Eine Prager Wochenschau | Tag 1 (04.01.): So weit die Füße tragen (Teil 2)

Teil 1


Wir erreichen die Karlsbrücke, eines der Wahrzeichen von Prag. Sie führt über die Moldau und führt von der Altstadt in Richtung Prager Burg. Auf dem Brückengeländer stehen links und rechts zahlreiche imposante Heiligenstatuen. Ein beliebtes Fotomotiv für Tourst*innen und somit auch für mich.

Die Brücke ist ein vielversprechender Arbeitsplatz für Straßenkünstler, die Karikaturen von zahlungswilligen Tourist*innen anfertigen. Ich frage mich, wieviel Selbsthass jemand haben muss, der Geld dafür bezahlt, um ein Portrait von sich mit riesiger Nase, Hasenzähnen und Segelohren zu bekommen. Und was stimmt mit den Leuten nicht, die das dann zu Hause sogar aufhängen?

Vielleicht sollte ich das meine Frau fragen. Die erzählt freimütig und ohne Anflug von Scham, sie habe auf ihrer 12er-Kursfahrt in Rom so eine Karikatur zeichnen lassen. Um es positiv zu sehen: Schön, wenn du nach 27 Jahren Beziehung noch etwas Neues über deine Partnerin lernst. Und immerhin hat sie die Zeichnung nicht rahmen lassen, um sie im Wohnzimmer zur Schau zu stellen. (Oder noch schlimmer: im Schlafzimmer.)

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Nachdem wir die Karlsbrücke überquert haben, kraxeln wir die steile Treppe zur Prager Burg hoch. Der Hradschin ist mit sieben Hektar die zweitgrößte geschlossene Burganlage der Welt. Sagt zumindest Wikipedia. Da ich über keinerlei Wissen zu geschlossenen Burganlagen verfüge, glaube ich das einfach mal.

Bei sieben Hektar Fläche möchtest du definitiv nicht der Typ sein, der dafür zuständig ist, den Hof zu fegen. Als Kind fand ich es schon eine Kinderrechte verletzende Zumutung, die Garageneinfahrt kehren zu müssen. Und das waren nur circa 20 Quadratmeter und keine zehn Fußballfelder wie das Prager Burgareal. (Wobei ich damals auch noch Kehrverantwortlicher für die Treppe und einen schmalen Bürgersteig neben unserem Grundstück war. Zusammengerechnet musste ich also ungefähr ein Drittel Strafraum fegen. Für einen Zehnjährigen fühlt sich das an wie zehn Fußballfelder.)

An der Burg machen wir unser obligatorisches Urlaubs-Familienselfie. 25 Versuche später haben wir ein akzeptables Bild. Während die Tochter auf jeder Aufnahme das identische fotogene Lächeln aufgesetzt hat, als wäre ihr Gesicht reingephotoshopt, hat mindestens eines der anderen Familienmitglieder den Mund auf, die Augen zu oder sieht aus, als wäre er lieber ganz woanders. In meinem Fall auch gerne alles zusammen.

Ohnehin ist mir aufgefallen, dass ich, wenn ich im Hintergrund auf Bildern der Kinder oder meiner Frau zu sehen bin, häufig sehr grimmig schaue. Ich möchte nicht wissen, wie vielen Menschen ich Urlaubsaufnahmen verhunzt habe, weil ich im Background als miesepetriger Griesgram rumstehe.

Daher möchte ich mir angewöhnen, künftig mehr zu lächeln und einen freundlicheren Gesichtsausdruck aufzusetzen. Dann versaue ich Urlaubsschnappschüsse nicht mehr als muffelige Motzfresse, sondern als debil grinsender Hohlkopf.

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Unsere Einkäufe für das morgige Frühstück wollen wir nicht wieder bei LIDL besorgen, denn ich möchte endlich mein Urlaubs-Supermarktfeeling bekommen. Daher gehen wir zu BILLA. Später lese ich im Internet nach, dass es sich gar nicht um einen tschechischen Supermarkt handelt, sondern Teil einer österreichischen Kette ist.

Das Einkaufserlebnis im BILLA ist ausbaufähig. Der Laden erinnert an einen nur mäßig ordentlichen Netto-Markt. Mäßig ordentlich auch nur nach Berliner Maßstab, der nicht unbedingt dem normalen Einzelhandel-Standard entspricht.

Zur weiteren kulinarischen Annäherung an Tschechien kaufen wir ein einheimisches Cola-Getränk mit dem Namen Kofola, was klingt, als hätte jemand Cola sagen wollen und hätte dabei aufstoßen müssen. Geschmacklich liegt Kofola irgendwo zwischen Aldi-Cola, Fassbraue und Almdudler. Das ist darauf zurückzuführen, dass der Basis-Sirup für Kofola aus Himbeersirup, Brombeer-, Erdbeer- und Himbeerblättern, Zimt, Lakritz, Karamell, Apfel-, Kirsch- und Johannisbeerextrakt sowie getrockneten Orangenschalen hergestellt wird. Vielleicht sollte man das alles besser weglassen, um aus Kofola ein leckeres Getränk zu machen.

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Für die Abendgestaltung hat sich meine Frau sich etwas Besonderes ausgedacht: den Besuch eines Jazz-Konzertes. Das würde den Kindern sicherlich gefallen, meint sie. Ich weiß nicht, worauf sie ihre Vermutung stützt, aber die Karten kosten nur vierzehn Euro und damit können die Kinder „Besuch eines Jazz-Konzerts“ von ihrer Bucket-List streichen, auch wenn sie vielleicht gar nicht wussten, dass das auf ihrer Bucket-Liste steht.

Das Konzert findet im renommierten AghaRTA-Club statt, einer schummrigen Jazz-Bar mit ungefähr 50 Sitzplätzen. Außer uns sind Jazz-Liebhaber, überwiegend in gesetztem Alter mit Brille und Cord-Jackett, sowie zehn asiatische Besucher*innen anwesend.

Wir werden an ein Tischchen direkt vor der Bühne platziert. Mehr „Bock zum Gärtner machen“ und „Perlen vor die Säue werfen“ geht nicht. Sicherlich hat keiner der anderen Besucher*innen weniger Ahnung von Jazz als ich. Ich kommer mir vor wie ein Hochstapler, der hier nichts verloren hat.

Heute Abend treten „Jazz Q of Martin Kratochvil“ auf. Der namensgebende Martin Kratochvil ist 77 und spielt Keyboard, der Bassist und der Gitarrist sind unwesentlich jünger. Der Schlagzeuger ist dagegen ungefähr Ende 30 / Anfang 40. Die Tochter vermutet, dass er der Sohn eines verstorbenen Gründungsmitglieds ist.

Ich muss gestehen, dass ich keinen rechten Zugang zu Jazz habe. Weder musikalisch noch emotional. Ich kann zwar rational die Virtuosität der Musiker und ihres Zusammenspiels bewundern, aber die Musik berührt mich nicht.

Trotzdem habe ich eine gute Zeit, indem ich die Band und das Publikum beobachte: die Grimassen, die die Musiker machen, während sie vollkommen entrückt ihre Improvisationen spielen, den Japaner, der bedächtig die Augen beim Zuhören schließt, bis er einnickt und zusammenzuckt, den Mann hinter uns, der enthusiastisch, aber nicht immer rhythmussicher den Takt auf seinem Oberschenkel klopft oder der ältere Herr am Nachbartisch, der immer wieder versonnen an seinem Becherovka nippt.

Im Laufe des Konzerts stelle ich fest, dass ich die meisten Lieder nicht voneinander unterscheiden kann. Würde die Band drei Mal hintereinander das gleiche Stück spielen, fiele mir das sehr wahrscheinlich nicht auf. Das ist für mich wie beim Techno. Da hört sich für mich auch alles gleich an. Wüsste der Betreiber der Bar, dass ich Techno mit Jazz gleichsetze, würde er mir bestimmt Hausverbot erteilen.

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Trotz später Stunde spielen wir nach unserer Rückkehr in unsere Unterkunft noch zwei Runden Kniffel. Die Tochter wirft einen Kniffel mit einem Wurf, was wir Ein-Hand-Kniffel nennen, obwohl es Ein-Wurf-Kniffel heißen müsste. Das hilft ihr, die Führung vor mir mit einem Vorsprung von 60 Punkten zu übernehmen. Der Sohn und meine Frau sind mit rund 400 Punkten Rückstand weit abgeschlagen und werden mit dem Ausgang des Turniers wohl nichts mehr zu tun haben.


Die kompletten Beiträge der Prag-Reise finden sie hier:



2 Kommentare zu “Eine Prager Wochenschau | Tag 1 (04.01.): So weit die Füße tragen (Teil 2)

  1. Lieber Herr Hanne, Sie beschreiben treffsicher das, was wir über Silvester/ Neujahr in Prag erlebt, gesehen und wahrgenommen haben. Nur, dass Sie sich mehr Hintergrundinformation erarbeitet haben. Für deren Recherche war ich schlichtweg zu faul… Alles Gute für 2024!

    • Ich muss gestehen, dass ich mir die Hintergrundinformationen weitestgehend auch erst beim Niederschreiben der Erlebnisse recherchiert habe.

      Ihnen auch alles Gute für 2024.

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