Die Stockholm Diaries (12. Juni): Tag 2

Die kompletten Folgen der Stockholm Diaries finden Sie hier.


Auch heute Morgen haben wir uns mit den Kindern zum Frühstücken im Espresso House verabredet. (Never change a winning breakfast place!) Auf dem Weg dorthin ist meine Frau ganz beseelt und schwärmt davon, wie schön es ist, dass wir zu viert zusammen sind, uns alle so gut verstehen und eine gute Zeit miteinander haben.

Fünf Minuten später treffen wir die Kinder und meine Frau wird von ihrer rosaroten Wolke auf den harten Boden der Realität zurückgeholt. Der Sohn ist extrem maulfaul, weil er nicht ausschlafen konnte, und die Tochter unleidlich, weil sie auf irgendetwas allergisch reagiert und ihre Augen unablässig tränen. Vielleicht hätten wir Eltern vorab ein idyllisches Pre-Breakfast einlegen sollen.

Meine Frau und ich sind trotzdem guter Dinge, lassen das aber nicht zu sehr raushängen. Als Eltern, die auf 18 Jahre Erfahrung im Umgang mit mäßig gut gelaunten Kindern zurückblicken können, wissen wir, dass es wenig Sinn macht, sich jetzt um gute Stimmung und fröhliche Konversation zu bemühen. Das führt meist zu schlechter Stimmung und unfröhlicher Konversation. Stattdessen vertrauen wir auf die magische Wirkung der Zimtschnecken. Die werden schon die Dopamin-, Serotonin- und Endorphin-Schleusen der Kinder öffnen und dann kommt die gute Laune von ganz allein.

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Um viertel vor zwölf brechen der Sohn und ich Richtung Flughafen auf. Er muss heute zurückfliegen, weil wir ihn bereits am Freitag von der Schule befreit hatten und er am Dienstag Deutsch schreiben muss. (Für den Sohn eher ein Argument, das gegen eine frühzeitige Rückreise spricht, aber er hatte bei der Reiseplanung kein Mitspracherecht. Ab und an pflegen wir einen diktatorischen Erziehungsstil.)

Wir nehmen den Arlanda-Express, der zwar nicht ganz billig ist – wir sind immer noch in Schweden –, dafür aber die Strecke vom Hauptbahnhof zum Flughafen in 18 Minuten zurücklegt. Über der Tür ist eine Geschwindigkeitsanzeige angebracht. Wir mutmaßen, welche Höchstgeschwindigkeit der Zug erreichen wird. Der Sohn hat großes Vertrauen in die Leistungsfähigkeit schwedischer Zugmotoren und die Belastbarkeit des Stockholmer Schienennetzes. Er tippt auf 311km/h, was ich merkwürdig spezifisch finde, aber es ist ja sein Tipp.

Ich würde auch gerne mit Tempo 300 durch die Landschaft donnern – auch wenn das ökologisch gesehen fragwürdig wäre –, aufgrund meiner drei Jahrzehnte mehr an Lebenserfahrung halte ich das jedoch für unrealistisch und prognostiziere zurückhaltend eine Spitzengeschwindigkeit von 250km/h. Auch damit liege ich weit daneben. Der Zug erreicht nur 203km/h. Mit sechs Jahrzehnten mehr Lebenserfahrung hätte ich vielleicht richtig getippt.

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Ungefähr 75 Minuten vorm Boarding kommen wir am Flughafen an. Für mich ist das ein guter Zeitpuffer, für den Sohn unangemessen früh. Er wäre lieber punktgenau 30 Minuten vor Abflug erschienen, um dann gemächlichen Schrittes in den Flieger zu spazieren. Allerdings ändert er seine Meinung, als wir den Security-Check erreichen. Dort erblicken wir eine Warteschlange, die so lang ist, dass wir ihr Ende nicht sehen können. (Ich hätte gerne meinen Gesichtsausdruck gesehen, als ich realisiert habe, dass diese Menschen tatsächlich alle für den Security-Check anstehen.)

Durch eine kurze Internetrecherche („Stockholm airport what the fuck“) finde ich heraus, dass am Flughafen seit ein paar Tagen das totale Chaos herrscht. Corona, zu viele Reisende, zu kranke Mitarbeiter, zu wenig Personal und und und. Gestern wurden sogar zeitweise die Zubringerstraßen und Bahnstrecken zum Flughafen gesperrt, so dass wir heute froh sein können, dass wir überhaupt kommen dürfen. (Erfahrene und vorausschauende Flugreisende hätten sich selbstverständlich schon gestern über die Flughafensituation und die optimalen Anreisezeiten erkundigt, aber wir sind weder erfahrene noch vorausschauende Flugreisende.)

Nach einem kleinen Fußmarsch von knapp 500 Metern reihen wir uns am Ende der Warteschlange ein. Obwohl ich prinzipiell ein positiv denkender Mensch bin, fehlt es mir an Phantasie, um mir vorzustellen, wie es der Sohn rechtzeitig an Board schafft. Vorsorglich suche ich nach anderen Flugverbindungen. Die sind aber keine wirkliche Alternative, denn sie fliegen Berlin nur mit zwei oder drei Zwischenstopps an. Dadurch würde der Sohn zwar ein paar neue europäische Länder kennenlernen, würde aber erst irgendwann am Montag in Berlin landen und den morgigen Schultag verpassen. Dem Gesichtsausdruck des Sohnes entnehme ich, dass er bereit wäre, dies im Sinne seiner geographischen Weiterbildung in Kauf zu nehmen.

Praktikable Zugverbindungen sind ebenfalls Fehlanzeige. Einen Direktzug nach Berlin gibt es erst morgen Abend. Dann käme er aber erst am Dienstagmorgen um 9 Uhr am Hauptbahnhof an und würde es nicht rechtzeitig zu seiner Deutscharbeit schaffen. Dem Gesichtsausdruck des Sohns entnehme ich, dass er das für die beste Reiseoption hält und etwaige Mehrkosten auch mit seinem Taschengeld begleichen würde.

Ich gebe die Suche auf und hoffe einfach, dass der Sohn rechtzeitig durch die Security kommt. Er ist diesbezüglich eher indifferent.

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Der Sohn nutzt die Wartezeit produktiv. Das muss er auch, denn um 23.59 Uhr muss er eine Lateinpräsentation abgeben. Er weiß von diesem Termin seit drei Wochen und hat selbstverständlich noch nicht damit angefangen. Sein auf gnadenlose Effizienz getrimmtes Zeitmanagement hatte die Erstellung der Präsentation für heute 17.30 Uhr, nach seiner Ankunft in Berlin, vorgesehen. Das könnte nun etwas knapp werden.

Ich könnte den Sohn mit diesem Problem allein lassen, denn er hat es sich schließlich selbst eingebrockt. Außerdem lernt er dann vielleicht, das nächste Mal früher mit einem Projekt anzufangen. Statt ein pädagogisches Exempel zu statuieren, beschließe ich, das Ganze lieber als Möglichkeit für ein gemeinschaftsstiftendes Erlebnis zu betrachten. Darüber werden wir später noch oft lachen, wenn wir erzählen, wie wir anno 2022 am Stockholmer Flughafen die Latein-Präsentation zusammengeschraubt haben. (Ob der Lateinlehrer das genauso lustig findet, kann ich nicht beurteilen.) Außerdem bereitet den Sohn so eine Last-Minute-Aktion viel besser auf sein Studium und Berufsleben vor als ein unrealistisch umsichtiges Projektmanagement und problemlos eingehaltenen Deadlines.

Während der Sohn am Handy die Inhalte für die Präsentation recherchiert und mir Screenshots schickt, probiere ich aus, was die Powerpoint-App auf meinem Smartphone so kann. (Nicht allzu viel, wie sich herausstellt.) Dann diskutieren wir, wie wir die Bilder am besten anordnen können und wie er den Text dazu einspricht. Der Sohn äußert Vorstellungen von Präsentations- und Voice-Over-Effekten, die schon an einem normalen Monitor mit Tastatur und Maus herausfordernd wären, an einem Handybildschirm mit Daumen und Zeigefinger aber nahezu unmöglich umzusetzen sind.

In der Zwischenzeit bekommen wir die Nachricht, dass der Flug nach Berlin um eine Stunde verschoben wird. Das erhöht die Chance, dass der Sohn den Flieger doch noch bekommt, und reduziert das Risiko, dass ich mir bei der Erstellung von irgendwelchen Überleitungseffekten und animierten Einblendungen am Handy einen Kapselriss an den Fingern meiner rechten Hand zuziehe.

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Die Warteschlange schiebt sich derweil Zentimeter um Zentimeter voran. Obwohl alle Wartenden bangen, ob sie ihren Flug noch erwischen, ist die Stimmung ziemlich entspannt. In Deutschland – und wahrscheinlich nahezu überall auf der Welt – würde längst der Terminal brennen, aber hier herrscht eine Stimmung wie in einem buddhistischen Zen-Kloster. Von den Passagier*innen über das Flughafenpersonal bis hin zu den Polizist*innen sind alle relaxed. Vielleicht sind das positive Hygge-Vibes, die von Dänemark rüberwabern. Oder es liegt daran, dass die Menschen hier so viele Zimtschnecken essen. Da kannst du ja keine schlechte Laune haben.

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20 Minuten vor der neuen Abflugzeit erreicht der Sohn den Security-Check. Das wird ein enges Höschen, aber er könnte es gerade so rechtzeitig zum Gate schaffen. Ich instruiere den Sohn noch, allen unnötigen Kram aus seinen Hosentaschen in seinem Rucksack zu verstauen, dann ist er auf sich gestellt. Aus der Ferne beobachte ich, wie er die Sicherheitsschleuse passiert. Das klappt zum Glück problemlos.

Nervös beobachte ich die Tafeln in der Abflughalle, ob der Flieger nach Berlin schon abhebt. Tut er aber nicht. Dafür meldet sich der Sohn. Er sei jetzt am Gate und das Boarding habe noch nicht einmal angefangen. Ich merke wie die Anspannung von mir abfällt. Als der Sohn schließlich in der Luft ist, belohne ich mich erstmal mit einer Zimtschnecke. (Die kurzkettigen Kohlenhydrate sind auch gut gegen mein schlechtes Gewissen, dass ich die lange Wartezeit nicht genutzt habe, um Proviant für den Sohn zu kaufen, der seit 10 Uhr nichts mehr gegessen hat.)

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Auf dem Rückweg zum Hotel bekomme ich eine Nachricht von meiner Frau. Sie sei gerade im Espresso House entweder an den einzigen Menschen in ganz Schweden geraten, der kein Englisch kann, oder der Mitarbeiter mochte sie nicht. Sie sei ganz höflich gewesen, er aber total unfreundlich, und dann habe er ihr auch noch eine Kardamom-Schnecke anstatt einer Zimtschnecke gegeben, obwohl sie ganz deutlich mit dem Finger gezeigt habe, was sie gerne möchte. Ich werfe ein, dass der Mitarbeiter vielleicht kein Englisch kann und sie nicht mochte. Meine Frau würdigt meine Spekulation nicht mit einer Antwort. (Eine gute Beziehung hält es auch mal aus, wenn du nicht immer einer Meinung bist.)

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Am späten Nachmittag treffen wir uns mit der Tochter und schlendern nochmal durch die Altstadt. (Never change a winning Spaziergang-Route!)

Eigentlich wollen wir dann abends etwas typisch Schwedisches essen, aber 215 Kronen für eine Portion Köttbullar mit Kartoffelstampf sind selbst uns in unserer Kurzurlaubsstimmung und in unserem Zustand der Verdrängung bezüglich unserer täglichen Ausgaben hier in Stockholm zu teuer.

Stattdessen essen wir Fish and Chips (meine Frau), Cheese Sticks (die Tochter) und Halloumi-Burger (ich). Das ist vielfältig, international und bunt gemischt und passt damit auch sehr gut zu Stockholm.

Zum Nachtisch gönnen wir uns noch zwei Kugeln Ben-&-Jerry‘s-Eis in einer Bubble-Waffel. Die hat ungefähr eine Million Kalorien und liegt preislich bei knapp zwei Dritteln Köttbullar mit Kartoffelstampf. Da wir uns das aber zu dritt teilen, geht das eigentlich. Zumindest in unserer Kurzurlaubsstimmung und in unserem Zustand der Verdrängung bezüglich unserer täglichen Ausgaben hier in Stockholm.)


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42 Kommentare zu “Die Stockholm Diaries (12. Juni): Tag 2

  1. Sagen wir mal so, Montag war es in Arlanda noch schlimmer…
    Secutity war dieses Mal kein Problem, ich hatte meine leicht gehbehinderte Mutter dabei. Dann geht es locker an der Schlange vorbei.


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