26. Januar 2023, Berlin
Meine Agenturpartnerin und -Freundin C. und ich treffen uns zur Weihnachtsfeier. Offensichtlich nachträglich. Im Dezember hatten wir keine Zeit und Muse dafür, aber wir wollen uns nicht von Konventionen und Kalendern diktieren lassen, wann wir unsere Weihnachtsfeierlichkeiten begehen dürfen und wann nicht.
C. hat für uns einen Tisch im Adlon für eine Tea Time reserviert. Als eingefleischte England-Fans hat es bei uns Tradition, dass wir uns und unser Jahr mit Tee, Sandwiches, Küchleins und Scones in einem der gehobenen Hotels in Berlin feiern. Also, nur wenn das Jahr gut war. Sonst könnten wir uns das nicht leisten. Ohnehin machen wir das erst zum zweiten Mal. Denn just nachdem wir diese Tradition ins Leben riefen, trat Corona in unser aller Leben und dann wars das erstmal mit Afternoon Tea in irgendwelchen exklusiven Luxusherbergen.
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Am Eingang des Adlons habe ich ein Problem. Vor der Drehtür ist eine Kordel gespannt und die Türen daneben sind beide zu. An der Straße stehen zwei Adlon-Bedienstete im Livre. Ich nicke ihnen zu, deute auf die Türen und frage: „Welche kann ich nehmen? Links oder rechts?“ Der eine Livrierte sagt: „Ganz wie Sie wollen. Die sind beide offen.“ Sein Kollege springt währenddessen eilfertig die drei Stufen hoch und mit den Worten „Warten Sie, ich helfe Ihnen.“ hält er mir die Tür auf. Das ist mir ein wenig unangenehm. Ich bin zwar anscheinend zu blöd, um zu wissen, durch welche Tür ich gehen muss, aber sehe mich schon noch in der Lage, sie zu öffnen.
Dennoch bedanke ich mich bei dem Mann und gehe weiter. Dabei frage ich mich, ob Türaufhalten zu den trinkgeldwürdigen Dienstleistungen zählt. Da ich mich eher selten in solch vornehmen Hotels aufhalte, bin ich mit den dortigen Gebräuchen und Gepflogenheiten nicht so gut vertraut. Da ich ohnehin kein Bargeld an mir habe, beschäftige ich mich einfach nicht weiter mit der Trinkgeldfrage.
In der Lobby stehe ich vor dem nächsten Problem. C. hat mir getextet, sie sei schon da und säße unten rechts. Nun ist die Lobby des Adlons recht groß und mir ist nicht ganz klar, von welcher Blickrichtung aus das Rechts zu verorten ist, wo sie sich befindet.
Ein weiterer Adlon-Bediensteter deutet meinen hilfesuchenden Blick richtig und fragt, ob er mir behilflich sein könne. Ich erkläre ihm, dass ich meine Kollegin suche, die bereits eingetroffen sei. C. und der für unseren Tisch zuständige Kellner winken derweil quer durch die Lobby und zwar derart dynamisch, dass es alle anderen Gäste und wahrscheinlich sogar die Touristen draußen vorm Brandenburger Tor sehen. Nur ich nicht. Der Adlon-Bedienstete fragt mich, ob es sich bei der winkenden Frau wohl um meine Kollegin handeln könnte. Ich bejahe seine Frage, woraufhin er mich zu dem Tisch geleitet. Zum einen weil sich das fürs Adlon gehört, zum anderen weil er bestimmt denkt, dass ich unter einer starken Fehlsichtigkeit leide, und befürchtet, ich könnte mich auf dem Weg zu meiner Kollegin verlaufen.
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Ich versuche das edle Adlon-Ambiente zu genießen. Ein wenig komme ich mir dabei wie ein Hochstapler vor, der hier nicht hingehört. C. meint aber, das ginge bestimmt fast allen hier in der Lobby so. Und die, die sich im Adlon nicht wie Hochstapler fühlten, säßen nicht in der Lobby. Wahrscheinlich hat sie recht.
Inzwischen hat der Kellner unsere Tee-Bestellung aufgenommen und bringt nun eine dreistöckige Etagere mit allerlei Köstlichkeiten. Im Adlon gibt es natürlich keine normalen Finger-Sandwiches und gewöhnliche Küchlein, sondern raffinierte Häppchen, filigrane Törtchen und zierliches Gebäck. Der Kellner erklärt uns ausführlich, was sich alles auf der Etagere befindet, aber kaum haben die Worte seinen Mund verlassen, habe ich sie schon wieder vergessen. Trotzdem schmeckt alles ganz vorzüglich.
Besonders hervorragend sind die Scones. Die sind samtweich und zergehen regelrecht im Mund. Zum Abschluss gibt es noch einen kleinen gugelhupfartigen Kuchen, der mit Cointreau übergossen und flambiert wird. Der Patissier des Adlons würde wahrscheinlich weinen, wenn er wüsste, dass ich seine Kreation hier als gugelhopfartigen Kuchen bezeichne.
In der Zwischenzeit gab es beim Personal Schichtwechsel. Für unseren Tisch ist nun eine junge Frau zuständig. Sie hat einen zauberhaften französischen Akzent und ich könnte ihr stundenlang zuhören. Sie könnte mir aus den gelben Seiten vorlesen und ich würde trotzdem an ihren Lippen hängen. Vielleicht könnte sie uns mal abends Winnie the Pooh zum Einschlafen vorlesen, wenn Tom Hiddleston verhindert ist. Aber so etwas kannst du als Mann, der auf Ende 40 zugeht, einer jungen Frau natürlich nicht vorschlagen. Da giltst du schnell als psychopathischer Creep mit mangelnder Sozialkompetenz, dessen Hobby darin besteht, sich nach Feierabend Kleidung aus Menschenhaut zu schneidern.
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Als wir schließlich aufbrechen, beobachten wir, wie im Foyer immer mehr junge und mitteljunge Frauen eintreffen. Sie tragen lange Abendkleider, die du nicht bei C&A von der Stange kaufst, und hochhackige Schuhe, wie sie nicht bei Deichmann zu finden sind, und werden von ein paar Fotografen abgelichtet. Es stellt sich heraus, dass gerade die Gala von Frauen100 beginnt. Frauen100 ist laut ihrer Website eine Organisation, die „Thoughtleader*innen aus Wirtschaft, Politik, Medien und Sport zusammenbringt, um ein Netzwerk zu schaffen, in dem Raum für einen feministischen Diskurs ist, Themen gesetzt und in juristische, politische und gesellschaftliche Realität umgesetzt werden“.
Ich finde das befremdlich. Selbstverständlich können sich auch überwiegend weiße und sehr privilegierte Frauen für Gleichberechtigung und Gendergerechtigkeit einsetzen. Einem (mittel-)altem weißen Mann steht es da natürlich überhaupt nicht zu, ihnen dieses Recht abzusprechen. (Vor allem nicht, wenn du kurz vorher unangemessenen Vorlese-Phantasien mit deiner französischen Bedienung nachgehangen bist.) Trotzdem verspüre ich bei einer Galaveranstaltung in einem Nobelhotel, auf der sich für die Gleichberechtigung von Frauen stark gemacht wird, ähnlich unangenehme Vibes wie bei Klimaschutz-Fundraising-Dinnern, zu denen Hollywood-Stars mit ihren Privat-Jets einfliegen.
Als C. und ich das Adlon verlassen, photobomben wir fast die Aufnahme von zwei jungen Frauen, die gerade eine attraktive langbeinige Blondine mit ihrem männlichen Begleiter fotografieren. Mir ist die Frau gänzlich unbekannt. Aufgrund ihrer Größe und Figur könnte sie Model sein. C. meint, wir seien wohl zu alt, um sie zu kennen. Wahrscheinlich hat sie wieder recht.
Später schickt mir C. ein Insta-Foto von der Frau. Es handelt sich um Carolin Niemczyk, eine Sängerin, die 2021 immerhin bei The Masked Singer teilgenommen hat. Ich kenne sie trotzdem nicht. Ich bin wohl tatsächlich zu alt.
27. Januar 2023, Berlin
An einer Kreuzung sehe ich eine Gruppe von ungefähr 20 Erstklässler*innen. Ihre Lehrerin wählt zwei Mädchen aus. Diese treten auf die Straße und signalisieren den Autofahrer*innen mit weit ausgebreiteten Armen und stolz geschwellter Brust unmissverständlich, dass sie gefälligst anzuhalten haben, damit ihre Klassenkamerad*innen unbeschadet die Straße überqueren können. Okay, weit und breit ist kein einziges Auto zu sehen, aber wäre eines gekommen, hätte es auf jeden Fall angehalten.
28. Januar 2023, Berlin
Auf dem Weg zum Supermarkt kommt mir eine Frau mit einem Hund entgegen. Eine Art Corgi-Dackel-Mischung. Von Weitem sehe ich, dass der Hund irgendetwas im Mund hat. Das ist nicht ungewöhnlich. In Ermangelung von Händen tragen Hunde ja andauernd etwas im Mund. Stöcke, Bälle, Schuhe, Zeitungen oder Knochen.
Was der Corgi-Dackel im Mund trägt, ist dann aber doch überraschend. Es ist ein Schnuller und er nuckelt sehr zufrieden daran. Das sieht etwas merkwürdig aus. Sehr merkwürdig sogar. Aber wenn es ihm gefällt, soll er das ruhig machen. Da möchte ich ihm keine Vorschriften über sozial akzeptiertes Hunde-verhalten machen. Es heißt ja nicht umsonst: „Jedem Tierchen sein Pläsierchen.“
Ich hoffe nur, dass ihn die anderen Hunde deswegen nicht auslachen und ihn mobben. Aber dann kann er zur Beruhigung ja an seinem Schnuller nuckeln.
29. Januar 2023, Berlin
Meine Frau und ich haben heute Jahrestag. Unseren 26. Gleichzeitig ist heute Miesepeter-Tag. Mario Barth könnte daraus bestimmt eine Pointe klöppeln.
Damit Sie eine Vorstellung davon haben, wie lange 26 Jahre her sind, hier ein paar Fakten aus dem Januar 1997:
- Im Kino lief Praxis Dr. Hasenbein von und mit Helge Schneider.
- Auf Platz 1 der Single-Chart standen Sarah Brightman und Andrea Bocelli mit Time to say goodbye.
- Der 1. FC Kaiserslautern belegte den ersten Platz der Fußball-Bundesliga.
- Bill Clinton wurde kurz vorher zum zweiten Mal als US-amerikanischer Präsident vereidigt, Helmut Kohl war Bundeskanzler, Roman Herzog Bundespräsident.
- Ich trug orangenfarbenes Haar. Eigentlich wollte ich sie mir wasserstoffblond färben, wie Robbie Williams das damals trug, hatte aber mehr Rotpigmente in meinem Haar als der ex-Take-Thatler. Oder er konnte sich die besseren Haarfärbeprodukte leisten. (Bei meiner Haarfarbe ist es recht erstaunlich, dass meine Frau und ich überhaupt zusammenkamen.)
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Christian Hanne, Jahrgang 1975, hat als Kind zu viel Ephraim Kishon gelesen und zu viel “Nackte Kanone” geschaut. Inzwischen lebt er mit seiner Frau und seinen beiden Kindern in Berlin-Moabit. Kulinarisch pflegt er eine obsessive Leidenschaft für Käsekuchen. Sogar mit Rosinen. Ansonsten ist er mental einigermaßen stabil.
Im September erscheint sein neues Buch “Papa braucht ein Fläschchen”. Ebenfalls mehr als zu empfehlen sind “Hilfe, ich werde Papa! Überlebenstipps für werdende Väter”, “Ein Vater greift zur Flasche. Sagenhaftes aus der Elternzeit” sowie “Wenn’s ein Junge wird, nennen wir ihn Judith”*. (*Affiliate-Links)
Vielen Dank für Deine wundervollen Beiträge, es macht mir immer sehr viel Spaß, sie zu lesen!
Vielen Dank, das freut mich sehr.