23. Juni 2024, Berlin
Die französische Staatsbahn denkt sich, was die Deutsche Bahn kann, können wir schon lange: Unser TGV in Straßburg hat 70 Minuten Verspätung. Dadurch erreichen wir den Anschluss in Mannheim nicht und können erst eine Stunde später weiterfahren. Somit schaffen wir es nicht rechtzeitig zur ersten Halbzeit des Deutschland-Spiels nach Hause. Dafür haben wir gute Chancen, über die Fahrgastrechte ein Viertel unseres Ticketpreises zurückzubekommen. Immerhin fast 80 Euro. Dazu müssen wir mindestens 60 Minuten später als geplant ankommen.
Allerdings erwischen wir in Mannheim einen vollkommen übermotivierten ICE-Fahrer, der auf der Strecke nach Berlin Minute um Minute Zeit gut macht. Wir erreichen den Hauptbahnhof mit 59 Minuten Verspätung. Adieu, 80 Euro. Die erste Halbzeit verpassen wir trotzdem.
24. Juni 2024, Berlin
Begleite meine Frau abends als „plus 1“ auf eine Preisverleihung. Die Konferenz der Europäischen Rabbiner zeichnet den Antisemitismusbeauftragten der Bundesregierung mit dem Rabbiner Moshe Rosen-Preis aus. Das Publikum ist ziemlich männlich und ziemlich grau. (Sowohl die Haare als auch die Anzüge.)
Unter den Gästen ist Margot Friedländer, was mich mit tiefer Demut erfüllt. Aufgrund ihrer Lebensleistung und ihres unermüdlichen Kampfes für Toleranz und Menschlichkeit. („Schaut nicht auf das, was euch trennt. Schaut auf das, was euch verbindet. Seid Menschen, seid vernünftig.“) Aber auch weil ich kaum die Energie aufgebracht habe, hier zu erscheinen, während sie fröhlich und vital in den Saal spaziert. Mit 102! Allerdings hat sie auch einen Rollator. Mit dem macht sie die 54 Jahre Altersunterschied wett.
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Beim Tippspiel hat sich in den letzten Tagen kaum etwas getan, da wir alle fast keine Punkte gemacht haben. Lediglich bei Spaniens Sieg gegen Albanien lagen wir richtig, aber das war auch nicht allzu schwer vorherzusagen. Außer für C., der ein 1:1 getippt hatte. Da muss er sich dann auch nicht wundern, wenn er auf dem letzten Platz liegt.
25. Juni 2024, Berlin
Arbeite am Computer an einer Präsentation, als mein Telefon klingelt. Die Tochter ist gerade im Kino und bitte mich, ihr geschwind etwas Geld zu überweisen. Bei den Snacks und Getränken könne man ausschließlich mit Karte bezahlen, sie habe aber nur Bares dabei und nicht mehr genügend auf dem Konto. So 20, 25 Euro reichten, erklärt die Tochter, sie gäbe mir das später zurück. (Wahrscheinlich von dem Bargeld, das sie sich gestern von mir geliehen hat.)
Eine Minute später ruft der Sohn an. Ob ich mal kurz sein Girokonto checken könne. (Da er seit drei Jahren nicht dazu gekommen ist, die Zugangsdaten fürs Online-Banking zu besorgen, müssen meine Frau oder ich ihn regelmäßig über seine Liquidität informieren.) Falls dort nicht mehr so viel drauf sei, wäre es hilfreich, wenn ich ihm eine kleinere Summe überweisen würde, fährt er fort. Er wolle mit einem Freund Döner essen und anschließend zur Fanmeile gehen. Ohne Geld sei das alles etwas schwierig.
Nachdem ich meinen väterlich-buchhalterischen Pflichten nachgekommen bin, überlege ich nun meinen Vater anzurufen und ihn seinerseits um eine finanzielle Zuwendung zu bitten.
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EM-Abendspiel England gegen Slowenien. Zwei Stunden meines Lebens, die ich nicht wieder zurückbekomme.
Zum Glück sind Donnerstag und Freitag spielfrei. Da komme ich endlich mal wieder zeitig ins Bett. Gut, niemand zwingt mich, die 21-Uhr-Begegnungen bis zum Schluss zu schauen. Ich könnte auch jetzt schon früher Schlafen gehen. Aber machen wir uns nichts vor: Das wird nicht passieren.
26. Juni 2024, Berlin
Die Tochter und C. haben die Zusage für eine Wohnung in Kiel bekommen. Da hat es sich doch gelohnt, dass meine Frau und ich entgegen unseren Naturellen beim Ausfüllen der Eltern-Bürgschaft etwas dicker aufgetragen haben. Ich habe das erste Mal in meinem Leben die Berufsbezeichnung Geschäftsführer gewählt und meine Frau das erste Mal seit zehn Jahren in einem Formular ihren Doktor-Titel eingetragen. Außerdem hat sie beim Aufschreiben ihres Arbeitgebers bei dem Wort Bundesministerium etwas fester mit dem Stift aufgedrückt.
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Der heutige Tippspiel-Tag war für mich eine Katastrophe. In vier Begegnungen hole ich ganze zwei Punkte, der Sohn liegt dagegen bei Slowakei gegen Rumänien (1:1) und Türkei gegen Tschechien (2:1) richtig und übernimmt die Führung. Als Dritter habe ich drei Punkte Rückstand auf ihn.
C. erweist sich als guter Gast und ist leicht abgeschlagen Fünfter. Allerdings hat er auch bei zwei Spielen vergessen zu tippen. Was aber kaum ins Gewicht fällt, denn selbst wenn er die beiden Partien korrekt vorhergesagt hätte, läge er trotzdem auf dem letzten Platz. Sollte Deutschland ins Finale kommen, werde ich ihm Geld geben, damit er im Wettbüro auf den Gegner setzt.
27. Juni 2024, Berlin
Meine Frau hat eine neue Kollegin. Eine Bürosachbearbeiterin, die gerade ihre Ausbildung abgeschlossen hat. Sie ist 18. In Worten: achtzehn. Mit 49 gehört meine Frau zu den Älteren in ihrem Referat. Dass die Kolleginnen jünger als unsere Kinder sind, ist aber doch neu.
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Wie vorgenommen, nutzen wir den spielfreien Abend und gehen schon gegen 22 Uhr ins Bett. Allerdings kann ich nicht einschlafen und wälze mich bis halb zwei hin und her. Dafür wache ich um kurz vor fünf schon wieder auf. Anscheinend habe ich während der EM das Schlafen verlernt.
28. Juni 2024, Berlin
Der Sohn bringt seine Bücher in die Schulbibliothek zurück. Zumindest die, die er noch gefunden hat. Zwei sind verschollen, was ihn dennoch überrascht, da er mit mehr gerechnet hatte. Bis Montag muss er die fehlenden Bücher ersetzen. Ich bin gespannt, ob er auch positiv überrascht ist, wenn er erfährt, dass er sie von seinem Taschengeld bezahlen muss.
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Wieder spielfrei bei der EM. In den letzten zwei Tagen habe ich nur unwesentlich weniger Punkte bei unserem Tippspiel gemacht als in den drei Tagen zuvor.
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Auf Berliner Rundfunk läuft abends „Tausendmal berührt“ von Klaus Lage. Der Titelsong eines Schimanski-Tatorts in den 80ern. Ein merkwürdiges Gefühl der Nostalgie und Wehmut breitet sich in mir aus. Ich weiß nicht warum. Ich mag Klaus Lage gar nicht. (Also, seine Musik, zu ihm selbst habe ich keine Meinung.)
29: Juni 2024, Berlin
Achtelfinale. Deutschland gegen Dänemark. Das erste Mal, dass ich die deutsche gegen die dänische Mannschaft gesehen habe, war bei der WM 1986 in Mexiko. Die Dänen gewannen 2:O. Genauso wie 1992 im EM-Finale.
Kein gutes Omen. Ich tippe trotzdem auf ein 3:2 für Deutschland. Dass mein Tipp in Erfüllung geht, verhindern die beiden Torhüter, der Video-Schiedsrichter und die Zielungenauigkeit von Kai Havertz.
30. Juni 2024, Berlin
Vor unserem Haus hat jemand allerlei „Zum Verschenken“-Sachen ausgebreitet. Schuhe, Bücher, Küchenutensilien, Klamotten und vieles mehr.
P. aus der Studi-WG im vierten Stock schaut sich interessiert ein Bügelbrett an. Seine Freundin fragt, was er damit wolle, er hätte doch noch nie in seinem Leben gebügelt. P. erklärt, sie hätten aber inzwischen zwei Bügeleisen, da könne das durchaus mal praktisch sein. Obwohl die Freundin weiterhin nicht überzeugt ist, nimmt er das Bügelbrett mit. Damit hält er sich zumindest die Option des Bügelns offen.
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Christian Hanne, Jahrgang 1975, hat als Kind zu viel Ephraim Kishon gelesen und zu viel “Nackte Kanone” geschaut. Mit seiner Frau lebt er in Berlin-Moabit, die Kinder stellen ihre Füße nur noch virtuell unter den elterlichen Tisch. Kulinarisch pflegt er eine obsessive Leidenschaft für Käsekuchen. Sogar mit Rosinen. Ansonsten ist er mental einigermaßen stabil.
Sein neues Buch “Wenn ich groß bin, werde ich Gott” ist im November erschienen. Ebenfalls mehr als zu empfehlen sind “Hilfe, ich werde Papa! Überlebenstipps für werdende Väter”, “Ein Vater greift zur Flasche. Sagenhaftes aus der Elternzeit” sowie “Wenn’s ein Junge wird, nennen wir ihn Judith”*. (*Affiliate-Links)
Super! Wie aus dem echten Leben 😅
Der Schimanski Song von Klaus Lage war „Faust auf Faust“. 🙂
Stimmt. Ich dachte, dass beide Lieder in dem Tatort vorkommen. Eine gewisse Ähnlichkeit der Songs ist ja nicht ganz von der Hand zu weisen.
Bei meiner (Nach)Recherche habe ich herausgefunden, dass “Tausendmal berührt” von Florian Sibereisen gecovert wurde. Das hat das Lied auch nicht verdient.