Fahrradausflug nach Mordor. Eine Tortour in 3 Akten – 1. Akt: Der Singularis Familiaris

„Für Berlin werden 23 bis 26 Grad erwartet“, erklingt es blechern aus unserem Küchenradio, das mehr durch sein Retro-Design als durch seine Klangqualität besticht. Es ist Sonntagmorgen und wir sitzen zu viert am Frühstückstisch.

„Das ist perfektes Wetter für unsere Radtour heute“, freut sich die Frau und strahlt enthusiastisch, als wäre sie eine Animateurin, die faules Touristenpack in ihrem All-Inclusive-Club-Med-Urlaub zu ein wenig Aktivität motivieren muss. Die im blanken Entsetzen geweiteten Augen der Kinder deuten darauf hin, dass sie weder Begeisterung noch Überschwang mit ihrer Mutter teilen und schon die Ankündigung, den Sonntag damit zu verbringen, durch Berlin zu strampeln, als schwerwiegenden Verstoß gegen die Kinderrechtskonvention erachten.

Vorsicht Fahrrad

Vorsicht Fahrrad

###

Während der Koffein meines Morgenkaffees langsam meine Müdigkeit vertreibt, entsinne ich mich dunkel, wie die Frau bereits vor ein paar Tagen verkündete: „Am Sonntag möchte ich einen Fahrradausflug an den Schlachtensee machen.“

Mir lag schon ein lässiges „Viel Spaß dabei!“ auf der Zunge, aber aufgrund meines Erfahrungsschatzes unserer inzwischen mehr als zwei Jahrzehnte umspannenden Beziehung war mir klar, dass dies nicht ins Repertoire der in dieser Situation akzeptablen Antworten fällt. Denn obwohl die von der Freundin gewählte Ich-Form auf die Einzahl hindeutet, handelt es sich um den so genannten ‚Singularis Familiaris‘, der zur Beschreibung gemeinschaftlicher Familienaktivitäten verwendet wird. Da gibt es kein Entrinnen. Nicht einmal mit ärztlichem Attest.

„Ich habe eine ganz tolle Strecke entlang der Havel rausgesucht. Das sind nur knapp 30 Kilometer“, fuhr die Frau fort und ließ mich grübeln, ob sie sich über die relativierende Bedeutung des Wörtchens ‚nur‘ nicht im Klaren ist. Ich bin nämlich ein eher träger Mensch und lasse es insbesondere am Wochenende gerne etwas ruhiger angehen. Daher möchte ich Worte wie ‚Radtour‘, ‚30 Kilometer‘ und ‚im See baden‘ nicht in einem Satz zur Beschreibung meines Sonntags verwendet wissen. (Es sei denn, der Satz lautet: „Du musst am Sonntag keine 30-Kilometer-Radtour machen und nicht im See baden.“)

Außerdem ist bei meinem Rad gerade der Hinterreifen platt. Da ich mich aufgrund meines handwerklichen Unvermögens außerstande sehe, den Schlauch selbst zu flicken, und eine Mischung aus Arbeitsstress und Faulheit seit Wochen verhindert, dass ich das Fahrrad in die Werkstatt bringe, fahre ich zurzeit mit dem Rad der Schwiegermutter. Nun empfinde ich meine Männlichkeit zwar als gefestigt genug, um gelegentlich mit einem stangenlosen Fahrrad zu fahren, aber mir ist dennoch an einem würdevollen Auftreten gelegen. Das scheint mir mit einer 30-Kilometer-Tour auf einem holländischen Damenrad mit Einkaufskorb nur schwer vereinbar zu sein.

Als guter Ehemann vermied ich allerdings den offenen Konflikt über unsere Wochenendgestaltung. Stattdessen ging ich davon aus, dass die Frau mein durch ein langgezogenes „Hmmmm“ zur Schau gestelltes Desinteresse, das ich zusätzlich unterstrich, indem ich meinen Blick nicht vom Handy abwendete, schon richtig deuten würde, und als gute Ehefrau von ihrem aberwitzigen Plan des sonntäglichen Hyperaktionismus Abstand nehmen wird. Nahm sie aber nicht, wie ich dieses Sonntagmorgens irritiert feststellen muss. (Ihr Erfahrungsschatz unserer 20-jährigen Beziehung scheint mir noch ausbaufähig zu sein.)

###

Während ich überlege, ob ein Ehevertrag, der sportliche Aktivitäten am Wochenende ausschließt, nicht doch eine gute Idee gewesen wäre, klatscht die Frau vergnügt riesige Porridge-Portionen in Müslischalen und fordert uns mit einer nur schwer zu ertragenden Fröhlichkeit auf, diese zu vertilgen: „Haut rein, das gibt ordentlich Radl-Power.“

Der Sohn steht einer ausgedehnten Fahrradtour skeptisch gegenüber. Seine Tagesplanung sah eigentlich vor, einen persönlichen Rekord im Dauerabhängen aufzustellen und mit seinen Kumpeln am Handy ein paar Runden ‚Clash Royale‘ zu zocken.

Die Tochter hält von der Idee einer Radtour noch viel weniger. Als Teenagerin belegen bei ihr gemeinsame Unternehmungen mit den Eltern ohnehin den letzten Platz auf der Rangliste der präferierten Wochenendtätigkeiten. Sie schiebt ihren Porridge von sich und tritt spontan in den Hungerstreik.

„Ich will aber nicht Rad fahren“, erklärt sie trotzig und verschränkt die Arme vor ihrer Brust. Die Frau schwärmt davon, wie toll der Weg an der Havel sei. Die Tochter wendet ein, dass könne sie sich auch im Internet anschauen und dabei müsse sie nicht einmal schwitzen. Meinen Einwand, ein wenig Bewegung habe noch niemandem geschadet, kontert sie mit dem Hinweis, dass in Berlin jedes Jahr Tausende von Radfahrern in Unfälle verwickelt würden.

„Außerdem hat Gott gesagt, am siebten Tage sollst du ruhen“, ergänzt die Tochter. Sie wurde kürzlich konfirmiert und erhofft sich nun anscheinend göttlichen Beistand, um die Mühen einer Radtour abzuwenden.

„Gott hat auch gesagt, dass Vater und Mutter zu ehren sind“, zeige ich mich zum Unwillen der Tochter ebenso bibelfest. Ohnehin ruhe sie doch die anderen sechs Tage schon ausgiebig, schiebe ich hinterher. Dauer-Snapchatten und -Netflixen falle ja nicht gerade in die Kategorie ‚Schuften wie im Untertagebau‘.

Die ohnehin schon dunklen Augen der Tochter verdunkeln sich noch mehr. In ein tiefes Pechschwarz, das sämtliches Licht in unserer Küche, wenn nicht aus ganz Berlin, zu absorbieren droht. „Du hast doch auch kein Bock auf das bescheuerte Radfahren“, pampt die Tochter über den Küchentisch.

Damit hat sie selbstverständlich recht, aber dennoch kann ich das so nicht stehen lassen. Zum einen würde ich mich niemals so unflätig ausdrücken. („Eine fidele Radtour entlang der malerischen Havel bereitet sicherlich enormes Plaisier, aber heute gelüstet es mich nach anderen Formen der Rekreation.“) Zum anderen steht unser Sardinien-Urlaub bevor und mein Projekt ‚Strandfigur‘ hat noch nicht die gewünschten Resultate hervorgebracht. Daher ist jede Art von Bewegung wichtig. Weniger wegen der dabei verbrauchten Kalorien, sondern weil man währenddessen nichts isst.

Überdies verlangt es das eherne Gesetz der Elternsolidarität, dass Vater und Mutter zusammenstehen und von den Kindern keinen Keil zwischen sich treiben lassen dürfen. Besonders bei unpopulären Entscheidungen müssen die elterlichen Reihen geschlossen sein. Da darf kein Blatt Papier zwischen Vater und Mutter passen. Die Frau würde einen Mangel an Unterstützung meinerseits auch nicht gutheißen und partnerschaftliche Dissonanzen wären für einen gemütlichen Sonntag auf dem Sofa nicht zielführend. Dann halt um der ehelichen Harmonie Willen ein Ausflug an den Schlachtensee.

Daher bestimmte ich mit der Autorität eines absolutistischen Herrschers, dass wir die Radtour machen und damit basta. „Es ist doch schön, wenn wir als Familie etwas gemeinsam unternehmen“, ergänze ich besänftigend. Angesichts der motzigen Gesichter der Kinder bin ich von der Richtigkeit meiner Aussage allerdings selbst nicht ganz überzeugt.

Die Frau schmiert unterdessen Stullen, bereitet Couscous-Salat vor und schnibbelt Obst und Gemüse. Dabei pfeift sie mit einem enervierenden Frohsinn vor sich hin. Allmählich keimt bei mir der Verdacht auf, dass ihre gute Laune auf einem Schuss Eierlikör in ihrem Porridge zurückzuführen ist.

###

Um kurz vor 10 treffen wir uns alle im Flur. Die Tochter ist gerade dabei, die Kopfhörer ihres Smartphones in die Ohren zu stecken. Väterlich streng verbiete ich es ihr mit dem Hinweis, es sei beim Fahrradfahren nicht erlaubt, Musik zu hören. Mit wütendem Blick signalisiert mir die Tochter, dass sie mich für einen spaßbefreiten StvO-Nazi hält, stopft die Kopfhörer aber in die Hosentasche.

Anschließend weigert sie sich, ihren Helm aufzuziehen. „Damit sehe ich total doof aus“, stöhnt sie. „Und Mama trägt auch keinen Helm.“ „Die sieht so schon doof aus“, erwidere ich lachend, um die Stimmung ein wenig aufzulockern. Erstaunlicherweise hält die Frau meinen Scherz für weit weniger gelungen als ich.

In meiner Rolle als Hüter der Straßenverkehrsordnung aufblühend frage ich den Sohn, wo seine Brille sei, die müsse er zum Radfahren aufsetzen. „Mit Brille sehe ich aber aus wie ein Volltrottel“, protestiert er. „Das hast du dann mit deinem Vater gemeinsam“, bemerkt die Frau spitz, die mir anscheinend immer noch meine scherzhafte Helm-Bemerkung nachträgt.

Der Sohn ist jetzt auch beleidigt. Beim Frühstück dachte ich noch, die schlechte Stimmung sei nicht mehr zu unterbieten. Mit ein paar wenigen Sätzen habe ich es jedoch geschafft, das Stimmungsbarometer auf ein neues Rekordtief zu drücken. Könnte man aus schlechter Laune Energie gewinnen, würden wir den Schlachtensee in kürzester Zeit erreichen.

Fortsetzung folgt.

###

Alle Folgen der Tortour:

Fahrradausflug nach Mordor. Eine Tortour in 3 Akten – 1. Akt: Der Singularis Familiaris

Fahrradausflug nach Mordor. Eine Tortour in 3 Akten – 2. Akt: Quäl dich, du Sau!

Fahrradausflug nach Mordor. Eine Tortour in 3 Akten – 3. Akt: Mit Picknix und Erholnix am Schlachtensee

8 Kommentare zu “Fahrradausflug nach Mordor. Eine Tortour in 3 Akten – 1. Akt: Der Singularis Familiaris

  1. 1. “es sei beim Fahrradfahren nicht erlaubt, Musik zu hören.” – falsch

    2. Ein Helm suggeriert, daß Fahrradfahren gefährlich ist. Stimmt auch nicht.

    • Vielen Dank für Ihre Hinweise.
      Zu 1. Da haben Sie prinzipiell recht. Durch das Musikhören darf aber nicht die Wahrnehmung des Straßenverkehrs beeinträchtigen und darf nicht verhindern, dass man Warnsignale wie Klingeln und Hupen hört.
      Zu 2. Der Artikel suggeriert allenfalls, dass man mit Fahrradhelm doof aussieht.

  2. Ich fühle mich spontan in meine Kindheit zurückversetzt. Damals gab es zwar noch kein Snapgram, Instatwitter, Faceflix und Co, kein portables mp3 und auch keine Fahrradhelme. Aber wochenendliche Fahrradtouren quer durch die Walachei. Einfach nur so. Nicht um von A nach B zu kommen, sondern “um gemeinsam mit der Familie was zu unternehmen”. So ein Blödsinn. Waren nicht die Highlights viel eher, den Punkt zu erreichen, an dem der Rückweg kürzer als der Hinweg war? Der kleine Unterstand, an dem man endlich Pause machen konnte? Die Bergabfahrt (auch wenn es dazu davor oder danach steil bergauf ging)? Ach, was hab ich diese Radtouren gehasst!

    Wenn ich in der Zeit zurück reisen könnte, würde ich heute liebend gern an genau so ein Wochenende reisen.

Erwähnungen

  • Der (fast) alljährliche Urlaubsblog. Diesmal nicht live, aber dafür in Farbe und HD. Zur besseren zeitlichen Orientierung sei erwähnt, dass der Urlaub Ende Juni / Anfang Juli stattfand. Die kompletten Beiträge finden Sie hier.

    Eine Radtour, die ist lustig, aber nur ein kleines bisschen

    „Ich habe da eine super App empfohlen bekommen, mit der kannst du dir ganz einfach Radtouren zusammenstellen.“ Das hatte die Frau vor ein paar Wochen beim Abendessen in Berlin gesagt. Die Kinder und ich schauten uns alarmiert an. „Für Föhr habe ich schon mal einen schönen Rundkurs rausgesucht“, fuhr sie ungerührt fort. Unser Unbehagen wuchs und wir rutschten nervös auf unseren Plätzen hin und her, was die Frau aber gekonnt ignorierte. „Sind auch nur 40 Kilometer.“ Das war der Moment, als wir richtig panisch wurden, denn mit Familien-Radausflügen haben wir nur so mittelmäßig gute Erfahrungen gemacht.

    View this post on Instagram Guten Morgen, Morgen! #latergram #20200703 #coronaföhrien #föhr A post shared by Familienbetrieb (@betriebsfamilie) on Aug 13, 2020 at 11:23pm PDT

    Da die Temperaturen heute mal wieder eher ins Herbstliche spielen, es aber wenigstens nicht regnen soll, beschließen wir, es heute mit der Radtour anzugehen. Wobei „beschließen wir“ vielleicht etwas zu sehr nach gemeinschaftlich getroffener Entscheidung klingt. Tatsächlich schlug die Frau die Radtour vor, und da uns anderen außer „Muss das wirklich sein?“ kein gutes Gegenargument und auch kein besserer Vorschlag für eine alternative Freizeitgestaltung einfielen – mit seiner Idee, den ganzen Tag am Handy zu zocken, konnte sich der Sohn nicht durchsetzen –, liehen wir also Räder aus und machten uns auf den Weg.

    Im Feldversuch stellt sich heraus, dass die „super App“ doch nicht ganz so super ist. Wir sind noch nicht wahnsinnig lang unterwegs, da hat die App uns schon zum siebten Mal zum Umdrehen aufgefordert. Es ist nicht auszuschließen, dass dies damit zusammenhängt, dass die Frau, die vorneweg fährt, direkt am Anfang falsch losgefahren ist. Die App will sich aber partout nicht darauf einlassen, den Rundkurs aus der anderen Richtung zu befahren, sondern weist uns beharrlich darauf hin, wir mögen bitte umkehren. Die Frau hält an, fummelt hektisch am Handy rum, murmelt ein paar unterdrückte Flüche und fährt schließlich mit den Worten „Das müsste eigentlich auch gehen.“ wieder los.

    Ich weiß ja nicht, wie Ihnen das geht, aber bei einer Routenplanung finde ich die Verwendung des Konjunktivs und dann noch in Verbindung mit dem Wort „eigentlich“ nicht sehr vertrauenserweckend. So willkürlich, wie die Frau die nächsten Abzweigungen nimmt, habe ich zeitweise das Gefühl, sie würfelt das aus. Es würde mich nicht wundern, wenn sich unsere 40km-Radwanderung zu einer stattlichen Tour-de-France-Etappe auswachsen würde. (Dazu müssten wir die Insel zwar vier- bis fünfmal umrunden, aber zum jetzigen Zeitpunkt möchte ich das nicht ausschließen.)

    View this post on Instagram Noch nie ‘ne Kuh gesehen, oder was? #latergram #20200703 #coronaföhrien #föhr A post shared by Familienbetrieb (@betriebsfamilie) on Aug 14, 2020 at 3:06am PDT

    Aber ich sollte mich nicht beschweren. Schließlich könnte ich selbst unser kleines Peloton anführen und mir von der App den Weg weisen lassen. Tue ich aber nicht. Das würde nämlich auch nicht viel ändern. Sehr wahrscheinlich würde es die Situation noch verschlimmern. Ich verfüge nämlich über den Orientierungssinn einer Stubenfliege mit Links-rechts-Schwäche und chronischem Schwipp-Schwindel.

    Landkarten sind mir auch keine große Hilfe. Ich kann Entfernungen nicht abschätzen, brauche ewig, bis ich meinen Standort finde – „ewig“ ist hier übrigens wörtlich zu verstehen –, und halte die Karte prinzipiell erstmal falsch rum. Falls es so etwas wie eine Landkarten-Leseschwäche gibt, habe ich sie definitiv.

    Daher sind Navigationssysteme für mich eine segensreiche Erfindung, denn es ist für mich eine riesige Erleichterung, wenn mir jemand vorsagt, wie ich von A nach B komme. Allerdings auch nicht immer. Wenig hilfreich ist es zum Beispiel, wenn das Navi sagt: „Fahren Sie Richtung Norden zur Ludwig-Klein-Allee.“ Wo zur Hölle soll die Ludwig-Klein-Allee sein? Wenn ich das wüsste, bräuchte ich das Navi wahrscheinlich gar nicht. Und woher soll ich bitteschön wissen, wo Norden ist? Bin ich ein verdammter Kompass, oder was? Warum sagt es nicht gleich „Fahren sie grob Richtung 52° 31′ 50.995″ N 13° 20′ 45.154″ E, dann werden Sie Ihr Ziel mit etwas Glück erreichen. Fragen Sie zur Not unterwegs nochmal nach.“

    View this post on Instagram Are you talking to me? #latergram #20200703 #coronaföhrien #föhr A post shared by Familienbetrieb (@betriebsfamilie) on Aug 14, 2020 at 3:10am PDT

    Nach rund 20 Minuten Radelei kann festgehalten werden: Der Spaßfaktor unseres Familien-Ausflugs ist ausbaufähig. Die ansonsten sehr resiliente Frau wirkt leicht angespannt, weil sie sich von der App gegängelt fühlt, die Tochter klagt, ihre Handgelenke täten wegen des komischen Lenkers weh, der Sohn merkt an, dass Radfahren doch weniger Spaß macht, als er vorher gedacht hat – und ich glaube, seine Erwartungen diesbezüglich waren schon nicht besonders hoch –, und ich denke derweil darüber nach, dass wir für die Drei-Tage-Leihgebühr für die vier Räder fast 100 Euro bezahlt haben. Eigentlich hätte ich das Geld auch verbrennen können. Dann wäre der Schein zwar auch futsch, aber wir hätten zumindest weniger Stress.

    Wer auch keinen guten Tag hat, ist die Fahrrad-App. Sie fragt sich gerade bestimmt, warum sie nichts Ordentliches geworden ist, zum Beispiel Fortnite Battle Royal oder FIFA mobile. Halt irgendetwas, was den User:innen Spaß macht, und wofür sie der App dann eine Masse 5-Sterne-Ratings geben. Stattdessen muss sie vier vollkommen plan- und orientierungslose Vollhonks, deren intellektuellen Informationsverarbeitungsfähigkeiten nicht einmal dazu ausreichen, um die einfachsten Anweisungen zu befolgen, über eine Nordseeinsel lotsen.

    Wahrscheinlich macht die App heute die fünf Phasen der Trauer durch:

    Leugnen: „Nein, dass kann nicht sein, dass die jetzt zum fünften Mal genau in die entgegengesetzte Richtung gefahren sind, als ich angesagt habe. Das ist einfach nicht möglich, das kann nicht wahr sein. Nein, nein, nein!“Wut: „Habt ihr Penner die falsche Spracheinstellung gewählt und ihr lasst mich die ganze Zeit Esperanto labern, so dass ihr mich nicht versteht? Oder denkt ihr Dumpfbrumsen so langsam, dass ihr schon an der Kreuzung vorbei seid, wenn die Information in eurem Gehirn ankommt, dass ihr abbiegen müsst? Trottel!“Verhandeln: „Einmal, nur einmal könntet ihr doch darauf hören, was ich euch sage. Das wäre voll nett. Ich könnte euch auch den Weg zu einer Eisdiele zeigen.“Depression: „Warum? Warum ich nur? Wir werden nie wieder Zuhause ankommen, irgendwann ist der Akku leer und das war’s dann mit mir.“Akzeptanz: „Ach, fuck it, ich sage einfach irgendwas. Ihr rafft es ja sowieso nicht. Wird schon schiefgehen.“Nach knapp drei Stunden erreichen wir schließlich wieder unsere Ferienwohnung. „Sie haben ihr Ziel erreicht“, verkündet die Rad-App und seufzt vor Erleichterung. Und wenn ich mich nicht täusche, höre ich noch ein leises: „Und jetzt deinstalliert mich bitte!“

    Grab! Ein! Loch!

    Die Temperaturen sind zwar immer noch nicht so prickelnd, aber wir gehen trotzdem nochmal an den Strand. Dort sehe ich von Weitem Grinse-Ole und seine Familie. Seine Frau sitzt mit dem Baby im Strandkorb, er spielt mit den beiden größeren Kindern, die circa drei und sechs sind. Das Spiel scheint eine Art Manchester-Kapitalismus-im-frühen-19.-Jahrhundert-Live-Simulation zu sein. Grinse-Ole muss die Rolle des ausgebeuteten Arbeiters übernehmen, seine Kinder sind tyrannische Fabrikbesitzer:innen. Gerade ist Grinse-Ole dabei, ein Loch zu graben. Er fragt, wie tief er buddeln soll, der Sohn sagt lapidar: „Bis du unten bist.“ Gut, die Angabe ist etwas unpräzise, aber da die Tochter die ganze Zeit ruft: „Grab‘, Papa, grab‘!“, weiß Grinse-Ole zumindest, dass er noch lange nicht fertig ist.

    Nachdem die beiden der Meinung sind, dass er genug gegraben hat, nötigen sie ihn, mit einem Eimer, Wasser aus dem Meer zu holen und in das Loch zu schütten. Seinen Einwand, das Wasser würde immer im Sand versickern, lassen sie nicht gelten: „Ist doch nicht schlimm, das macht trotzdem Spaß!“ Ich bin mir nicht ganz sicher, ob Grinse-Ole dieser Aussage uneingeschränkt zustimmt, denn er ist es, der dutzende Male und immer mit einem Kind auf den Schultern oder dem Arm zum Meer latschen muss. Aber Ole soll das Ganze einfach positiv sehen: Das Lochgraben und Wasserholen ist ein spitzen Work-out und hilft ihm dabei, in Form zu bleiben. Zugegebenermaßen eine rosarote Sichtweise, die einem recht leicht fällt, wenn du im Strandkorb sitzt und keine Löcher buddeln und kein Wasser schleppen musst.

    View this post on Instagram Water, waves, clouds, camera, TV. #latergram #20200703 #coronaföhrien #föhr A post shared by Familienbetrieb (@betriebsfamilie) on Aug 14, 2020 at 7:10am PDT

    Das mysteriöse Tatoo

    Auch gut in Form ist der Typ, der sich ungefähr fünfzehn bis zwanzig Meter vor unserem Strandkorb mit seiner Freundin niedergelassen hat. Bei den beiden erkenne selbst ich, dass sie nicht unser Alter sind, sondern schätzungsweise fünf Jahre jünger. (Also 20).

    Der Typ hat ein ziemliches beeindruckendes Tattoo, das sich über seinen gesamten Brustkorb erstreckt. Ungefähr in der Mitte, wo der Solarplexus ist, leuchtet etwas rötlich. Aus der Entfernung kann ich leider nicht erkennen, was das Tattoo genau darstellt. Es könnte ein großer Greifvogel mit ausgebreiteten Schwingen sein, und was da leuchtet, ist vielleicht sein Schnabel. Oder es ist ein Suchbild und der rote Punkt ist Walter, den der Typ schon seit Jahren erfolglos auf seiner Brust sucht.

    Möglicherweise hatte der Tattoo-Artist aber einfach einen sehr lange andauernden Schluckauf und hat unkontrolliert Kringel und Kreise in den Oberkörper gestochen. Das kann auch gut sein.

    Stadt, Land, Stuss

    Nach dem Abendessen spielen wir „Stadt, Land, Vollpfosten“. Das funktioniert wie das normale „Stadt, Land, Fluss“ nur mit etwas außergewöhnlicheren Kategorien. Zu meinem Leidwesen sind aber Stadt, Land und Fluss als Kategorien gesetzt. Fluss ist der totale Horror für mich. Meine Erdkunde-Kenntnisse sind jetzt zwar nicht so ausgeprägt, dass ich mich Jemandem als Wer-wird-Millionär-Telefonjoker für Geographiefragen aufdrängen würde, aber meine Allgemeinbildung bewegt sich durchaus auf Kreuzworträtsel-Niveau und reicht für gängige Flüsse wie Rhein, Mosel und Donau. Spree, Isar und Alster sind mir ebenfalls bekannt. Zumindest normalerweise. Nicht aber unter dem Druck eines „Stadt, Land, Fluss“-Spiels. Dann ist der Bereich meines Gehirns, in dem die Flüsse abgespeichert sind, plötzlich total leer. Vollkommen blank. Da ist nichts mehr. Nada, nothing, rien, niente, niets, ничего, なんでもない, 毫无.

    Wahrscheinlich rührt meine Fluss-Phobie und -Amnesie daher, dass ich im Alter von circa neun oder zehn auf einem Paddelausflug mit einer befreundeten Familie im Altrhein gekentert bin. So ein traumatisches Erlebnis kann einen beim „Stadt, Land, Fluss“-Spielen schon mal blockieren.

    Die anderen Kategorien, die wir auswählen und mit denen ich hoffe, meine Fluss-Schwäche wettzumachen, sind die folgenden:

    SäugetiereSchimpfworteWas man heimlich machtKündigungsgrundTrennungsgrundDie Säugetiere-Kategorie ist natürlich etwas lame, bietet aber gute Anknüpfungspunkte für die anderen Kategorien, wie Sie gleich sehen werden. Zum Beispiel für die Kategorie Schimpfworte. Da kombinierst du die Tiere einfach mit einem ordinären Ausdruck für Hintern und schon hast du eine 1a-Beleidigung: Igelarsch, Eselarsch, Ponyarsch, Otterarsch, Stachelschweinarsch, Ziegenarsch und so weiter. Die anderen finden das zwar wenig originell, aber da sie die Frage verneinen, ob sie es für ein Kompliment hielten, wenn ich sie Dromedararsch nennen würde, zählen meine Antworten.

    Die Sachen, die die Kinder in der Was-man-heimlich-macht-Kategorie aufschreiben, klingen wiederum ein wenig, als hätte sich die Dr.-Sommer-Redaktion zum Brainstorming getroffen: Onanieren, Masturbieren, Fummeln, Fellatio, Petting oder Züngeln. Wenigstens scheinen sie im Sexualkundeunterricht aufgepasst zu haben.

    Längere Diskussionen gibt es, als die Frau in dieser Kategorie Fechten einträgt. Sie erklärt, wenn du nicht fechten kannst, möchtest du dabei nicht gesehen werden und machst das deswegen immer nur heimlich. Das ergibt durchaus Sinn. Das ist auch der Grund, warum Sie mich in der Öffentlichkeit niemals beim Yoga, Square Dancing oder Hummer essen sehen.

    Ich lasse mich für die Was man heimlich macht-Kategorie wieder von den Säugetieren inspirieren. Igel küssen, Esel küssen, Pony küssen, Otter küssen, Stachelschweine küssen, Ziegen küssen. Die anderen finden das zwar grenzwertig, aber stimmen mir zu, dass du definitiv nicht dabei beobachtet werden willst, wie du ein Frettchen küsst. Eine super Strategie von mir. Trotzdem sollte ich mich vielleicht mal mit einem Therapeuten unterhalten. Bestimmt hängt diese Tiere-küssen-Obsession damit zusammen, dass mir meine Eltern früher kein Haustier erlaubt haben.

    Besonders genial ist aber mein Schachzug, die Antworten aus der Heimlich-machen-Kategorie einfach auch bei Kündigungsgrund und Scheidungsgrund einzutragen. Erneut gibt es Proteste vom Rest der Familie, aber ich kann überzeugend argumentieren, dass du ja wohl deinen Job verlieren wirst, wenn du auf der Arbeit einen Esel küsst. (Insbesondere, wenn du Tierpfleger bist.)

    Bei der Kategorie Scheidungsgrund sage ich zur Frau, dass sie sich sicherlich von mir trennen würde, wenn ich ein Stachelschwein küssen würde. Darauf entgegnet sie, mit Hinblick auf meinen Bart, könne durchaus argumentiert werden, dass sie seit über 20 Jahren sogar Sex mit einem Stachelschwein hat, und ich mich ja auch nicht scheiden lassen würde. Die Kinder wissen nicht so recht, ob sie lachen oder sich übergeben sollen. Vielleicht sollten wir doch lieber etwas anderes als „Stadt, Land, Fluss“ spielen.

    Unser tägliches Kniffel-Spiel gib uns heute

    Return of the Tochter, die nach der Corona-Kniffel-Challenge auch die Urlaubs-Challenge für sich entscheiden will. Und nein, die Frau hat entgegen anderslauternder Meldungen nicht eine Runde ausgesetzt.

    ###

    Alle Beiträge zum Corona-Föhrien-Blog finden Sie hier.

    Sie möchten informiert werden, damit Sie nie wieder, aber auch wirklich nie wieder einen Familienbetrieb-Beitrag verpassen?

    (function() {
    window.mc4wp = window.mc4wp || {
    listeners: [],
    forms: {
    on: function(evt, cb) {
    window.mc4wp.listeners.push(
    {
    event : evt,
    callback: cb
    }
    );
    }
    }
    }
    })();
    E-Mail-Adresse:

    Wenn du ein Mensch bist, lasse das Feld leer:

    Christian HanneChristian Hanne, Jahrgang 1975, hat als Kind zu viel Ephraim Kishon gelesen und zu viel „Nackte Kanone“ geschaut. Inzwischen lebt er mit seiner Frau und seinen beiden Kindern in Berlin-Moabit. Kulinarisch pflegt er eine obsessive Leidenschaft für Käsekuchen. Sogar mit Rosinen. Ansonsten ist er mental einigermaßen stabil.
    Im September erscheint sein neues Buch „Papa braucht ein Fläschchen“. Ebenfalls mehr als zu empfehlen sind „Hilfe, ich werde Papa! Überlebenstipps für werdende Väter“, „Ein Vater greift zur Flasche. Sagenhaftes aus der Elternzeit“ sowie „Wenn’s ein Junge wird, nennen wir ihn Judith“*. (*Affiliate-Links)
    Gefällt mir:Gefällt mir Wird geladen…

    Ähnliche Beiträge

Erwähnungen

  • Paul
  • Christian Hanne
  • Christian Hanne
  • Oldbearbone
  • Steffen Uhlig
  • Christian Hanne
  • PottSteiger

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert