Zum Sonntagabend gibt es meine semi-originellen Gedanken und semi-spannenden Erlebnisse aus der abgelaufenen Woche. Manchmal banal, häufig trivial, meistens egal.
17. April 2023, Berlin
Im Supermarkt. Verwende beim Bezahlen einen 7-fach-Payback-Punkte-Coupon, den wir kürzlich zugeschickt bekommen haben. Ja, meine Frau und ich sind Teil eines Kundenbindungsprogramms, bei dem wir einem undurchsichtigen Konzern Daten über unsere Einkaufsgewohnheiten sowie unsere bevorzugten Produkte überlassen. Und unsere Seelen obendrein. Dafür können wir uns ab und an Prämien wie einen Stabmixer oder ein Handrührgerät aussuchen. Wüsste die Frau das, die sich letztens an der Kasse so sehr über das bargeldlose Einkaufen echauffiert hat, ginge sie wahrscheinlich spontan in Flammen auf.
Fühle mich beim Einscannen des 7-fach-Gutscheins wie meine Großmutter. Die Eltern meines Vaters waren in den 50ern in die USA ausgewandert. Dort besuchten wir sie Mitte der 80er Jahr. Als ich damals mit meiner Großmutter einkaufen ging, kramte sie an der Kasse aus ihrem Geldbeutel einen Stapel Coupons hervor, die sie aus verschiedenen Zeitungen und Magazinen ausgeschnitten hatte. Für die gab es dann eine extra Packung Cornflakes, einen gratis Kanister Milch, zehn Prozent Rabatt oder andere Vergünstigungen.
Eigentlich hatten meine Großeltern es nicht nötig, Rabatt-Coupons zu benutzen. Sie waren recht wohlhabend, besaßen in Deutschland eine Eigentumswohnung und in Los Angeles in einem besseren Viertel ein großes Haus mit Swimming-Pool. Da bist du nicht wirklich auf kostenlose Cornflakes angewiesen. Aber wer weiß. Vielleicht basierte der Wohlstand meiner Großeltern gerade auf der konsequenten Nutzung der Coupons.
Wie dem auch sei. Von unseren Payback-Punkten werden wir uns eher kein Haus mit Schwimmbad leisten können. Dafür reicht es demnächst möglicherweise für eine Heißluft-Fritteuse.
18. April 2023, Berlin
Heute ist Internationaler Tag der Jongleure. Ein Feiertag, mit dem ich nichts am Hut habe. Zum einen in Ermangelung eines Huts, zum anderen weil es mir nie gelungen ist, die Kunst des Jonglierens zu erlernen. Ich kann allenfalls zwei Bälle gleichzeitig in der Luft halten. In der Fachwelt der Jongleure gilt das wahrscheinlich nicht als Jonglage.
Meine mangelhafte Hand-Auge-Koordination in Kombination mit der Unausweichlichkeit der Schwerkraft standen jeglichen Jonglier-Versuchen meinerseits im Wege. Allerdings habe ich mich auch nie wirklich bemüht, mir das Jonglieren anzueignen. Dazu hätte ich in der Schule in die Zirkus-AG gehen können, aber das wollte ich nicht. Die Zirkus-AG war nicht gerade das Sammelbecken der „Cool Kids“ der Schule. Ich hatte zwar nie die Illusion, zu den Coolsten der Jahrgangsstufe zu zählen – zu klein, zu unsportlich, zu spätentwickelt –, sah mich aber in einer Mischung aus Hochmut und Überheblichkeit in der sozialen Peer-Group-Hierarchie weit über den Mitgliedern der Zirkus-AG angesiedelt. Die AG hat sich damals selbst organisiert. Es gab keine Lehrer*innen, die sie betreute. (Die fürchteten wahrscheinlich um ihre soziale Stellung im Kollegium.)
Auf Schulfesten und anderen schulischen Veranstaltungen führten die Mitglieder der Zirkus-AG regelmäßig vor, was sie sich beigebracht hatten. Da wurde auf Stelzen gelaufen, jongliert (!) und gezaubert. Selbst als Jugendliche, die mit nur drei Fernsehprogrammen und noch ohne Internet aufwuchsen, löste das bei uns keine Begeisterungsstürme aus. Wenn du mal bei „Wetten, dass …?“ gesehen hast, wie Siegfried und Roy Tiger und Löwen verschwinden ließen, warst du nur mäßig beeindruckt, wenn ein pickliger Junge aus der Stufe unter dir aus einem Kartenstapel die Pik Sieben zog.
Richtig Respekt zollten wir allerdings dem Auftritt von S. Der trat beim Weihnachtskonzert als Feuerspucker auf und setzte dabei fast die Aula in Brand. Aber S. war auch schon vorher cool. Obwohl und nicht weil er in der Zirkus-AG war.
In Berlin sehe ich manchmal am Großen Stern Jongleure. Wenn die Autofahrer Rot haben, fahren diese auf Einrädern und jonglieren dabei mit Ringen, Keulen oder vielleicht auch mal mit Messern. Anschließend versuchen sie, die Autofahrer davon zu überzeugen, ihnen für ihre Darbietung einen kleinen Obolus zu geben. Das gelingt aber nur in den seltensten Fällen. Zumindest beruhigt es mich, dass ich aufgrund meiner fehlenden Jonglier-Kompetenzen keine finanziellen Einbußen erleiden musste.
19. April 2023, Berlin
Bin mit dem Rad unterwegs, als ich in einen Konvoi von circa 20 französischen Schüler*innen gerate, die eine geführte Bike-Sightseeing-Tour machen. Ich frage mich, ob diese Fahrrad-Stadtführungen ein Versuch sind, die Zahl der Touristen in Berlin zu reduzieren. Wie sonst kommst du auf die Idee, eine Gruppe ausländischer Urlaubende, die die Landessprache nicht verstehen, die örtlichen Verkehrsregeln nicht kennen, keine geübten Radler*innen sind und wahrscheinlich Restalkohol vom Vorabend haben, auf Rädern durch eine Großstadt fahren zu lassen und sie dabei ständig abzulenken, indem ihnen irgendein Hansel halbgare Informationen über irgendwelche Sehenswürdigkeiten erzählt.
20. April 2023, Berlin
In Vorbereitung auf den Marathon am Sonntag muss ich die Woche über möglichst viel trinken, um beim Lauf ausreichend hydriert zu sein. Wenn du am Tag zweieinhalb bis drei Liter Wasser in deinen Körper schüttest, sagt dieser allerdings irgendwann: „Das Zeug muss raus!“
Ungünstigerweise teilt mein Körper mir das mit, als ich gerade beim Einkaufen bin. Aber er sagt nicht: „Du, Christian, es wäre ganz gut, wenn du es vielleicht demnächst mal einrichten könntest, auf Toilette zu gehen. Also, natürlich nur wenn es dir in den Kram passt und keine Umstände macht.“ Nein, die Ansage ist mehr wie kurz vor einer Pipeline-Katastrophe und der Leiter des Einsatzkommandos brüllt: „Die Leitung explodiert gleich. Wir müssen Druck ablassen. SOFORT! JETZT! TEMPO, TEMPO, TEMPO! WAS ZUR HÖLLE VERSTEHST DU AN ‚SOFORT‘ NICHT, DU PENNER?“
Glücklicherweise habe ich meine Einkäufe bereits erledigt und bin auf dem Weg zur Kasse. Vor mir geht eine Tagesmutter mit einem riesigen Wagen, in dem fünf Kinder im Alter von zwei bis drei Jahren sitzen. Es ist kurz vor 12, die Kinder haben Hunger, sind müde und entsprechend schlecht gelaunt.
Jeder Mensch, der über durchschnittlich viel Sozialkompetenz verfügt, würde die Tagesmutter und die quengelnden Kinder selbstverständlich zuerst an die Kasse lassen. Das ist gar keine Frage. Das gebieten Anstand, Höflichkeit und Rücksichtnahme. Meine Blase gebietet aber, geleert zu werden. Und zwar unverzüglich. Die schert sich nicht um Konventionen des angemessenen Miteinanders. Der Einsatzkommando-Leiter auch nicht.
Daher lege ich einen kurzen Sprint ein und schere mit meinem Einkaufswagen kurz vor der Tagesmutter an der Kasse ein und packe meine Lebensmittel auf das Warenband. Das wirkt sich nicht gerade positiv auf meine Beliebtheitswerte im Supermarkt aus, aber meiner Blase und dem Leiter des Einsatzkommandos, der inzwischen einen ganz roten Kopf hat, ist das ziemlich egal.
Ich rede mir ein, dass den Kindern ohnehin nicht geholfen wäre, wenn ich sie vorließe, so dass sie fünf Minuten eher zu ihrem Mittagsessen und ihrem Schläfchen kommen, sie aber traumatisiert würden, weil sie mitansehen müssten, wie sich ein mittelalter, bärtiger Mann an der Supermarktkasse einpullert. Wobei sie das möglicherweise gar nicht so ungewöhnlich fänden. Das passiert ihnen ja selbst andauernd. Wahrscheinlich würden sie einfach denken: „Das ist einer von uns.“
Ich blende die nölenden Kinder aus, bezahle und räume trippelnd die Einkäufe in meinen Rucksack und meine Tasche. Dann mache ich mich zügigen Schritts auf den Heimweg. Allerdings nicht zu zügig, da ich befürchte, sonst die Kontrolle über meine Harnröhre zu verlieren.
Falls Sie sich fragen, ob ich es bis nach Hause geschafft habe oder vorher einen Zwischenstopp einlegen musste, kann ich sie beruhigen. Meine Sozialkompetenz ist zwar so niedrig, dass ich mich an der Kasse vor eine Gruppe hungriger Kleinkinder drängeln, aber doch noch hoch genug, um nicht am helllichten Tag bei uns in der Straße an einen Baum zu pinkeln. (Obgleich das in Berlin gar nicht so ungewöhnlich wäre.)
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Christian Hanne, Jahrgang 1975, hat als Kind zu viel Ephraim Kishon gelesen und zu viel “Nackte Kanone” geschaut. Mit seiner Frau lebt er in Berlin-Moabit, die Kinder stellen ihre Füße nur noch virtuell unter den elterlichen Tisch. Kulinarisch pflegt er eine obsessive Leidenschaft für Käsekuchen. Sogar mit Rosinen. Ansonsten ist er mental einigermaßen stabil.
Sein neues Buch “Wenn ich groß bin, werde ich Gott” ist im November erschienen. Ebenfalls mehr als zu empfehlen sind “Hilfe, ich werde Papa! Überlebenstipps für werdende Väter”, “Ein Vater greift zur Flasche. Sagenhaftes aus der Elternzeit” sowie “Wenn’s ein Junge wird, nennen wir ihn Judith”*. (*Affiliate-Links)