Zum Sonntagabend gibt es meine semi-originellen Gedanken und semi-spannenden Erlebnisse aus der abgelaufenen Woche. Manchmal banal, häufig trivial, meistens egal.
12. Dezember 2022, Berlin
Bin auf dem Weg zum Supermarkt. Es ist kalt und ich habe meine Hände tief in den Taschen meiner Jacke vergraben. Plötzlich trete ich auf eine vereiste Fläche und gerate ins Rutschen. Durch eine Pendelbewegung des Oberkörpers vermeide ich einen spektakulären Sturz, bei dem ich mir den Oberschenkelhals oder die Hüfte gebrochen und ein Erdbeben der Stärke 5,5 bis 6 ausgelöst hätte. Vor meinem inneren Auge sehe ich mich elegante und katzengleiche Bewegungen ausführen wie ein Kung-Fu-Kämpfer, der seit seinem dritten Lebensjahr in einem buddhistischen Shaolin-Kloster ausgebildet wurde. Außenstehende denken dagegen möglicherweise eher an ein alkoholisiertes Nilpferd mit Gleichgewichtsstörungen, das Tschaikowskis „Tanz der Schwäne“ aufführt.
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Wie bereits letztes Jahr schauen meine Frau und ich seit Anfang Dezember abends ausschließlich Weihnachts-Romcoms. Die bewegen sich zwar nicht gerade auf gehobenem Arthouse-Niveau und wissen auch nur in den seltensten Fällen durch originelles Storytelling zu überzeugen, aber sie helfen dabei, sich in adventliche Stimmung der Rührseligkeit zu versetzen.
Was unsere cineastische Auswahl angeht, sind wir nicht besonders anspruchsvoll. Sofern Netflix, Amazon Prime und Co. uns etwas als Weihnachtsfilme vorschlagen, schauen wir es. Zum Beispiel The Noel Diaries. Eine seichte, mit wenigen überraschenden Momenten aufwartende Geschichte, aber mit äußerst attraktiven Hauptdarsteller*innen, was einen großzügig über die ein oder andere Unzulänglichkeit bei Plot und Dramaturgie hinwegschauen lässt. Oder Christmas with you mit Freddie Prinze Jr. Der sieht auch nicht mehr wie der Teeniestar aus, der er mal war, sondern wie der Mit-40-jährige, der er jetzt ist. (Sein kreisrunder Haarausfall nickt zustimmend.) Oder Falling for Christmas, mit Lindsay Lohan, die sich eher nicht auf eine Dankesrede für die Oscarverleihungen im nächsten Jahr vorbereiten muss. Oder Let it snow, ein Film über die Irrungen und Wirrungen einer Gruppe von Jugendlichen, die sich mit Fragen über Freundschaft, das Leben und vor allem die Liebe auseinandersetzen.
Nachdem wir in den letzten beiden Jahren circa 40 Weihnachtsfilme geschaut haben, ist uns eines aufgefallen. In einer amerikanischen Christmas-Romcom solltest du besser keine Mutter sein. Da liegt die Wahrscheinlichkeit bei 25 bis 30 Prozent, dass du tot bist. (Wahlweise wegen Krebs oder aufgrund eines Autounfalls.) Sorgen über deinen verwitweten Mann musst du dir aber keine machen. Der sieht trotz seiner auch nach Jahren noch anhaltenden Trauer immer noch sehr gut aus, bekommt den Alltag als Alleinerziehender super hin – meist mithilfe seiner Mutter – und verliebt sich in der Weihnachtszeit in eine ebenfalls gut aussehende Frau, so dass er kein Leben in Einsamkeit fristen muss. Besagte Frau versteht sich 1a mit seinem Kind – meist eine Tochter –, denn böse Stiefmütter gibt es nur in Grimms Märchen, aber nicht in Weihnachts-Romcoms. Kurz vor Schluss gibt es noch ein kleines bis mittleres Problemchen zu lösen – meist in Person eines ex-Freundes oder -Mannes der gut aussehenden Frau –, aber dann ist alles Friede, Freude, Eierkuchen. Beziehungsweise Friede, Freude, Weihnachtsstollen.
13. Dezember 2022, Berlin
Im Supermarkt spricht mich kurz vor der Kasse eine Frau an. Sie fragt, ob ich möglicherweise aus Versehen, ein paar Paprika in ihren Einkaufswagen gelegt hätte. Könnte der Anfang eines mittellustigen deutschen Weihnachtsfilms sein. („Drei Haselnüsse im Bio-Markt“ mit Nora Tschirner und Florian David Fitz in den Hauptrollen sowie Justus von Dohnányi als Supermarktleiter)
Das Leben ist aber keine Romcom. Bei der mich ansprechenden Frau handelt es sich um eine 70-jährige rüstige Seniorin. Außerdem liegen in ihrem Wagen Stauden- und Knollensellerie sowie irgendwelches undefinierbares Knollengemüse, die allesamt weder Rom noch Com sind. Obendrein bin ich verheiratet und meine Frau erfreut sich bester Gesundheit, was gegen eine Besetzung meinerseits in einer Real-Life-Romcom spricht.
Ich entschuldige mich bei der Dame, befreie die Paprika aus ihrer Sellerie-Knollengemüse-Geiselhaft und wir ziehen beide unserer Wege. (Justus von Dohnányi lässt enttäuscht die Schultern hängen.)
14. Dezember 2022, Berlin
Unser abendlicher Spaziergang führt meine Frau und mich an einem Ladengeschäft vorbei. Über der Tür hängt ein großes Schild mit der Aufschrift Kunst + Taxi. Drinnen hängen an den Wänden gemalte Bilder, in der Mitte des Raums steht ein Schreibtisch mit Computer, Telefon und ein einige Aktenordner.
Kunst + Taxi scheint mir ein sehr spezielles Geschäftsmodell mit einer sehr spitzen Positionierung zu sein, aber durchaus mit Charme. Du kannst dich von dort entweder zum Flughafen fahren oder dir ein Bild malen lassen. Oder du lässt ein Bild von dir malen, wie du im Taxi sitzt und zum Flughafen gefahren wirst.
15. Dezember 2022, Berlin
In den letzten Tagen haben wir in der Weihnachtsbäckerei richtig Gas gegeben, so dass ich heute unsere letzte Sorte finalisieren kann: Dominosteine.
Im Rezept steht „Zum Schluss werden die Dominosteine vorsichtig mithilfe zweier Kuchengabeln mit Schokolade überzogen.“ Keine Ahnung, wie das funktionieren soll. Bei mir klatschen die Dominosteine andauernd in die Schokosauce. Für vorsichtig bin ich wohl zu grobmotorisch veranlagt. Kurzerhand nehme ich die Dominosteine in die Hand und tunke sie so lange in die Schokolade, bis sie damit bedeckt sind. Quasi ein Chocolate-Boarding für die Dominosteine.
Innerhalb kürzester Zeit sind meine Hände und meine Klamotten komplett mit Schokolade eingesaut. In meiner Romcom-Phantasiewelt strahlt das leicht erotische „Ghost – Nachricht von Sam“-Vibes aus. Sie wissen schon. Die Szene, in der Patrick Swayze und Demi Moore gemeinsam töpfern und irgendwann nicht nur den Ton kneten.
Allerdings fehlt in unserer Küche für das perfekte Romcom-Setting Demi Moore. (Meine Frau wird das mit Wohlwollen registrieren.) Obendrein bin ich nicht Patrick Swayze, so dass ich nicht oberkörperfrei weihnachtsbacken kann, um meine im Fitnessstudio gestählte Brust-, Bauch- und Oberarmmuskulatur zur Schau zu stellen. Stattdessen sehe ich aus wie ein Kita-Kind, das mit beiden Händen ins Nutella-Glas gelangt hat. Das Leben ist definitiv keine Romcom. Schade.
16. Dezember 2022, Berlin
Der Sohn erzählt, dass in der Schule die Fehlstunden besprochen wurden. Er hätte gerade 39 unentschuldigte Fehlstunden. Da müssten wir uns aber keine Sorgen machen. Die Lehrerin hätte vergessen, die Entschuldigungen einzutragen, als er kürzlich krank war, und die Beurlaubung vor dem 80. Geburtstag der Oma müsse sie auch noch berücksichtigen. Würden diese Stunden alle abgezogen, blieben nur noch zwei, vielleicht auch drei, aber maximal vier und auf keinen Fall mehr als fünf Stunden übrig, bei denen es ihm zeitlich nicht möglich gewesen sei, am Unterricht teilzunehmen.
So elegant, wie der Sohn „schwänzen“ umschrieben hat, sehe ich für ihn eine große Karriere in der PR-Branche.
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Am Wochenende richtet der Judoverein des Sohns sein traditionelles Weihnachtsturnier aus. Ich fahre abends in die Sporthalle und helfe beim Aufbau.
Auf einer Bank in der Halle entdecke ich ein Hausaufgaben-Heft. Es gehört Marcel aus der 6d. Marcel hat gerade keinen guten Lauf. Vorgestern hatte er einen Eintrag, weil er im Mathematikunterricht beim Lösen der Aufgaben zu langsam ist und außerdem fehlt schon seit einigen Wochen sein Geo-Dreieck. Gestern hat eine andere Lehrerin in das Heft geschrieben, Marcel käme häufig zu spät und seine Eltern mögen ihn dabei unterstützen, pünktlich zu kommen. Vielleicht kann der Sohn Marcel mit einer Sprachregelung aushelfen, warum es ihm zeitlich nicht möglich ist, rechtzeitig zum Schulbeginn zu erscheinen.
17. Dezember 2022, Berlin
Das Judoturnier findet in Kladow statt. Das bedeutet für uns eine circa 60- bis 75-minütige Anreise mit den Öffis. Jedes halbe Jahr, wenn ich dort hinfahre, wundere ich mich, dass das noch im Tarif-Bereich AB liegt. Und wenn wir ankommen, sieht es dort so ländlich aus, dass ich mich noch mehr wundere, dass das noch zu Berlin zählt.
Das Turnier beziehungsweise das Wiegen beginnt um 8 Uhr. Wir müssen bereits um halb acht in der Halle sein, was es erforderlich macht, dass wir um kurz nach sechs im Bus sitzen, weswegen wiederum der Wecker um 5 Uhr 20 klingelt. An einem Samstagmorgen. Es ist alles sehr unschön.
Meine Aufgabe bei dem Turnier besteht wie seinerzeit im April darin, das Computerprogramm zu bedienen, das alle Teilnehmer*innen erfasst und die Kampflisten in den verschiedenen Alters- und Gewichtsklassen auslost. Diesmal kommt ein anderes Programm zum Einsatz. Zum Glück ist jemand anwesend, der sich sowohl mit dem Programm als auch mit den Judoregeln erheblich besser auskennt als ich.
Später helfe ich dabei, die Urkunden für die Siegerehrung auszufüllen. Da sonst niemand dafür verantwortlich ist, unterschreibe ich sie auch. Das kommt mir etwas unpassend vor. In der Halle gibt es bestimmt nur sehr wenige Menschen, die noch weniger Ahnung von Judo haben als ich. Somit entwertet meine Unterschrift unter den Urkunden ein wenig die Leistung der erfolgreichen Wettkämpfer*innen.
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Der Sohn hat nach dem Turnier noch Weihnachtsfeier. Als er um kurz nach zehn nach Hause kommt, holt er aus seiner Jackentasche eine zusammengefaltete Urkunde. Er wurde als Sportler des Jahres in der Altersklasse U18 ausgezeichnet
Meine Frau und ich sind etwas überrascht. Der Sohn hat dieses Jahr nur an sehr wenigen Turnieren teilgenommen, die meisten davon waren nicht von übermäßigem Erfolg gekrönt und er hat nur eine Medaille gewonnen. Daher sind die Frage meiner Frau „Wofür gab es die Auszeichnung?“ und meine Ausführungen, es gäbe im Verein ja gar nicht so viele männliche U18er, objektiv zwar nicht ganz unberechtigt, subjektiv gesehen aber doch etwas taktlos. (Es ist nicht immer leicht, unsere Kinder zu sein)
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Christian Hanne, Jahrgang 1975, hat als Kind zu viel Ephraim Kishon gelesen und zu viel “Nackte Kanone” geschaut. Mit seiner Frau lebt er in Berlin-Moabit, die Kinder stellen ihre Füße nur noch virtuell unter den elterlichen Tisch. Kulinarisch pflegt er eine obsessive Leidenschaft für Käsekuchen. Sogar mit Rosinen. Ansonsten ist er mental einigermaßen stabil.
Sein neues Buch “Wenn ich groß bin, werde ich Gott” ist im November erschienen. Ebenfalls mehr als zu empfehlen sind “Hilfe, ich werde Papa! Überlebenstipps für werdende Väter”, “Ein Vater greift zur Flasche. Sagenhaftes aus der Elternzeit” sowie “Wenn’s ein Junge wird, nennen wir ihn Judith”*. (*Affiliate-Links)
Ich wünsche ein frohes Weihnachtsfest und einen guten Rutsch, und vielen Dank für die Wochenschauen, die ich jetzt seit ein paar Monaten lese!
Danke für die immer wieder erheiternden Wochenschauen…. und frohe Weihnachten 😉
Eigentlich wünsche ich mir zu Weihnachten, dass ihr mich adoptiert! Aber bestimmt gibt es da eine Regel, dass die zu Adoptierende nicht älter sein darf, als die Adoptierenden….
Jedenfalls: vielen Dank für Familientweets, Wochenschauen und Gespräche mit dem Tod!