„Für Berlin werden 23 bis 26 Grad erwartet“, erklingt es blechern aus unserem Küchenradio, das mehr durch sein Retro-Design als durch seine Klangqualität besticht. Es ist Sonntagmorgen und wir sitzen zu viert am Frühstückstisch.
„Das ist perfektes Wetter für unsere Radtour heute“, freut sich die Frau und strahlt enthusiastisch, als wäre sie eine Animateurin, die faules Touristenpack in ihrem All-Inclusive-Club-Med-Urlaub zu ein wenig Aktivität motivieren muss. Die im blanken Entsetzen geweiteten Augen der Kinder deuten darauf hin, dass sie weder Begeisterung noch Überschwang mit ihrer Mutter teilen und schon die Ankündigung, den Sonntag damit zu verbringen, durch Berlin zu strampeln, als schwerwiegenden Verstoß gegen die Kinderrechtskonvention erachten.
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Während der Koffein meines Morgenkaffees langsam meine Müdigkeit vertreibt, entsinne ich mich dunkel, wie die Frau bereits vor ein paar Tagen verkündete: „Am Sonntag möchte ich einen Fahrradausflug an den Schlachtensee machen.“
Mir lag schon ein lässiges „Viel Spaß dabei!“ auf der Zunge, aber aufgrund meines Erfahrungsschatzes unserer inzwischen mehr als zwei Jahrzehnte umspannenden Beziehung war mir klar, dass dies nicht ins Repertoire der in dieser Situation akzeptablen Antworten fällt. Denn obwohl die von der Freundin gewählte Ich-Form auf die Einzahl hindeutet, handelt es sich um den so genannten ‚Singularis Familiaris‘, der zur Beschreibung gemeinschaftlicher Familienaktivitäten verwendet wird. Da gibt es kein Entrinnen. Nicht einmal mit ärztlichem Attest.
„Ich habe eine ganz tolle Strecke entlang der Havel rausgesucht. Das sind nur knapp 30 Kilometer“, fuhr die Frau fort und ließ mich grübeln, ob sie sich über die relativierende Bedeutung des Wörtchens ‚nur‘ nicht im Klaren ist. Ich bin nämlich ein eher träger Mensch und lasse es insbesondere am Wochenende gerne etwas ruhiger angehen. Daher möchte ich Worte wie ‚Radtour‘, ‚30 Kilometer‘ und ‚im See baden‘ nicht in einem Satz zur Beschreibung meines Sonntags verwendet wissen. (Es sei denn, der Satz lautet: „Du musst am Sonntag keine 30-Kilometer-Radtour machen und nicht im See baden.“)
Außerdem ist bei meinem Rad gerade der Hinterreifen platt. Da ich mich aufgrund meines handwerklichen Unvermögens außerstande sehe, den Schlauch selbst zu flicken, und eine Mischung aus Arbeitsstress und Faulheit seit Wochen verhindert, dass ich das Fahrrad in die Werkstatt bringe, fahre ich zurzeit mit dem Rad der Schwiegermutter. Nun empfinde ich meine Männlichkeit zwar als gefestigt genug, um gelegentlich mit einem stangenlosen Fahrrad zu fahren, aber mir ist dennoch an einem würdevollen Auftreten gelegen. Das scheint mir mit einer 30-Kilometer-Tour auf einem holländischen Damenrad mit Einkaufskorb nur schwer vereinbar zu sein.
Als guter Ehemann vermied ich allerdings den offenen Konflikt über unsere Wochenendgestaltung. Stattdessen ging ich davon aus, dass die Frau mein durch ein langgezogenes „Hmmmm“ zur Schau gestelltes Desinteresse, das ich zusätzlich unterstrich, indem ich meinen Blick nicht vom Handy abwendete, schon richtig deuten würde, und als gute Ehefrau von ihrem aberwitzigen Plan des sonntäglichen Hyperaktionismus Abstand nehmen wird. Nahm sie aber nicht, wie ich dieses Sonntagmorgens irritiert feststellen muss. (Ihr Erfahrungsschatz unserer 20-jährigen Beziehung scheint mir noch ausbaufähig zu sein.)
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Während ich überlege, ob ein Ehevertrag, der sportliche Aktivitäten am Wochenende ausschließt, nicht doch eine gute Idee gewesen wäre, klatscht die Frau vergnügt riesige Porridge-Portionen in Müslischalen und fordert uns mit einer nur schwer zu ertragenden Fröhlichkeit auf, diese zu vertilgen: „Haut rein, das gibt ordentlich Radl-Power.“
Der Sohn steht einer ausgedehnten Fahrradtour skeptisch gegenüber. Seine Tagesplanung sah eigentlich vor, einen persönlichen Rekord im Dauerabhängen aufzustellen und mit seinen Kumpeln am Handy ein paar Runden ‚Clash Royale‘ zu zocken.
Die Tochter hält von der Idee einer Radtour noch viel weniger. Als Teenagerin belegen bei ihr gemeinsame Unternehmungen mit den Eltern ohnehin den letzten Platz auf der Rangliste der präferierten Wochenendtätigkeiten. Sie schiebt ihren Porridge von sich und tritt spontan in den Hungerstreik.
„Ich will aber nicht Rad fahren“, erklärt sie trotzig und verschränkt die Arme vor ihrer Brust. Die Frau schwärmt davon, wie toll der Weg an der Havel sei. Die Tochter wendet ein, dass könne sie sich auch im Internet anschauen und dabei müsse sie nicht einmal schwitzen. Meinen Einwand, ein wenig Bewegung habe noch niemandem geschadet, kontert sie mit dem Hinweis, dass in Berlin jedes Jahr Tausende von Radfahrern in Unfälle verwickelt würden.
„Außerdem hat Gott gesagt, am siebten Tage sollst du ruhen“, ergänzt die Tochter. Sie wurde kürzlich konfirmiert und erhofft sich nun anscheinend göttlichen Beistand, um die Mühen einer Radtour abzuwenden.
„Gott hat auch gesagt, dass Vater und Mutter zu ehren sind“, zeige ich mich zum Unwillen der Tochter ebenso bibelfest. Ohnehin ruhe sie doch die anderen sechs Tage schon ausgiebig, schiebe ich hinterher. Dauer-Snapchatten und -Netflixen falle ja nicht gerade in die Kategorie ‚Schuften wie im Untertagebau‘.
Die ohnehin schon dunklen Augen der Tochter verdunkeln sich noch mehr. In ein tiefes Pechschwarz, das sämtliches Licht in unserer Küche, wenn nicht aus ganz Berlin, zu absorbieren droht. „Du hast doch auch kein Bock auf das bescheuerte Radfahren“, pampt die Tochter über den Küchentisch.
Damit hat sie selbstverständlich recht, aber dennoch kann ich das so nicht stehen lassen. Zum einen würde ich mich niemals so unflätig ausdrücken. („Eine fidele Radtour entlang der malerischen Havel bereitet sicherlich enormes Plaisier, aber heute gelüstet es mich nach anderen Formen der Rekreation.“) Zum anderen steht unser Sardinien-Urlaub bevor und mein Projekt ‚Strandfigur‘ hat noch nicht die gewünschten Resultate hervorgebracht. Daher ist jede Art von Bewegung wichtig. Weniger wegen der dabei verbrauchten Kalorien, sondern weil man währenddessen nichts isst.
Überdies verlangt es das eherne Gesetz der Elternsolidarität, dass Vater und Mutter zusammenstehen und von den Kindern keinen Keil zwischen sich treiben lassen dürfen. Besonders bei unpopulären Entscheidungen müssen die elterlichen Reihen geschlossen sein. Da darf kein Blatt Papier zwischen Vater und Mutter passen. Die Frau würde einen Mangel an Unterstützung meinerseits auch nicht gutheißen und partnerschaftliche Dissonanzen wären für einen gemütlichen Sonntag auf dem Sofa nicht zielführend. Dann halt um der ehelichen Harmonie Willen ein Ausflug an den Schlachtensee.
Daher bestimmte ich mit der Autorität eines absolutistischen Herrschers, dass wir die Radtour machen und damit basta. „Es ist doch schön, wenn wir als Familie etwas gemeinsam unternehmen“, ergänze ich besänftigend. Angesichts der motzigen Gesichter der Kinder bin ich von der Richtigkeit meiner Aussage allerdings selbst nicht ganz überzeugt.
Die Frau schmiert unterdessen Stullen, bereitet Couscous-Salat vor und schnibbelt Obst und Gemüse. Dabei pfeift sie mit einem enervierenden Frohsinn vor sich hin. Allmählich keimt bei mir der Verdacht auf, dass ihre gute Laune auf einem Schuss Eierlikör in ihrem Porridge zurückzuführen ist.
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Um kurz vor 10 treffen wir uns alle im Flur. Die Tochter ist gerade dabei, die Kopfhörer ihres Smartphones in die Ohren zu stecken. Väterlich streng verbiete ich es ihr mit dem Hinweis, es sei beim Fahrradfahren nicht erlaubt, Musik zu hören. Mit wütendem Blick signalisiert mir die Tochter, dass sie mich für einen spaßbefreiten StvO-Nazi hält, stopft die Kopfhörer aber in die Hosentasche.
Anschließend weigert sie sich, ihren Helm aufzuziehen. „Damit sehe ich total doof aus“, stöhnt sie. „Und Mama trägt auch keinen Helm.“ „Die sieht so schon doof aus“, erwidere ich lachend, um die Stimmung ein wenig aufzulockern. Erstaunlicherweise hält die Frau meinen Scherz für weit weniger gelungen als ich.
In meiner Rolle als Hüter der Straßenverkehrsordnung aufblühend frage ich den Sohn, wo seine Brille sei, die müsse er zum Radfahren aufsetzen. „Mit Brille sehe ich aber aus wie ein Volltrottel“, protestiert er. „Das hast du dann mit deinem Vater gemeinsam“, bemerkt die Frau spitz, die mir anscheinend immer noch meine scherzhafte Helm-Bemerkung nachträgt.
Der Sohn ist jetzt auch beleidigt. Beim Frühstück dachte ich noch, die schlechte Stimmung sei nicht mehr zu unterbieten. Mit ein paar wenigen Sätzen habe ich es jedoch geschafft, das Stimmungsbarometer auf ein neues Rekordtief zu drücken. Könnte man aus schlechter Laune Energie gewinnen, würden wir den Schlachtensee in kürzester Zeit erreichen.
Fortsetzung folgt.
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Alle Folgen der Tortour:
Fahrradausflug nach Mordor. Eine Tortour in 3 Akten – 1. Akt: Der Singularis Familiaris
Fahrradausflug nach Mordor. Eine Tortour in 3 Akten – 2. Akt: Quäl dich, du Sau!
Christian Hanne, Jahrgang 1975, hat als Kind zu viel Ephraim Kishon gelesen und zu viel “Nackte Kanone” geschaut. Mit seiner Frau lebt er in Berlin-Moabit, die Kinder stellen ihre Füße nur noch virtuell unter den elterlichen Tisch. Kulinarisch pflegt er eine obsessive Leidenschaft für Käsekuchen. Sogar mit Rosinen. Ansonsten ist er mental einigermaßen stabil.
Sein neues Buch “Wenn ich groß bin, werde ich Gott” ist im November erschienen. Ebenfalls mehr als zu empfehlen sind “Hilfe, ich werde Papa! Überlebenstipps für werdende Väter”, “Ein Vater greift zur Flasche. Sagenhaftes aus der Elternzeit” sowie “Wenn’s ein Junge wird, nennen wir ihn Judith”*. (*Affiliate-Links)
30 Kilometer Fahrrad fahren bei 23 bis 26 Grad?
Greift da nicht die Genfer Konvention?
Da müssten eigentlich UNO-Blauhelme intervenieren.
1. “es sei beim Fahrradfahren nicht erlaubt, Musik zu hören.” – falsch
2. Ein Helm suggeriert, daß Fahrradfahren gefährlich ist. Stimmt auch nicht.
Vielen Dank für Ihre Hinweise.
Zu 1. Da haben Sie prinzipiell recht. Durch das Musikhören darf aber nicht die Wahrnehmung des Straßenverkehrs beeinträchtigen und darf nicht verhindern, dass man Warnsignale wie Klingeln und Hupen hört.
Zu 2. Der Artikel suggeriert allenfalls, dass man mit Fahrradhelm doof aussieht.
Einfach klasse geschrieben. Ich schmeiss mich weg.
Christian, Du hast es einfach drauf!
Vielen Dank!
Ich fühle mich spontan in meine Kindheit zurückversetzt. Damals gab es zwar noch kein Snapgram, Instatwitter, Faceflix und Co, kein portables mp3 und auch keine Fahrradhelme. Aber wochenendliche Fahrradtouren quer durch die Walachei. Einfach nur so. Nicht um von A nach B zu kommen, sondern “um gemeinsam mit der Familie was zu unternehmen”. So ein Blödsinn. Waren nicht die Highlights viel eher, den Punkt zu erreichen, an dem der Rückweg kürzer als der Hinweg war? Der kleine Unterstand, an dem man endlich Pause machen konnte? Die Bergabfahrt (auch wenn es dazu davor oder danach steil bergauf ging)? Ach, was hab ich diese Radtouren gehasst!
Wenn ich in der Zeit zurück reisen könnte, würde ich heute liebend gern an genau so ein Wochenende reisen.