„Vierzehn Camping-Wecken, fünfzehn Camping-Wecken, sechzehn Camping-Wecken, …“ Nein, ich befinde mich nicht beim Bäcker, wo die Verkäuferin gerade meine Bestellung abzählt, sondern es ist kurz nach acht und ich mache Liegestütze. Beach Body gibt den Drill Sergeant und hält meine Füße in Schubkarrenposition hoch. Weil die letzten beiden Tage das Training ausfiel, will er mich mit der Camping-Wecken-Zählweise besonders motivieren. Ich müsse lernen, mir im Geiste vorzustellen, wie ich Camping-Wecken esse, anstatt mich pausenlos damit vollzustopfen, so Beach. Mein Körper würde es mir danken. Das Einzige, das ich mir gerade im Geiste vorstelle, ist, wie ich Beach ohrfeige. Das dankt mir mein ganzes Ich.
Der Himmel ist recht stark bewölkt, was sich auch nicht gerade leistungsfördernd auswirkt. Beach scheucht mich jetzt zu den Reckstangen, um Klimmzüge zu machen, und blökt mir ins Ohr: „Drei Mal zehn Camping-Wecken-Klimmzüge, sollten reichen, damit das faule Fleisch in Schwung kommt.“
Neben mir hängt ein Mann an der anderen Reckstange. Mit Befriedigung stelle ich fest, dass er etwas blasser, etwas fülliger und etwas unsportlicher ist als ich. „Am Uwe hier musst du dir ein Beispiel nehmen“, sagt Beach und zeigt auf den Mann. „Der ist gesünder, dünner und sportlicher als du.“ Ich schaue Beach irritiert an, während ich versuche, mich an der Stange nach oben zu ziehen.
„Und weißt du, woran das liegt?“, will Beach von mir wissen. Ich habe keine Ahnung und würde gerne mit den Schultern zucken, was aber gar nicht so einfach ist, wenn man wie der sprichwörtliche Mehlsack an einer Stange hängt.
„Der Uwe isst keine Camping-Wecken, sondern lebt asketisch und ernährt sich nach einer strikten fleischlosen Paleo-Diät.“ Ich blicke rüber zu Uwe, der unmerklich den Kopf schüttelt.
„So, und jetzt Kniebeugen“, ruft Beach. „Eine Camping-Wecke, zwei Camping-Wecken, drei Camping-Wecken …“
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Eine halbe Stunde später stehe ich in der Schlange beim Bäcker. Das Camping-Wecken-Training hat mich hungrig gemacht und ich kaufe ein Brötchen mehr als sonst. (Tragischerweise muss ich dadurch mehr als vier Euro bezahlen, so dass ich keine 1-Euro-Münze für die Waschmaschine zurückbekomme.)
Während ich meinen 5-Euro-Schein rüberreiche, gibt ein Mann neben mir seine Bestellung auf, die er sich auf einem kleinen Zettel notiert hat. „Zwei Kornkracher, drei Dünen-Krusti, eine Laugenstange und zwei Eierwecken, bitte“ liest er vor. „Ach ja, und bitte noch zwei von den kleinen Kinderbrötchen.“ Ich schaue mich verwirrt in dem Laden um, kann aber keine Kinder entdecken, die zu dem Typ gehören. Na, der wird jetzt eine schöne Standpauke bekommen, feixe ich innerlich. Aber weit gefehlt. „Sehr gerne“, sagt die Verkäuferin und überreicht ihm die beiden kostenlosen Mini-Brötchen.
Ich weiß nicht, ob ich den Mann für seine asoziale Schnorrerei verachten soll, mit der er sich Brötchen erschleicht, die eigentlich Kindern vorbehalten sind. Oder soll ich ihn für die Dreistigkeit bewundern, die ihm kostenlose Brötchen einbringt? Sicherlich ist er im echten Leben Börsenhändler und kann den Hals nicht voll genug bekommen. Hat wohl sein Hobby zum Beruf gemacht. Oder umgekehrt.
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Zurück in der Ferienwohnung dusche ich schnell und überlege kurz, ob ich mir nicht doch mal den Bart stutzen sollte. Die zauselige Vogelscheuche im Spiegel meint, dass sei nicht nötig: „Was du heute musst nicht besorgen, das verschiebe ruhig auf morgen. Oder übermorgen.“
Beim Frühstück informiere ich die Familie, dass ich mich nicht mehr rasieren werde, sondern mir den Bart bis auf Brusthöhe wachsen lasse. Die Kinder lachen laut und auf eine Art, die nicht vermuten lässt, dass sie ein humanistisches Gymnasium besuchen. Der Sohn meint, ich könne dann ja als Räuber Hotzenplotz auftreten. Die Tochter findet, als Petterson-Darsteller wäre ich besser geeignet, der hätte ja auch einen angegrauten Bart. Ich nehme einen großen Schluck Kaffee und denke, dass die erste Urlaubswoche ohne Kinder eigentlich auch schön war.
Stattdessen schlage ich vor, dass ich Hipsterbart-Model werden könnte. Erneut lachen die Kinder, als wären sie bei einem „Fack ju Göhte“-Casting. Der Sohn fragt, ob ich dann in den ‚Playboy‘ komme, woraufhin die Frau fragt: „Warum? Weil er Männerbrüste hat?“ Daraufhin grölen alle los, als würden sie sich für die nächste Frauentausch-Staffel bewerben. Und zwar als die Assi-Familie. Ich nehme einen noch größeren Schluck Kaffee und denke, dass ein Urlaub ganz alleine auch mal schön wäre.
Die Frau schaut aus dem Fenster und informiert uns, dass es regnet. Hektisch kontrollieren wir alle an unseren Handys diverse Wetter-Apps. Bei denen liegt die Regenwahrscheinlichkeit aber nur bei 50 bis 70 Prozent. Das heißt, die Fenster-App mit ihrer hundertprozentigen Niederschlagswahrscheinlichkeit funktioniert nicht richtig. Gleich mal eine schlechte Bewertung im App-Store abgeben.
Der Sohn muss trotz des bescheidenen Wetters zum Surfkurs (Hätte er das vorher gewusst, hätte er sich wahrscheinlich gar nicht erst dafür angemeldet.), der Rest der Familie verbringt den Vormittag mit dem Kauf von Mitbringseln (Marmelade vom Föhrer Bauernmarkt) und Gütern des täglichen Bedarfs (Milch, Eier, Wurst, Tonic Water, Bier, Knabberzeug).
Gegen 13 Uhr kommt doch noch die Sonne raus und wir gehen an den Strand. Die Tochter will mit mir eine Runde Wasser-Basketball spielen. Nach einem hart umkämpften Match gewinnt sie 3:1 (10:8, 8:10, 10:9, 10:7). Ich möchte der Tochter auf keinen Fall Treffsicherheit, Zielgenauigkeit und Ballgefühl absprechen, aber ihr Sieg könnte dem Umstand geschuldet sein, dass ich längere Arme habe und entsprechend einen größeren Korb formen kann als die Tochter mit ihren wesentlich kürzeren Armen.
Jedoch liegt es mir fern, auf diesem Wettbewerbsnachteil herumzureiten, denn sonst könnte der ungünstige Eindruck entstehen, dass ich ein schlechter Verlierer sei. Das stimmt nämlich nicht. Ich bin sogar ein äußerst guter Verlierer.
Trotzdem sollten Sie sich einmal vorstellen, wie eine Person einen Ball in einen Korb vom Umfang eines Hula-Hoop-Reifens werfen muss, während der Kontrahent den Ball in einem Fingerhut großen Korb zu versenken hat. Da sind keine hellseherischen Fähigkeiten vonnöten, um vorherzusagen, wer dieses Duell gewinnt. Aber das nur am Rande. Wie gesagt, ich bin ein guter Verlierer, der kein Problem damit hat, die Leistung der Gewinnerin wie ein fairer Sportsmann angemessen zu würdigen.
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Als uns kalt wird, gehen wir aus dem Wasser und ich setze mich in den Strandkorb. Dort beschäftige ich mich geistig mit dem Schreiben der Urlaubspostkarten, aber nach reiflicher Überlegung beschließe ich, erst morgen damit anzufangen.
Apropos reiflich: Wissen sie eigentlich, welchen Durchmesser ein Hula-Hoop-Reifen hat? Ungefähr 105 Zentimeter. Der Durchmesser eines Fingerhuts liegt dagegen bei maximal zwei Zentimetern. Das soll jetzt aber nicht in irgendeiner Weise die Leistung der Tochter beim Wasser-Basketball schmälern. Nein, nein, nein. Sie hat das wirklich toll gemacht. Ich erwähne das mit dem Durchmesser lediglich, weil das eine Information ist, die sie womöglich nicht direkt parat haben.
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Nachdem wir eine Weile im und am Strandkorb gesessen haben, fängt es plötzlich wieder an zu regnen. Die Frau kontrolliert ihre Wetter-App am Handy, die null Prozent Regenwahrscheinlichkeit angibt. Die Strand-App ist also auch kaputt. (App-Store-Bewertung: „Null von fünf Punkten“)
Wir packen zusammen und machen uns auf den Weg in die Ferienwohnung. Auf der Strandpromenade spielt sich eine herzergreifende Szene ab. Ein kleines Mädchen weint bitterlich, weil es seinen Haarreif verloren hat.
Apropos Haarreif: Hier noch eine kleine Ergänzung zu der Hula-Hoop-Reifen-vs.-Fingerhut-Thematik, falls Sie eher der visuelle Typ sind und mit den numerischen Angaben zum Umfang nicht so viel anfangen konnten. Deswegen habe ich Ihnen hier mal ein Bild von einer Frau mit einem Hula-Hoop-Reifen sowie von einem Fingerhut rausgesucht. Da können Sie die Größenverhältnisse auf einen Blick nachvollziehen.
Mit diesen Bildern möchte ich aber nicht den Ausgang des Wasser-Basketball-Matches infrage stellen. Nichts liegt mir ferner, als meinem eigen Fleisch und Blut den Sieg nicht zu gönnen. Bei den Abbildungen handelt es sich lediglich um einen Service für Sie als Leserinnen und Leser.
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Zuhause gehen wir alle erstmal nacheinander unter die Dusche. Dann verbringen wir den Nachmittag mit Lesen, Spielen und Dösen. Die Frau und ich überlegen, ob es noch zu früh ist, einen Gin Tonic zu trinken. Der Sohn sagt, da wäre er auch dabei. „Das könnte dir so passen, du frühreifes Früchtchen“, sage ich zu ihm.
Apropos frühreif: Da Sie das Hula-Hoop-Reifen-und-Fingerhut-Thema möglicherweise immer noch beschäftigt, hier mal eine kurze Grafik, wie gut so ein Ball in einen Hula-Hoop-Reifen und wie gut in einen Fingerhut passt.
Selbstverständlich erkenne ich den Sieg der Tochter trotzdem neidlos an. Alles andere wäre ja auch albern. Diese Grafik ist lediglich Teil meines Bildungsauftrags Ihnen gegenüber, dem ich mich auch im Urlaub verpflichtet fühle.
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Zum Abendessen bereiten wir Burger vor. Das hat sich der Sohn gewünscht. Um dem Ganzen etwas Würze zu verleihen, will ich meinen Burger mit Blauschimmel-Käse belegen. Als ich die Packung öffne, entströmt allerdings ein Geruch der Stärke „Windel Code Brown“ und der Käse ist total schmierig. Er ist wahrscheinlich schon überreif.
Apropos überreif: Da die Leserinnen und Leser des Familienbetriebs überdurchschnittlich gebildet sind, gibt es möglicherweise ein großes Interesse an mathematischen Fragestellungen zum Thema Hula-Hoop-Reifen und Fingerhut. Ihr Wunsch ist mir Befehl:
- Wie oft passt ein Ball mit einem Umfang von circa 15 cm in einen Hula-Hoop-Reifen mit einem Umfang von circa 105 cm?
- Wie oft passt ein Ball mit einem Umfang von circa 15 cm in einen Fingerhut mit einem Umfang von knapp 2 cm?
Lösung: a) 7 Mal, b) O Mal
Möglicherweise haben Sie den Eindruck, dass ich mit diesen Rechenaufgaben den sportlichen Erfolg der Tochter im Wasser-Basketball kleinreden möchte. Damit liegen Sie aber falsch. Ich befriedige mit den Aufgaben lediglich das intellektuelle Interesse der Stammleserinnen und -leser.
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Nach dem Abendessen gehen wir an den Strand und treffen ein paar ehemalige Kommilitoninnen und Kommilitonen, mit denen wir gemeinsam in Marburg studiert haben. Ja, es wird Sie vielleicht erstaunen, aber ich habe tatsächlich studiert. Gut, es war zwar Soziologie, was für Naturwissenschaftler den gleichen Status wie Alchemie, Astrologie und Hellsehen hat, aber ich habe ein Diplom dafür bekommen. (Und nein, Soziologie ist nicht das mit den Tieren. Das ist Zoologie.)
Wir haben uns zwar seit ungefähr zehn Jahren nicht mehr gesehen, aber es ist gleich so, als hätten wir erst gestern zusammen im „Delirium“ gesessen, einer Marburger Kneipe, deren Name uns damals Verheißung und Verpflichtung zugleich war. Warum sollten wir auch nicht einen lustigen Abend haben, nur weil wir inzwischen alle ein etwas reiferes Alter erreicht haben. (Anmerkung der Redaktion: Lediglich Christian ist älter geworden, alle anderen sind seit ihren Studienabschlüssen körperlich und geistig nicht einen Tag gealtert.)
Apropos reiferes Alter: Da ich sie nicht mit unserem abendlichen Treffen langweilen möchte, habe ich für Sie noch einen kleinen stochastischen Aspekt zum Thema Hula-Hoop-Reifen und Fingerhut rausgesucht. Wenn Sie einen Beachball mit verbundenen Augen werfen, ist die Wahrscheinlichkeit, einen Hula-Hoop-Reifen zu treffen um 5.250 Prozent höher, als den Fingerhut zu treffen.
Mit dieser kleinen Denkaufgabe möchte ich selbstverständlich nicht suggerieren, die Tochter hätte heute nur durch Glück im Wasser-Basketball gewonnen. So etwas wäre einem liebenden Vater nicht würdig. Eine kürzlich durchgeführte Leserinnen- und Leseranalyse hat aber ergeben, dass das soziodemografische Profil der Familienbetrieb-Zielgruppe mehr dem der ZEIT-Leserinnen- und Leserschaft und weniger dem der Sport-Bild-Abonnentinnen und -Abonnenten entspricht. Somit braucht es hier vermehrt bildungsbürgerlich-anspruchsvolle Inhalte, um die Leserinnen und Leser zu halten, und das kann dann auch mal auf Kosten der Sportberichterstattung gehen. Die Tochter wird das schon verstehen.
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Nach unserer Rückkehr ins Ferienappartement spielen wir zuerst eine kurze Runde ‚Mensch ärgere dich nicht‘, die ich gewinne. Das ist jetzt auch nicht sehr verwunderlich, benutzen doch alle gleichgroße Würfel und die Spielfiguren sind auch vollkommen identisch. Bei der abschließenden Kniffelrunde gewinnt der Sohn, und es fallen zwei Kniffel sowie ein Kniffel der Herzen. Die Führung der Gesamt-Urlaubswertung verbleibt weiterhin bei der Tochter.
Vor dem Schlafengehen erzählen wir uns noch, was heute das Beste war:
- Sohn: Das Treffen abends am Strandkorb
- Tochter: Dass ich im Wasser-Basketball gewonnen habe.
- Frau: Das Treffen mit den StudienkollegInnen.
- Ich: Das Treffen mit den StudienkollegInnen.
Gute Nacht!
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Christian Hanne, Jahrgang 1975, hat als Kind zu viel Ephraim Kishon gelesen und zu viel “Nackte Kanone” geschaut. Inzwischen lebt er mit seiner Frau und seinen beiden Kindern in Berlin-Moabit. Kulinarisch pflegt er eine obsessive Leidenschaft für Käsekuchen. Sogar mit Rosinen. Ansonsten ist er mental einigermaßen stabil.
Im September erscheint sein neues Buch “Papa braucht ein Fläschchen”. Ebenfalls mehr als zu empfehlen sind “Hilfe, ich werde Papa! Überlebenstipps für werdende Väter”, “Ein Vater greift zur Flasche. Sagenhaftes aus der Elternzeit” sowie “Wenn’s ein Junge wird, nennen wir ihn Judith”*. (*Affiliate-Links)
Hallo Lieblingsurlaubsblogger,
Eigentlich hasse ich ja Urlaubsberichte. Nicht wegen des Erzeugens von Fernweh sondern weil die meistens furchtbar zäh sind. Nicht so deine tagaktuellen Blogposts, sondern auch deine sportliche Überlegenheit ist großartig und mathematisch nachvollziehbar beschrieben. Chapeau!
Aber bitte erkläre mir doch mal, was ein Kniffel der Herzen ist?
Liebe Grüße aus dem Süden!
Der Kniffel der Herzen, ist ein Kniffel, den man wirft, nachdem man ihn schon gestrichen hat. Er zählt keine 50 Punkte, sondern drückt lediglich das Mitleider der Mitspieler aus. Und die Schadenfreude.
Danke für das Kompliment – aber Du bist natürlich auch ausschließlich geistig gereift. Beach Body sei dank!
Oha, das Delirium. Da hatte ich auch ein bisschen zwei Abstürze. Aber da war ich noch jung und fit, den Aufstieg dahin würde ich vermutlich heute nicht mehr bewältigen können. Vielleicht brauche ich auch einen Beach. Auch Schön und bezeichnend benannt: das Café Trauma. Hach, ich bin alt.
Stimmt. Das Café Trauma! Und das Café Barfuß und die Milchbar-Partys und die Theologen-Partys und, und, und …
Ich freue mich jeden Tag auf neue Geschichten, aber ich möchte jetzt auch endlich den geheimnisvollen Strandkorbnachbarn kennen lernen. Um mein mir innewohnendes Bedürfnis nach intellektuellen Erkenntnissen zu befriedigen natürlich nur, nicht aus Schnüfflertum..
Die Geschichte von dem Strandkorbnachbar hebe ich mir für den Samstag auf. Das minimiert das Risiko, dass er mir am nächsten Tag eine reinhaut.