Eine kleine Marathonschau | KW16-2023

Diesmal keine semi-originellen Gedanken und semi-spannenden Erlebnisse aus der abgelaufenen Woche, sondern zum Hamburg Marathon. Aber genauso banal, trivial und egal.


Rückblende

Oktober 2022

Im Januar hatten mein Freund A. und ich uns beim Köln Marathon angemeldet und uns eine Zeit von vier Stunden vorgenommen. Die Laufgötter waren allerdings gegen uns. Obwohl wir uns gut vorbereitet hatten. Aber anscheinend nicht gut genug. A. stieg bei Kilometer 30 entkräftet aus, ich schleppte mich halb laufend, halb gehend weiter, bis ich mich nach vier Stunden und 25 Minuten würdelos über die Ziellinie quälte.

Das wurmte mich alles so sehr, dass ich mich am nächsten Tag für den Hamburg Marathon im April 2023 registrierte. Dann suchte ich mir im Internet einen härteren Trainingsplan. Mit mehr schnellen Einheiten, mehr langen Läufen und mehr Kilometerumfängen. Ich erhoffte mir davon ein besseres Abschneiden in Hamburg, mein Unterbewusstsein wollte mich damit wahrscheinlich bestrafen.

Um den Druck zusätzlich zu erhöhen, nahm ich mir eine Zeit von 3:45 vor, die ich später in einer Mischung aus Größenwahn, vollkommenem Realitätsverlust und fortgeschrittenem Wahnsinn sogar auf 3:30 erhöhte. Fast eine Stunde schneller als in Köln und unter meiner Bestzeit von 3:33:53 vom Berlin Marathon 2013. Damals waren mein Bart und Haar noch dunkelbraun und mein Körper zehn Jahre jünger. Und fünf Kilo leichter. Beste Voraussetzungen für ein Underdog-Sport-Drama, bei dem ich gegen mein jüngeres Ich antrete.

Im Hier und Jetzt

23. April 2023, Hamburg

6 Uhr. Der Handywecker reißt mich aus dem Tiefschlaf. Versuche mich zu orientieren, wo ich bin. Auf dem Schlafsofa im Wohnzimmer meiner Schwägerin. A. ist so nett, uns für das Wochenende zu beherbergen.

Werde langsam wach. Habe nicht total schlecht, aber auch nicht super gut geschlafen. Zwar war ich schon um kurz nach zehn ins Bett gegangen, wachte aber um halb drei auf und konnte zwei Stunden nicht einschlafen.

Das gab mir Gelegenheit, mich hin und her zu wälzen und zu grübeln, ob die 800 Trainingskilometer für einen guten Lauf ausgereicht haben, und was alles schief gehen könnte: Zu schnell starten, zu wenig Kondition, stolpern und sich das Wadenbein brechen, den Startblock nicht finden, die Hose beim Laufen verlieren, sich auf der Strecke verlaufen, … Die Möglichkeiten waren unendlich.

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Sitze schlapp in der Küche und kann mir nur schwerlich vorstellen, in naher Zukunft Marathon zu laufen. Oder überhaupt jemals.

Esse drei Toast mit Marmelade und trinke zwei große Gläser Wasser. Gehe auf Toilette.

Der Toilettengang ist heute meine größte Sorge. (Abgesehen von den 42 Kilometern natürlich.) Nicht weil ich unter einer Toilettenphobie leide, sondern weil ich in den letzten Tagen meinen Wasserkonsum drastisch erhöht habe und ständig aufs Klo muss. Selbst bei 90-Minuten-Läufen musste ich mich mindestens einmal in die Büsche schlagen. Das will ich beim Marathon unbedingt vermeiden.

Sitze wieder in der Küche. Mein Kopf tut weh. Um den Harndrang nicht zusätzlich anzutreiben, habe ich seit gestern Morgen keinen Kaffee mehr getrunken. Nun leide ich unter Koffeinentzug. Gehe nochmal aufs Klo.

Ziehe anschließend meine Schuhe an, verabschiede mich von meiner Frau und mache mich auf den Weg. Vorher statte ich der Toilette einen weiteren Besuch ab.

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In der Hochbahn sitzen schon ein paar Läufer*innen. Diese erkenne ich an den roten Kleiderbeuteln. Und den Sportklamotten. Und ihren ungewaschenen Haaren.

Eigentlich wollte ich bis Sternschanze fahren. Dort in der Nähe hatte ich gestern die Startunterlagen abgeholt. Alle anderen steigen aber bereits bei Schlump aus. (Immer wenn ich den Namen Schlump lese, frage ich mich, wer da die Chance verpasst hat, die Station Schlumpf zu nennen.)

Da ich sehr leicht beeinflussbar bin, verlasse ich ebenfalls die Bahn und gehe den anderen hinterher. Wie so ein Schlafschaf. Aber betont lässig, als hätte ich ohnehin hier aussteigen wollen, und wüsste, wo ich hin muss. Fahre gemeinsam mit den anderen bis Messehallen und dackle der Läufer*innenherde hinterher, bis wir die Halle mit der Kleiderbeutelabgabe erreichen.

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In der Halle herrscht geschäftiges Treiben. Lauter Menschen, die sich umziehen, etwas trinken, letzte Kohlehydrate essen, Dehn-, Yoga- und Entspannungsübungen machen und meditieren. Oder schlafen. Das ist nicht immer so einfach zu unterscheiden.

Gehe erstmal auf Toilette. Zum Glück gibt es viele Pissoirs und ich muss mich nicht in die Schlange vor den Dixie-Klos einreihen.

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Beobachte einen Typ beim Aufwärmen. Er geht auf Zehenspitzen. Sehr kraftvoll und dynamisch, aber dennoch elegant. Wie im Germany’s-Next-Topmodel-High-Heels-Training bei Jorge Gonzales. Anschließend trippelt er auf den Fersen, dann spaziert er in einer Art Stechschritt durch die Halle. Sieht aus, als sei er Komparse im Ministry for Silly Walks.

Auf seiner Startnummer steht, dass er im Block A eingeteilt ist. Das heißt, er läuft den Marathon in weniger als zweieinhalb Stunden. Somit scheint er zu wissen, was er da tut, und ich will nichts gesagt haben.

Gehe ein weiteres Mal zu den Pissoirs. Aber nicht auf Zehenspitzen oder Fersen, sondern ganz normal. Also, so normal, wie es mir möglich ist.

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Noch eine Stunde bis zum Start. Esse eine Banane. Danach ein weiterer Toilettenbesuch. Erstaunlicherweise kommt immer noch etwas raus. Aber ganz durchsichtig. Falls Sie das interessiert.

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Entledige mich meiner überschüssigen Klamotten und gebe meinen Kleiderbeutel ab. Beginne danach mit dem Aufwärmen. Hinter den Pissoirs, wo ich einen kurzen Zwischenstopp einlege.

Beim Einlaufen tritt ein Problem auf, das ich bei der Vorbereitung nicht bedacht habe. Für die effiziente und schnelle Zufuhr von Kohlehydraten während des Marathons habe ich mir Energie-Gels besorgt. Auf den langen Läufen habe ich getestet, ob mein Magen sie verträgt und geübt, die Beutel unfallfrei zu öffnen. Das hat alles wunderbar funktioniert.

Bei diesen Läufen hatte ich maximal zwei Gels dabei. Eins in der linken und eins in der rechten Hosentasche. Für den Marathon benötige ich aber sieben Gels. Ein Beutel wiegt circa 70 Gramm. Das heißt, zu Beginn des Laufs schleppe ich ein halbes Kilo Energie-Gels mit mir rum. Die Beutel wabbeln und wackeln in meinen Taschen rum und das Gewicht zieht meine Hose nach unten, so dass ich Angst habe, sie zu verlieren.

Rufe meine Frau an. Sie hat sich dankenswerterweise bereit erklärt, mir an verschieden Stellen der Strecke neue Getränkeflaschen zu reichen. (Das fällt unter die schlechten Zeiten unserer Ehe, durch die sie durchmuss, bis dass der Tod uns scheidet.) Ich bitte sie, die Ersatz-Gels mitzunehmen und mir beim zweiten und dritten Treffpunkt jeweils zwei davon zu geben.

Beende nach knapp zehn Minuten das Einlaufen und bringe die nicht benötigten Gels zu meinem Kleiderbeutel. Selbstverständlich nicht, ohne wieder bei den Pissoirs vorbeizuschauen.

Streckenprofil für den Orientierungslauf der Orientierungslosen.

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Mache mich auf den Weg zum Startbereich. Komme an ein paar Toiletten vorbei und weil sie schon mal da sind, benutze ich sie auch.

Im Startblock steht neben mir ein junger Mann, der um Smalltalk bemüht ist. Er fragt, ob ich aus Berlin sei. (Das vermutet er, da ich ein Shirt einer Berliner Laufveranstaltung trage.) Er selbst komme ursprünglich aus Genf, studiere aber in Berlin. Sein Freund, der neben ihm steht, sei extra aus London für den Hamburg Marathon angereist.

Mir ist so gar nicht nach Small Talk. Generell nicht und gerade noch weniger. Ich bin müde, nervös und etwas schlecht gelaunt, da ich mittlerweile davon überzeugt bin, mein Laufziel heute nicht zu erreichen. Antworte zunächst etwas einsilbig, reiße mich dann aber zusammen und werde etwas gesprächiger. Schließlich möchte ich der Deutsch-Schweizer-Englischen Völkerfreundschaft keinen Schaden zufügen.


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