter mit den romantisch-sexuellen Problemen Wolfgang Petrys beschäftigen. Ich muss laufen. Immer weiter und weiter.
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Nachdem ich den Potsdamer Platz hinter mir gelassen und das Ende der Leipziger Straße erreicht habe, sind es nur noch zwei Kilometer. Wobei ich die Verwendung des Wortes ‚nur‘ in diesem Zusammenhang für vollkommen unangebracht halte. Für Außenstehende klingt das vielleicht nach nicht mehr viel, für mich sind es aber immerhin noch rund zweitausend Schritte. Und das bei einem Tempo, bei dem ich nicht langsamer wäre, würde ich auf Morla, der Schildkröte, reiten.
Mein Handy setzt derweil den Wolfang Petry-Terror fort und lässt ihn „Du bist Wahnsinn, warum schickst du mich in die Hölle“ blöken. Das gleiche würde ich gerne mein Handy fragen. Und mich selbst.
Als ich auf Unter den Linden einbeige taucht am Streckenrand ein ungefähr siebenjähriger Junge mit blondem Haar auf. Er läuft neben mir her und feuert mich an. Der Teufel hat anscheinend die Gestalt des Sohnes angenommen, um mich zu verhöhnen. „WEICHE VON MIR, SATAN!“, schreie ich den Jungen an. „HINFORT MIT DIR!“ Der Sohn bleibt konsterniert stehen und die Frau muss ihm und der Tochter schonend beibringen, dass ihr Vater augenscheinlich dem Wahnsinn verfallen ist, sie ihn aber bestimmt alle zwei Wochen im Heim besuchen dürfen. Wenn denn die Medikamente gut anschlagen.
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Mein kleiner Ausbruch hat dazu geführt, dass ich nun sehr viel Platz auf der Strecke habe. Ernüchtert stelle ich fest, bereits mehr als dreieinhalb Stunden unterwegs zu sein. Das „Projekt 210“ kann ich somit ad-acta legen. Wobei zur Beschreibung meines gefühlten Alters passt es eigentlich noch.
Nun durchquere ich das Brandenburger Tor. Noch etwas mehr als 200 Meter liegen vor mir. Ein einsamer Kampf zwischen meinem inneren Schweinehund und mir beginnt. Der innere Schweinehund schüttelt aber nur fassungslos den Kopf, bleibt stehen und holt einen Schokoriegel aus der Hosentasche.
Ich nehme auf den letzten Metern jetzt nur noch alles verlangsamt war. Wie in Superzeitlupe. Wahrscheinlich weil ich jeden meiner letzten Schritte genießen möchte. Oder weil ich einfach so langsam bin.
Auf einmal überholt mich ein Promotion-Läufer, der in einer überdimensionalen Werbebierflasche steckt. Was für eine Demütigung. Und dann auch noch vor tausenden Zuschauern auf der Zielgerade. Das kann ich mir nicht bieten lassen.
Ich mobilisiere meine letzten Energiereserven, um die Flasche von hinten wegzugrätschen, aber es fehlt mir an Kraft und Koordination. Stattdessen taumle ich gegen die Streckenabsperrung, wo mich ein besorgter Sanitäter fragt, ob ich es noch ins Ziel schaffe. Mit fahlem Gesicht und blutunterlaufenen Augen blaffe ich ihn an: „Deine Mudder schafft es nicht ins Ziel!“ und krieche weiter. Juliane Werding singt derweil „Der Tag als Christian Hanne starb“.
Eine gefühlte Ewigkeit später überquere ich tatsächlich die Ziellinie. Dort empfängt mich Udo Jürgens und hängt mir einen weißen Bademantel um. „3:33:53. Nicht schlecht, mein Freund“, sagt er und klopft mir auf die Schulter. „Darauf einen griechischen Wein.“ Im Hintergrund ruft Rex Gildo „Hossa!“
Dann taucht Peter Schilling auf und nimmt mich fürsorglich am Arm. Er singt „Völlig losgelöst“ und geht mit mir ins Licht.
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P.S.: Aus Schaden wir man nicht unbedingt klug.
Aber diesmal klappt es bestimmt mit dem „Projekt 210“. Ich habe mir auch schon eine Playlist mit kölschen Karnevalliedern zusammengestellt. In diesem Sinne: „Ja, da simmer dabei! Dat is prima! Viva Colonia!“
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Alle Teile des Schlager-Marathons finden Sie hier.
Christian Hanne, Jahrgang 1975, hat als Kind zu viel Ephraim Kishon gelesen und zu viel “Nackte Kanone” geschaut. Inzwischen lebt er mit seiner Frau und seinen beiden Kindern in Berlin-Moabit. Kulinarisch pflegt er eine obsessive Leidenschaft für Käsekuchen. Sogar mit Rosinen. Ansonsten ist er mental einigermaßen stabil.
Im September erscheint sein neues Buch “Papa braucht ein Fläschchen”. Ebenfalls mehr als zu empfehlen sind “Hilfe, ich werde Papa! Überlebenstipps für werdende Väter”, “Ein Vater greift zur Flasche. Sagenhaftes aus der Elternzeit” sowie “Wenn’s ein Junge wird, nennen wir ihn Judith”*. (*Affiliate-Links)
Na das du es mit dieser Playlist überhaupt soweit geschafft hast, ist schon ein Riesenerfolg. Aber als Kölner kann ich dann nur sagen, mit der kölschen Playlist klappt es dann bestimmt besser.
Kölle Alaaf 😄😄😄
Die kölsche Playlist verwende ich jetzt schon und das klappt im Training 1A. Ob es auf 42 Kilometern noch funktioniert, wird sich zeigen.