Eine kleine Wochenschau | KW02-2023 (Teil 2)

Teil 1


13. Januar 2023, Berlin

Der Sohn geht ins Gefängnis. Nicht weil er etwas verbrochen hat, sondern auf Exkursion mit seinem Philosophie-LK. Sie behandeln gerade das Thema Normen und Sitten.

Nachmittags erzählt der Sohn, es wäre spannend gewesen. (Auch keine Selbstverständlichkeit bei einem 16-jährigen, wo sich Teenager doch eher für TikToks, FIFA und die neuesten Netflix-Serien begeistern, als die pädagogische Vermittlung schulischer Inhalte.) Sie hätten mit dem Leiter der JVA gesprochen und mit einer Frau, die für die Ausbildung der Justizvollzugsbeamten zuständig ist. (Beziehungsweise für „die Wärter“, wie es der Sohn ausdrückt.). Und mit einem Häftling hätten sie auch geredet. Jemandem, der wegen Betrugs bei einer Bank einsäße. Für 6 Jahre.

Der Sohn klingt ein wenig enttäuscht, als er das erzählt. Er hat sich wohl einen spektakuläreren Verbrecher erhofft. Einen Bankräuber oder ein Gang-Mitglied. Eine Bank zu betrügen, sei ja nicht so wahnsinnig schlimm, meint er. In seinem Normen- und Sittengefüge gilt Bankbetrug anscheinend als opferloses Verbrechen und bewegt sich knapp über Lappalien-Level.

14. Januar 2023, Berlin

2 Uhr. Der Wecker klingelt. Eine sehr unschöne Zeit für klingelnde Wecker. Aber die Tochter reist heute ab und um 6 Uhr geht ihr Flieger Richtung Irland. Als treusorgende Eltern begleiten wir sie selbstverständlich zum Flughafen, um sie zu verabschieden. Während ich den Wecker ausmache, überlege ich allerdings, ob es nicht auch zum Erwachsenwerden dazugehört, manche Sachen ohne seine Eltern zu machen. Zum Beispiel mitten in der Nacht zum Flughafen zu fahren.

Aufgrund der frühen Uhrzeit gönnen wir uns unter Protest ein Taxi nach Schönefeld. Unser Konto protestiert. Zur freundlicheren Gestaltung unseres Kontostandes hatten wir uns nach den vielen Weihnachtsausgaben im November und Dezember für den Januar eigentlich einen Shopping Ban auferlegt. Mit dem Taxi zum Flughafen fahren, entspricht nicht ganz dem Geist dieses Shopping Bans. Aber wir erwerben das Taxi ja nicht, sondern lassen uns damit lediglich zum Flughafen bringen. Somit verstoßen wir formal gesehen nicht gegen unser Einkaufsverbot. (Dem Kontostand sind solche Winkelzüge allerdings ziemlich egal.)

Um 3 Uhr kommt das Taxi. Der Fahrer legt nicht gerade eine überbordende Freundlichkeit an den Tag. Aber es ist ja auch Nacht. Da kannst du nicht immer auf höchstem Knigge-Niveau performen. Dafür ist er erfreulich wortkarg. Das weiß ich bei einem Taxifahrer ohnehin mehr zu schätzen als das Einhalten veralteter Höflichkeitskonventionen.

Der Fahrer verzichtet darauf, sich anzuschnallen. Mich macht das leicht nervös. Während der Fahrt beugt er sich ziemlich weit nach vorne, so dass er mit seinem Gesicht unnormal nah an der Windschutzscheibe hängt. Das macht mich auch leicht nervös. Vielleicht beugt er sich so weit nach vorne, weil er im Dunklen nicht gut sieht. Ich beschließe, diesen Gedanken nicht weiter zu verfolgen.

Ohnehin scheint sein Augenlicht gut genug zu sein, um die Geschwindigkeitsbegrenzungen weniger als Vorschrift im Sinne der Straßenverkehrsordnung, sondern mehr als freundliche Empfehlung von Volker Wissing zu interpretieren. Er rast mit 130 durch die 80er-Zonen.

Durch das flotte Tempo erreichen wir bereits nach einer knappen halben Stunde den BER. Als vorsichtig planende Menschen hatten wir für die Fahrt einen Puffer von 30 Minuten eingeplant. Da sich niemand auf die Autobahn geklebt hat, um Verkehr und Klimakatastrophe aufzuhalten, brauchten wir den gar nicht. Nun sind wir eine halbe Stunde zu früh da und die Gepäckaufgabe hat noch nicht geöffnet.

Wobei Gepäckaufgabe begrifflich etwas unpräzise ist. Bei Ryanair gibt es dafür kein Personal, sondern du musst das alles selbst machen. Den Koffer auf die Waage stellen, ein Etikett ausdrucken, das Etikett am Koffer befestigen, das Etikett einscannen und den Koffer schließlich aufs Förderband stellen.

Somit handelt es sich nicht um eine Gepäckaufgabe, sondern um eine Gepäck-Selbstaufgabe. Selbstaufgabe klingt ebenfalls nicht ganz zutreffend. Hört sich eher nach einem mentalen Zustand der Erschöpfung und der Antriebslosigkeit an. Wenn du um 2 Uhr aufgestanden bist und noch keinen Kaffee hattest, passt das dann doch ganz gut.

In der Gepäck-Selbstaufgabe-Schlange stehen vor uns ein Mann und eine Frau. Sie sind ungefähr so alt wie meine Frau und ich. (Das heißt, sie sind wahrscheinlich fünf Jahre jünger als wir.) Die beiden trinken einen Rotkäppchen-Piccolo. Um 3.30 Uhr. Bei der Uhrzeit weißt du nicht, ob sie schon oder immer noch trinken. Vielleicht bekämpfen sie mit dem Sekt ihre Flugangst. Oder sie stimmen sich auf ihren Urlaub auf Teneriffa oder Gran Canaria ein.

Kurz nach vier hat die Tochter ihren Koffer eingecheckt und per Förderband auf den Weg zum Flugzeug geschickt. Anschließend geht sie zur Security und wir müssen uns verabschieden. Nun wird es einige Monate dauern, bis wir sie wiedersehen. Um diese Erkenntnis zu verdauen, wäre ein Piccolo keine schlechte Sache. Oder wenigstens ein Kaffee.

15. Januar 2023, Berlin

Wir verbringen den Vormittag damit, Weihnachten in den Kisten auf unserem Schlafzimmerschrank zu verstauen. Meine Frau räumt die Weihnachtsdekoration im Flur weg, ich schmücke den Baum ab. Das ist eine sehr deprimierende Angelegenheit. Vor gut drei Wochen haben wir den Baum noch alle zusammen geschmückt, die Tochter schaute per Video-Call zu. Dabei tranken wir Sekt, aßen Plätzchen und freuten uns auf das bevorstehende Weihnachtsfest mit der Familie und über die Aussicht auf ein paar freie, entspannte Tage.

Jetzt dagegen takle ich den Baum allein ab und der zuckerfrei Dryjanuary verbietet es, die Laune durch alkoholische Getränke und Süßigkeiten anzuheben. Doof. Vorfreude auf irgendein Fest gibt es auch nicht und wir haben lediglich die Aussicht auf ein paar arbeitsame Wochen, die wahrscheinlich auch noch grau und verregnet sein werden. Noch doofer.


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