Föhr 2018 – Anreise: Erfrischungsstäbchen. Reiseproviant des Grauens

Anreisetag. Es ist 5.30 Uhr und ich wache eine halbe Stunde vor dem Weckerklingeln auf. Der Morgen begrüßt mich mit einer Mischung aus Aufregung, Übelkeit und einem pelzigen Geschmack auf der Zunge, als hätte in meinem Mund eine Frettchenfamilie genächtigt. Nach einem ersten Kaffee erreiche ich ein Stadium der Menschwerdung, das es mir ermöglicht, ins Bad zu gehen.

In der Dusche lasse ich mir warmes Wasser über meinen Kopf und Körper laufen. Fast eine Viertelstunde. Gewissermaßen vorbeugend für die nächsten drei Wochen. Man weiß ja nie so genau, was die sanitären Einrichtungen in Ferienwohnungen zu bieten haben. Nicht auszuschließen, dass aufgrund niedrigen Wasserdrucks der Duschstrahl dort tröpfelt wie ein Rentner mit vergrößerter Prostata und ich werde dann kaum in der Lage sein, mir das Shampoo aus dem Haar zu spülen.

Anschließend gehe ich in die Küche und trinke einen weiteren Kaffee, durch den ich ein Stadium der Menschwerdung erreiche, das es mir ermöglicht, Stullen für die Reise zu schmieren.

Das man sich selbst um seinen Reiseproviant kümmern muss, gehört ja zu den weit unterschätzten Nachteilen des Erwachsenseins. Als Kind habe ich mich auf Wandertagen oder Klassenreisen immer gefreut, die Brotdose zu öffnen und zu entdecken, was meine Mutter mir auf die Brote gemacht und welche Süßigkeiten sie eingepackt hat. War es etwas, was ich gerne mochte? Oder zumindest etwas, das einen gewissen Tauschwert besaß?

Richtet man sich seine Verpflegung aber selbst, bietet das Öffnen des Proviantbeutels später im Zug keine großen Überraschungen. Außer man hat eine Aufmerksamkeitsspanne, die noch geringer ist als die von Donald Trump beim morgendlichen Briefing, und man hat schon wieder vergessen, was man auf die Brote geschmiert hat. Mit Anfang 40 ist es außerdem eher unüblich seine Stullen mit anderen Reisenden zu tauschen. („Entschuldigen Sie, hätten Sie vielleicht Interesse an meinem Vollkornbrot mit Käse und Schinken und möchten mir im Gegenzug Ihre Streuselschnecke überlassen?“)

Nach dem Stullenschmieren bringe ich den Müll runter. Das vor dem Urlaub zu vergessen, ist meine größte Sorge. Nicht, das Bügeleisen nicht auszumachen (Da würde ich mich eher fragen, wer es überhaupt angemacht hat.) oder den Herd anzulassen. Dann kann ja höchstens die Bude abfackeln. Wenn du aber den Biomüll nicht entsorgst, macht sich während des Urlaubs in deiner Wohnung eine Horde Mietnomaden breit, bestehend aus Kakerlaken, Fruchtfliegen und etwas Pelzigem, das sich aus den Resten eines Thai-Currys tief unten im Müllbeutel entwickelt hat.

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Zurück in der Wohnung genehmige ich mir einen weiteren Kaffee, durch den ich ein Stadium der Menschwerdung erreiche, das es mir ermöglicht, die Tochter und den Sohn zu wecken. Schließlich möchten die Frau und ich genügend Zeit haben, uns von ihnen zu verabschieden. Wir verbringen nämlich nicht nur die erste Woche ohne sie auf Föhr, sondern unser Zug fährt auch schon um 9 Uhr, so dass wir die beiden nicht ins Judo-Camp bringen können, das erst um 14 Uhr startet. Die beiden fahren daher später alleine mit der S-Bahn die rund 50 Kilometer nach Strausberg. Ich denke den Rabeneltern-Award für den Monat Juli sollten wir uns damit gesichert haben.

Als wir die Wohnung verlassen, ist unsere Gefühlswelt eine Mischung aus schlechtem Gewissen, weil wir die Kinder nicht ins Judo-Camp bringen, und aus Stolz, dass sie so selbstständig sind und das alleine hinbekommen. Ist halt einfach eine Frage des Framings.

Am Bahnhof macht sich das Fehlen der Kinder nicht nur emotional, sondern auch ganz praktisch bemerkbar. Im Gegensatz zu uns, sind sie bei Zugreisen immer in der Lage, sich den Waggon und unsere reservierten Plätze zu merken. Ohne sie muss ich dagegen alle drei Minuten die Fahrkarte raussuchen, um zu kontrollieren, ob ich mir Wagen- und Sitzplatz-Nummern richtig eingeprägt habe. (Nein, habe ich nicht.) (Stichwort „Aufmerksamkeitsspanne wie Donald Trump beim morgendlichen Briefing“)

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Nachdem der Zug losgefahren ist, widmen wir uns erstmal unserem Essen. Eine Bahnfahrt macht ja bekanntlich hungrig. Auch wenn man gerade erst losgefahren ist. Unser Proviant besteht neben den Stullen aus einer Tüte Nic Nacs, einer Maxi-Packung Schoko-Bons und einer Tüte sauren Gummibärchen. Auf stark riechende Lebensmittel haben wir als erfahrene Bahnfahrerinnen verzichtet. Bekanntlich strahlt nichts weniger Sozialkompetenz aus, als im Zug gekochte Eier zu schälen. Außer vielleicht eine Tupperdose mit Bouletten zu öffnen.

Außerdem haben wir noch ein Paket Kirschtomaten dabei. Die musste ich gestern auf Geheiß der Frau kaufen. Damit wir auch etwas „Gesundes“ dabeihaben. Als Reaktion auf meine skeptisch gerunzelte Stirn beteuerte sie, dass sie die Tomaten auf jeden Fall essen wird. Ich habe eine Wette mit mir selbst abgeschlossen, dass wir die Tomaten irgendwann in der ersten Woche in einem Salat verarbeiten werden. Und das ist auch gut so. (Kinder, falls ihr das lest, hier eine weitere wichtige Lektion für euch: „Wenn dir das Leben Schokobons und Tomaten gibt, dann lass‘ gefälligst die Finger weg von den scheiß Tomaten.“)

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Wir sind jetzt schon anderthalb Stunden unterwegs und irgendwie fühlt es sich merkwürdig an, ohne die Tochter und den Sohn im Zug zu sitzen. Um ein wenig Familienstimmung aufkommen zu lassen, ermahne ich die Frau, sie solle nicht die ganze Zeit nur auf ihr Handy glotzen, sondern auch mal aus dem Fenster schauen und die Landschaft genießen. Das hat aber nicht den gewünschten Effekt. Die Frau kuckt mich nur irritiert an, rollt aber nicht genervt mit den Augen, wie es die Kinder tun würden.

Ich kontrolliere mein Handy, ob die Kinder eine Nachricht geschickt haben, dass sie gut angekommen sind. Haben sie nicht. Mein Versuch, ihnen selbst zu schreiben, scheitert, weil das Netz im Zug launisch wie eine Diva ist. Am liebsten würde ich ihm ein Snickers geben, damit es stabiler wird. Allerdings habe ich kein Snickers, was meine Laune zusätzlich verschlechtert.

Stattdessen hole ich aus unserer Essenstasche eine Packung Erfrischungsstäbchen. Die Frau verzieht angewidert das Gesicht und macht laut vernehmbare Würgegeräusche. (Jetzt fühlt es sich doch ein wenig an, als wären die Kinder dabei.) Für sie sind Erfrischungsstäbchen eine vollkommen inakzeptable Süßigkeit. Quasi der Anti-Christ der Süßigkeiten. Schlimmer als schokolierter Rosenkohl.

Sie lässt eine lange Tirade los, wie sie früher im Supermarkt gejobbt hätte und die Süßigkeiten einräumen musste. Dabei hätte sie sich immer gefragt, welche kranken Menschen eigentlich Erfrischungsstäbchen essen. Ob ich sie wohl darauf hinweisen sollte, dass sie so einen kranken Menschen geheiratet hat? Lieber nicht. Sie überlegt wahrscheinlich ohnehin schon, ob das Essen von Erfrischungsstäbchen einen legitimern Grund darstellt, eine Ehe zu annullieren.

Für mich sind Erfrischungsstäbchen eine Kindheitserinnerung. Die hat mir meine Mutter häufig an Wandertagen eingepackt. (Stichwort „Überraschung in der Brotdose“). Zu der Kindheitserinnerung gehört allerdings auch, dass ich mich einmal versehentlich auf meinen Rucksack gesetzt und die Erfrischungsstäbchen zerquetscht habe, wodurch der komplette Rucksack mit der klebrigen Zuckermasse eingesaut wurde. Das war das letzte Mal, das ich Erfrischungsstäbchen auf Ausflügen mitbekommen habe.

Ich stelle fest, dass mir mittlerweile die Stäbchen gar nicht mehr so gut schmecken. Die Schokolade ist nicht besonders hochwertig und kratzt im Hals, und die klebrige Füllmasse, die die Erfrischung verspricht, ist mit ekligen künstlichen Aromen versetzt, die im Entferntesten nach Zitrone und Orange schmecken. Aber auch nur, wenn man noch nie in seinem Leben Zitronen und Orangen gegessen hat.

Vielleicht sollte man Kindheitserinnerungen lieber Kindheitserinnerungen sein lassen und nicht versuchen, sie zu reproduzieren. Das ist wie sein altes Abi-T-Shirt anzuziehen, um sich jung zu fühlen, um dann im Spiegel einen Mann im mittleren Alter mit zurückgehendem Haaransatz und zu eng sitzendem T-Shirt zu erblicken. Einfach nicht schön!

Von den Erfrischungsstäbchen ist mir ein wenig schlecht und ich muss aufs Klo. Eigentlich wollte ich das vermeiden, denn der Gedanke an Zugtoiletten verursacht ein leichtes Kribbeln an meinem Körper. Wahrscheinlich gibt es dort mehr Keime als in einem Labor des Max-Planck-Instituts für Infektionsbiologie. Ich bin mir sicher, dass der BND regelmäßig Abstriche auf Zugtoiletten macht, um daraus biologische Kampfstoffe zu entwickeln. Aber wie heißt es so schön: Was muss, das muss.

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Kurze Zeit später erreichen wir Dagebüll und schaffen es gerade noch so auf die Fähre nach Föhr. Nach einer ruhigen Überfahrt kommen wir im Hafen in Wyk an, wo wir in der „Friesischen Karibik“ willkommen geheißen werden. Wer auch immer die Idee für diesen Slogan hatte, war wahrscheinlich noch nie in der Karibik. Oder hat als Kind zu viel an Textmarkern gelutscht.

Unser Ferienappartement ist nur fünf Gehminuten vom Hafen entfernt. Seine 50 Quadratmeter wirken eigentlich doch gar nicht so klein. Zumindest nicht bei zwei Personen. Zur wahren Belastungsprobe für die Größe der Wohnung wird es erst nächste Woche kommen, wenn Tochter und Sohn mit ihrem Hang zu Unordnung und Chaos zu uns stoßen.

Nach einem kurzen Rundgang durch das Appartement verstehe ich auch, was die Vermieter auf der Internetseite mit „seitlichem Meerblick“ meinen. Wenn man sich weit genug aus dem Wohnzimmerfenster beugt und nach links schaut, erblickt man tatsächlich zwischen zwei Häusern ein Stück vom Meer. Das ist fast so toll, wie sich auf das Sofa zu setzen und am Handy ein Foto vom Meer anzuschauen.

Dafür gibt es in der Küche aber einen Geschirrspüler. Das erspart einem nicht nur das lästige Abwaschen mit der Hand, sondern wenn er läuft rauscht es fast wie das Meer. Dann muss man sich nur noch aus dem Wohnzimmerfenster hängen und fühlt sich fast, als säße man am Meer. Toll!

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Nachdem wir zu Abend gegessen haben und die Strandpromenade entlang flaniert sind, spielen die Frau und ich eine Runde Kniffel. Das ist zwar nicht besonders aufregend, aber wir müssen ja ein wenig trainieren, wenn die Kinder nächste Woche kommen. Die haben allerdings schon angedeutet, dass sie keinen Bock aufs Kniffeln hätten. Da müssen sie aber durch, denn was das Urlaubskniffeln angeht, lassen wir nicht mit uns diskutieren. Irgendwo hat diese liberale Erziehung auch ihre Grenzen.

Gute Nacht!

P.S.: Die Frau hat übrigens die Hälfte der Tomaten tatsächlich gegessen. Meine neue Wette gegen mich selbst lautet, dass wir in der ersten Woche keinen Salat essen, in dem wir die restlichen Tomaten verarbeiten.

P.P.S.: Die Frau hat drei Kniffel in drei Runden geworfen und jede Runde gewonnen. Eventuell habe ich auch keinen Bock mehr aufs Kniffeln.

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Alle Teile des Föhr-Tagebuchs finden Sie hier.

174 Kommentare zu “Föhr 2018 – Anreise: Erfrischungsstäbchen. Reiseproviant des Grauens

  1. 6372 Blogworte (gefühlt) für den ersten Urlaubstag, davon 5918 (gefühlt) Lebensmittel-Substantive und thematisch dazu passende Adjektive und Possesivartikel. Letztere hauptsächlich bezüglich der Erfrischungsstäbchen (definitiv).
    Das Lesen des heutigen Blogs hinterlässt in mir daher eine sehr ambivalente Gefühlswelt:
    Einerseits verspüre ich gewisse Ängste, wenn ich an die lange Zeitspanne zwischen 9 und 14 Uhr denke und was sich in der sturmfreien Bude dort alles ereignen und vor allem danach nicht abgeschlossen sein könnte. Wurde der Herd noch für ein kurzgebratenes Schnitzel benutzt, nicht auf Null gedreht, das Schnitzel wegen zu viel Röstaromen im geleerten Mülleimer entsorgt und beim Verlassen der Wohnung verließ sich K1 auf K2, oder umgekehrt, bei dieser Schlüsselsache?
    Wäre ein kurzer Kontrollanruf bei den heimischen Notrufdiensten da nicht empfehlenswert?
    Andererseits verwirrt mich völlig die Erkenntnis, dass es Menschen geben soll, die keine naturgegebene Zuneigung zu Erfrischungsstäbchen besitzen. Die Unschuld im näheren familiären und erzieherischen Umfeld vorausgesetzt, tippe ich da auf einen bösartigen Gendefekt.
    Die Kirschtomatenkompensation ist allerdings so hilfreich wie Globuli und daher völliger Unfug.
    Kein Wunder, dass es im Zug zu keiner Konfrontation mit Reisenden in die eine oder andere Richtung (Nord – Süd) gab. Denen war das auch suspekt.
    Trotzdem bin ich froh, dass wir alle jetzt erstmal angekommen sind und endlich wieder Kniffel spielen.
    Bevor ich aber im Schrank hinten unten links nach dem Kniffelblock suche, muss ich schnell noch an die Tanke.
    Herrgottnochmal, hoffentlich haben die Erfrischungsstäbchen!

    • 6372 Kommentarworte (gefühlt) sind aber auch nicht von schlechten Eltern.
      P.S.: Ich glaube, die Bude in Moabit steht noch. Sonst hätte ich etwas in den Lokalnachrichten gelesen.

      • Nachdem die Befürchtungen bezüglich der heimischen Behausung offenbar (etwas Restpanik bleibt da ja immer noch) unbegründet waren, bleibt nur noch nachzutragen, dass die Tanke meines Vertrauens keine Flüssigkernnaschereien hatte.
        Rückwirkend betrachtet war der erste Urlaubstag der temporär dezimierten Blogfamilie für mich daher ein Reinfall.
        Entweder ihr steigt endlich auf Nutella um, oder ich muss mir eine neue Tankstelle suchen!

  2. Da gibt es doch aber zum Glück diese hochoffizielle Regel: Wer in drei aufeinanderfolgenden Runden einen Kniffel wirft, kriegt in der Urlaubsgesamtwertung 3000 Punkte abgezogen und muss am letzten Ferientag die pelzigen Tomaten essen.

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