Gespräche mit dem Tod (16): Der gute Jahresplan

Samstagabend, kurz nach 21 Uhr. Ich sitze am Küchentisch und überlege, was ich mir für das nicht mehr ganz so neue Jahr vornehmen kann. Schadet ja nichts, sich mal aufzuschreiben, was man in den nächsten zwölf Monaten machen und erreichen will. So als stetig mahnendes Dokument, das dann irgendwann Ende Februar oder Anfang März in den Mülleimer wandert.

Jetzt aber bin ich noch voller Enthusiasmus – ein seltenes Gefühl, dass mich einmal jährlich im Abstand von ungefähr zwölf Monaten wie ein kurzer, fiebriger Infekt überkommt. Eifrig notiere ich Ziele, gute Ideen sowie Zwischenschritte, kategorisiere und priorisiere und fülle Jahres-, Quartals-, Monats- und Wochenpläne aus. Auf dem Tisch stapeln sich vollgekritzelte Zettel, Notizen und Papiere. Ich möchte nicht wissen, wie viele Bäume für meinen Jahresplan gefällt werden mussten. Ergänze „Umweltbewusster leben“ bei meinen Jahreszielen. Doppelt unterstrichen und mit drei Ausrufezeichen.

Ich denke gerade darüber nach, ob das Ziel „Sich gesünder ernähren“ bedeutet, weniger Käsekuchen zu essen, als es klingelt. Etwas ungewöhnlich für diese späte Uhrzeit, denke ich. Vielleicht ist eine der Frauen aus der Studi-WG im 3. Stock. Für die hatte ich vor ein paar Tagen ein Paket angenommen.

Als ich die Tür öffne, steht dort aber keine junge Studentin, sondern eine hagere Gestalt in einer dunklen Kutte, die beide schon bessere Tage gesehen haben. Es ist der Tod, der mir ab und an einen Besuch abstattet.


Gespräche mit dem Tod

„Hallo, alter Freund“, sagt er.

„Mensch, das ist ja eine schöne Überraschung“, erwidere ich und wir nehmen uns zur Begrüßung in den Arm.

Ich bitte den Tod in die Wohnung, bevor irgendwelche Nachbarn vorbeikommen. Da außer mir niemand den Tod sehen kann, würden sie sonst denken, ich führe im Hausflur Selbstgespräche. Das muss ja nicht unbedingt sein. Im Hausflur Selbstgespräche führen, liegt nämlich auf der gleichen Weirdness-Stufe wie mit 68 Katzen in einer 40-Quadratmeter-Wohnung zu leben.

„Long time, no see“, sagt der Tod, als ich die Wohnungstür zugemacht habe.

„Ja, das ist eine Ewigkeit her, dass wir uns das letzte Mal gesehen haben“, pflichte ich ihm bei. „Fast zwei Jahre.

„Geht es dir gut“, fragt der Tod mitfühlend.

Ich nicke.

Zweifelnd schaut mich der Tod von oben bis unten an. „Grau bist du geworden“, sagt er schließlich. „So am Bart und an den Schläfen.“

Ich warte darauf, dass er sagt, dass mir das gut stünde, aber der Tod bleibt stumm.

„Dafür siehst du ja aus wie das blühende Leben“, erwidere ich.

Der Tod überhört meinen spöttischen Unterton und winkt kokettierend ab. „Ach, das sind einfach meine guten Gene.


Wir gehen in die Küche und setzen uns. Der Tod hüstelt etwas gekünstelt. „Ganz schön trocken hier“, sagt er.

Ich verstehe seinen üblichen Wink mit dem Zaunpfahl. „Darf ich dir vielleicht etwas zu trinken anbieten?“

„Wenn du schon so nett fragst, dann doch gerne“, antwortet der Tod.

„Mit oder ohne?“, will ich wissen.

Der Tod schaut mich fragend an. „Was, mit oder ohne?“

„Dein Wasser. Möchtest du das mit oder ohne Sprudel haben?“

„Wasser?“ Der Tod zieht die linke Augenbraue hoch. „Ich dachte eigentlich eher an Gin Tonic.“

Ich schüttle den Kopf. „Ich habe beschlossen, vorerst auf Alkohol zu verzichten.“

„Aber warum?“ Der Tod schaut mich fassungslos an, als hätte ich ihm gerade eröffnet, mich für den Rest meines Lebens in Askese zu begeben, nur noch selbstgefilzte Klamotten zu tragen und in einer abgeschiedenen Hütte im Wald zu leben, wo ich mich von Beeren und anderen Früchten ernähre.

„Der Dezember mit den all den Plätzchen, Stollen und Dominosteinen hat es etwas gut mit mir gemeint“, erkläre ich. „Der Hosenbund zwickt ein wenig und ich möchte ein bisschen abnehmen.“

Der Tod rollt mit den Augen. „Ich glaube, ich habe ein Déjà-vu. Oder ich bin in einer Zeitschleife gefangen. ‚Jährlich grüßt das Moppeltier‘.“

„Ja, ja“, erwidere ich. „Mach dich nur lustig. Ich fühle mich gerade einfach nicht wohl in meiner Haut.“

Der Tod mustert mich. „Verständlich“, nickt er. „Aber was hat das mit deinem Gewicht zu tun?“

Jetzt rolle ich mit den Augen. „Fünf Kilo will ich mindestens abnehmen.“

Der Tod mustert mich erneut und nickt wieder. „Vielleicht besser acht. Sicher ist sicher.“

Ich ignoriere seine Bemerkung. „Soll ich dir eine Scheibe Zitrone in dein Wasser machen? Dann schmeckt es wenigstens ein bisschen wie Gin Tonic.“

Der Tod schaut mich entgeistert an. „Hast du schon am Hirn abgenommen? Wasser mit Zitrone schmeckt doch nicht wie Gin Tonic!“

„Besser als nichts“, entgegne ich. „Alkohol verträgt sich einfach nicht mit Abnehmen. Weißt du denn nicht, wie viele Kalorien so ein Gin Tonic hat?“

„Nö. Wie viele denn?“, fragt der Tod zurück.

„Keine Ahnung“, antworte ich. „Aber das weiß man doch, dass Alkohol total viele Kalorien hat.“

„Das weiß man bei Plätzchen, Stollen und Dominosteinen auch“, erklärt der Tod mit erhobenem Zeigefinger. „Aber der maßlose Herr musste das Zeug ja in sich reinstopfen, als gäbe es kein Morgen mehr. Oder keine Waage. Hättest du dich mal ein bisschen zurückgehalten, könnten wir jetzt schön Gin Tonic trinken.“

„Hör doch mal auf, die ganze Zeit von Gin Tonic zu reden“, rufe ich. „Du bist ja regelrecht besessen davon. Ein Dry January würde dir auch mal gut tun.“

Der Tod horcht auf. „Wenn man da nur Dry Gin trinkt, bin ich dabei.“

„Da, schon wieder“, rufe ich. „Wir können doch auch ohne Alkohol geistreiche Gespräche führen.“

„Ja nee, is klar“ entgegnet der Tod genervt und schüttelt resigniert mit dem Kopf.

„Was ist jetzt?“, frage ich. „Willst du nun ein Wasser oder nicht?“

Der Tod nickt.

„Mit Zitrone?“

Der Tod nickt wieder. „Und mit Eis. Dann ist es vom Gin Tonic quasi gar nicht zu unterscheiden.“


Während ich Zitrone schneide und Eis aus dem Gefrierfach hole, schaut der Tod auf die vollgeschriebenen Blätter und Zettel auf dem Küchentisch.

„Was ist denn das für ein Chaos hier?“, will er wissen.

„Ich bin gerade dabei, mir aufzuschreiben, welche Pläne und Ziele ich dieses Jahr verfolgen möchte“, erkläre ich.

„Aha“, sagt der Tod mit unverhohlener Skepsis.

„Das habe ich mir schon lange vorgenommen“, sage ich. „Erst wenn du dir über deine Ziele bewusst bist, kannst du sie bewusst verfolgen und effizient daran arbeiten.“

„Ach Gottchen“, entfährt es dem Tod. „Bist du jetzt auch unter die Selbstoptimierer und Achtsamkeits-Apostel gegangen?“

„Quatsch“, erwidere ich.

„Überleg‘ dir doch gleich einen beschissenen, motivierenden Kalenderspruch für jeden Tag“, ruft der Tod. „Jede Reise beginnt mit dem ersten Schritt! Wende dein Gesicht der Sonne zu, dann fallen die Schatten hinter dich!“, deklamiert er mit Pathos. „Hilft dir auf jeden Fall beim Abnehmen.“

„Weil ich dann fokussiert und in positiver Stimmung bin?“, frage ich hoffnungsfroh.

„Nee, weil du dann jeden Morgen kotzen musst“, antwortet der Tod und lacht laut.

„Das Ganze hat überhaupt nichts mit Selbstoptimierung zu tun“, erkläre ich. „Ich will meine Zeit einfach besser nutzen. Zum Beispiel wieder mehr Schreiben.“

„Toll“, entgegnet der Tod teilnahmslos.

„Ja, und produktiver will ich sein“, erkläre ich.

„Deswegen steht hier auch jeden Tag um 13 Uhr „Mittagessen“ in deinem Kalender?“, fragt der Tod spöttisch.

„Regelmäßig essen ist wichtig“, verteidige ich mich.

„Kacken auch“, entgegnet der Tod. „Schreib das doch auch in deinen Plan.“

„Das wäre ja albern“, sage ich.

„Warum?“, fragt der Tod. „Ist doch auch produktiv. Wahrscheinlich produktiver als dein Schreiben.“ Er lacht laut und lange über seinen eigenen Scherz.


Der Tod blättert weiter in meinen Aufzeichnungen. Plötzlich runzelt er die Stirn. „Sind das die Pläne von jemand anderem?“

„Wieso?“, will ich wissen.

„Da steht im Juni ‚Triathlon‘“, erklärt der Tod.

„Ja“, sage ich. „Ich habe mich bei einem Triathlon angemeldet.“

Der Tod schaut mich an. Dann beginnt er lauthals zu lachen.

„Was hast du denn?“, frage ich leicht genervt.

Der Tod verstummt. „Ich dachte, du machst einen Scherz.“

„Warum soll das denn ein Scherz sein?“, will ich wissen.

„Na, beim Triathlon muss man doch auch schwimmen“, stellt der Tod fest.

„Ja, und?“

„Du kannst doch gar nicht schwimmen“, erwidert der Tod.

„Natürlich kann ich schwimmen“, sage ich entrüstet.

Der Tod zieht wieder die linke Augenbraue hoch. „Alter, ich habe dich schon im Wasser gesehen und das, was du da veranstaltest, ist definitiv nicht schwimmen.“

„Wo hast du mich denn schon mal im Wasser gesehen?“, will ich wissen.

„Wenn du im Urlaub ins Meer gehst, bin ich immer in deiner Nähe“, erklärt der Tod.

„Um mir zu helfen, falls ich einen Krampf oder so habe?“, frage ich gerührt.

„Äh, ja, so ungefähr“, antwortet der Tod.

„Triathlon“, sagt er dann. „Da kannste dir auch gleich ein Schild um den Hals hängen. ‚Bin in der Midlife-Crisis!‘“

„Ich bin doch nicht in der Midlife-Crisis“, entgegne ich empört. „Dafür bin ich viel zu jung!“

Der Tod schaut mich wortlos an und schüttelt ganz langsam den Kopf.

„Was denn? Ich bin erst Anfang 40.“

Der Tod schaut mich weiter wortlos an und schüttelt wieder ganz langsam den Kopf.

„Na gut, Anfang/Mitte 40.“

Der Tod schaut immer noch wortlos. „Du wirst dieses Jahr 45“, sagt er schließlich. „Das ist eindeutig Mitte 40. Ohne Anfang oder irgendeine Einschränkung zur Verschleierung der harschen Realität.“ Dann schreibt er unnötigerweise mit seinem dürren Zeigefinger eine 45 in die Luft. „Du wärst wohl weltweit der einzige Mann, der in dem Alter keine Midlife-Crisis hat.“

„Du hast ja eine schlechte Meinung von den Männern“, wende ich ein.

„Alles empirische Erfahrungswerte“, antwortet der Tod. „Weißt du, wie viele Mittvierziger ich schon aus ihrem Porsche geholt habe, weil sie sich mit Tempo 200 um einen Baum gewickelt haben?“ Er nippt an seinem Wasser. „Von den Harley-Fahrern ganz zu schweigen. Da muss ich allerdings meistens erstmal den Kopf und dann den Rest einsammeln.“

„Der Triathlon hat gar nichts mit einer Midlife-Crisis zu tun“, versuche ich das Thema zu wechseln. „Die ich ja auch gar nicht habe“, ergänze ich schnell.

„Selbstverständlich“, sagt der Tod.

„Ich mache das auch nicht alleine“, erkläre ich.

„Wer ist denn die bedauernswerte Person, die dir beim ‚Schwimmen‘ zuschauen muss?“ fragt er und setzt beim Wort Schwimmen mit seinen Zeige- und Mittelfingern mehrere Anführungszeichen in die Luft.

Andrea Harmonika“, antworte ich. „Die weltbeste Bloggerin und Autorin aller Zeiten.“

„Na hoffentlich hat die einen Freischwimmer“, sagt der Tod. „Aber warum muss es denn überhaupt ein Triathlon sein?“

„Einfach so“, erwidere ich. „Ist doch spannend sich herauszufordern und etwas zu tun, was man noch nie getan hat.“

„Dann könntest du auch Bungee-Jumping machen. Oder Fallschirmspringen“, sagt der Tod. „Wäre für dich auf jeden Fall weniger gefährlich, als 400 Meter in einem See zu ‚schwimmen‘.“ Erneut setzt er Anführungszeichen in die Luft.


Bevor ich etwas entgegnen kann, trinkt der Tod sein Wasser aus und steht auf. „Ich muss leider los.“

„Noch arbeiten?“, frage ich ihn.

„Ja. Herr Dankelmeier aus der Bremer Straße“, antwortet der Tod. „Der sollte dir ein mahnendes Beispiel sein.“

„Wieso?“, will ich wissen.

„Der will auch gesünder leben. Hat 50 Kilo Übergewicht und sich einen Home-Trainer gekauft. Von dem fällt er gleich tot runter. Herzinfarkt.“

„Ich hab‘ doch keine 50 Kilo Übergewicht“, protestiere ich.

„Ja, ja, ich will es doch nur mal gesagt haben“, beschwichtigt mich der Tod. „Schließlich möchte ich nicht für deinen Tod verantwortlich sein.“

Zum Abschied nimmt er mich in den Arm. „Bis bald.“

An der Tür dreht er sich nochmal um. „Ach, tu mir doch bitte einen Gefallen und sag‘ mir immer Bescheid, wenn du zum Schwimmtraining gehst.“

„Ok?“, sage ich fragend.

„Dann halte ich mir da immer frei“, erklärt der Tod.

„Ach, du kommst mit mir schwimmen?“, freue ich mich.

„Äh, ja, so ungefähr“, antwortet der Tod und geht die Treppe runter. Dabei pfeift er „Pack‘ die Badehose ein“.


65 Kommentare zu “Gespräche mit dem Tod (16): Der gute Jahresplan

  1. 🤣 🤣 🤣 Der beste Start in eine neue Woche, hab mich eben scheckig gelacht! Das Haus dürfte jetzt dann auch wach sein. 🤣 🤣 🤣

Erwähnungen

  • Es ist Sonntagabend, kurz vor 20 Uhr. Ich sitze in der Küche und lese am Laptop die neuesten Corona-Berichte. Als ich gerade feststelle, dass es eigentlich gar nicht so viel Neues zu lesen gibt, klingelt es. Ich öffne die Tür und vor mit steht eine hagere Gestalt in modriger Kutte: Mein Freund, der Tod.

    „Mensch, schön dich zu sehen“, rufe ich und will einen Schritt auf ihn zugehen, um ihn zur Begrüßung zu umarmen, aber der Tod hält mich mit seiner Sense auf Abstand.

    „1,50 Meter Abstand!“, schreit der Tod. Seine Stimme überschlägt sich.

    „Sorry“, entschuldige ich mich. „Willst du trotzdem reinkommen?“

    „Ja, aber wir dürfen uns nicht zu nahe kommen“, antwortet der Tod. „Ich kann es mir gerade nicht leisten, krank zu werden.“

    Wir gehen in die Küche, wo ich die Bänke auseinanderschiebe. Der Tod holt ein Desinfektionsspray aus seiner Kutte. Nachdem er alle Flächen penibel abgewaschen hat, setzen wir uns.

    Der Tod sieht geschafft aus. Sein eingefallenes Gesicht ist noch eingefallener, seine fahle Haut noch fahler und seine Kutte schlackert noch mehr an seinem abgemagerten Körper als sonst.

    „Wie geht es dir?“, frage ich mitfühlend.

    „Ich bin total gestresst“, erwidert der Tod. „Arbeit, Arbeit, Arbeit.“

    „Wegen Corona?“, will ich wissen.

    „Nein, weil Winterschlussverkauf ist“, patzt der Tod mich an. „Natürlich wegen Corona! Was ist das denn für eine Frage?“

    Der Tod scheint wirklich überarbeitet zu sein. So gereizt ist er normalerweise nicht.

    „Ich muss sogar ab und an in Italien und Spanien aushelfen, weil Morte und Muerte nicht mehr hinterherkommen“, fährt er fort.

    „Die Armen“, erwidere ich mitfühlend. „Zum Glück sind es in Deutschland ja noch nicht so viele Corona-Tote.“

    „Wie, ‚zum Glück‘?“ Der Tod schaut mich herausfordernd an. „Bisher sind rund 1.500 Corona-Infizierte gestorben. Das sind für dich ‚nicht so viele‘?“

    „Nein, so habe ich das doch nicht gemeint“, erkläre ich schnell. „Aber im Vergleich zu Italien, Spanien oder den USA sind es halt viel weniger.“

    „Das ist dann toll, oder was?“, fragt der Tod. „Weil es woanders mehr als „nur“ 1.500 Corona-Tote gibt? Und die alle abzuholen ist für dich keine Arbeit?“

    „Doch, natürlich“, erwidere ich entschuldigend.

    „Ich habe ja nicht einmal richtige Schutzkleidung“, beschwert sich der Tod.

    „Wozu brauchst du denn Schutzkleidung?“, rutscht es mir heraus und der zornige Blick des Tods lässt mich erahnen, dass ich das besser nicht gefragt hätte.

    „Wieso soll ich keine Schutzkleidung brauchen, wenn ich Tote abhole, die hoch infektiös sind?“, fragt der Tod.

    „Ich dachte nur, weil du doch der Tod bist“, verteidige ich mich zaghaft.

    „Und deswegen soll ich mich ruhig anstecken und krank werden?“ fragt der Tod. „Nur weil ich der Tod bin? Sagst du das den Ärztinnen und Ärzten auch? ‚Ihr braucht doch keine Schutzkleidung, ihr könnt euch doch wieder gesund machen.‘“ Der Kopf schüttelt fassungslos den Kopf.

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    „Willst du vielleicht etwas trinken?“, versuche ich den Tod zu besänftigen.

    Er nickt. „Aber komm mir nicht mit Wasser und Zitronenscheibe wie beim letzten Mal. Ich will Gin Tonic. Mit gutem Gin. Und gutem Tonic. Nicht so eine Plörre aus der Plastikflasche.“

    „Dein Wunsch ist mir Befehl“, erwidere ich und mixe zwei Gin Tonic.

    „Ich dachte, du trinkst nichts?“, stellt der Tod mit Blick auf das zweite Glas fragend fest. „Wegen deiner Triathlon-Vorbereitung.“ Bei dem Wort Vorbereitung macht er unpassenderweise mit seinen Mittel- und Zeigefingern ein paar Anführungszeichen in der Luft.

    „Der Triathlon fällt aus“, erkläre ich. „Die Schwimmhallen haben auch alle geschlossen.“

    „Dann hat das Corona-Virus für uns beide ja sogar was Gutes“, sagt der Tod. „Du musst nicht trainieren“ – schon wieder macht er Anführungszeichen in der Luft – „und ich muss keinen Bereitschaftsdienst machen, wenn du schwimmst.“ Erneut fummelt der Tod mit seinen Fingern in der Luft rum.

    Ich antworte nicht, sondern proste ihm einfach zu.

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    Von draußen ist von irgendwoher ein Klatschen zu hören.

    „Ach, du meine Güte!“, stöhnt der Tod. „Wird hier immer noch jeden Abend für irgendeine systemrelevante Berufsgruppe geklatscht?“

    „Das ist doch nett“, entgegne ich.

    „Jaja“, knurrt der Tod. „Nett ist der kleine Bruder von Scheiße.“

    „Die Leute wollen halt den Menschen, die – wie Frau Merkel gesagt hat – „den Laden zusammenhalten“, einfach Respekt zollen“, erwidere ich. „Das sind doch die Helden des Alltags.“

    „Alter, diese Menschen haben schon immer den Laden zusammengehalten und nicht erst seit drei Wochen“, ruft der Tod.

    „Aber das ist doch trotzdem eine schöne Geste“, erkläre ich.

    „Pah!“, ruft der Tod. „Eine schöne Geste wäre es, wenn diese systemrelevanten Berufe ordentlich entlohnt würden. Oder soll die Kassiererin ihre Miete zum nächsten Ersten mit Klatschen bezahlen? Auch schön wäre es, wenn die ganzen Systemrelevanten nicht Arbeitsbedingungen hätten, die sie geradewegs in den Burn-Out treiben.“

    „Aber da hat man ja nicht wirklich Einfluss drauf“, werfe ich ein.

    „In der Zeit, in der alle klatschen, könnten sie ja mal eine Mail an ihren Bundestagsabgeordneten schreiben, in dem sie sich für bessere Bezahlung und Arbeitsbedingungen einsetzen. Oder eine Petition dazu unterzeichnen.“

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    Der Tod hält mir sein leeres Glas hin und ich mixe uns einen neuen Drink.

    „Welchen Beitrag leistest du eigentlich in der Corona-Epidemie?“, will der Tod von mir wissen. „Die Systemrelevanz deines Berufs ist ja eher gering.“

    „Ich bleibe zu Hause“, erkläre ich und in meiner Stimme schwingt mehr Stolz mit, als es angemessen ist.

    Der Tod steht auf, fängt an zu klatschen und ruft: „Ein Hoch auf Christian, unseren Alltagshelden, der zu Hause bleibt.“

    Ich verdrehe die Augen. „Indem ich nicht raus gehe, verringere ich das Risiko mich selbst und andere anzustecken. Du weißt schon #flattenthecurve“, doziere ich etwas altklug.

    „Hast du einen Abschluss in Virologie an der Hab-ich-mal-im-Internet-gelesen Universität erworben oder warum machst du hier einen auf Dr. Drosten für die geistig Armen?“, fragt der Tod höhnisch.

    „Ich wollte nur sagen, dass ich im Rahmen meiner Möglichkeiten dazu beitrage, dass die Krankenhausversorgung nicht zusammenbricht“, verteidige ich mich. „Ich rette quasi Menschenleben vom Sofa aus!“ Ich lache, aber der Tod stimmt nicht ein.

    „Alter!“ Der Tod schüttelt den Kopf. „Du sitzt in einer 125-Quadratmeter-Wohnung, euer Kühlschrank ist gefüllt, eure Einkommen sind krisensicher, das W-LAN ist stabil, ihr habt drei Streaming-Dienste und du willst dich hier als Lebensretter feiern lassen?“

    „So stabil ist das W-LAN gar nicht“, erwidere ich kleinlaut.

    „Thoughts and prayer!“, spottet der Tod.

    ###

    „Ganz so einfach, wie es sich anhört, ist dieses #wirbleibenzuhause gar nicht“, werfe ich ein.

    Der Tod schaut mich fragend an.

    „Ich sage nur ‚Home Schooling‘!“

    „Was musst du da denn alles machen“, fragt der Tod.

    „Wenn du wüsstest, wie viele Arbeitsblätter ich täglich ausdrucken muss“, sage ich und werfe meine Hände theatralisch in die Luft.

    „Aha“, sagt der Tod. „Welche Aufgaben hast du denn noch als Home Teacher? Also, wenn du dich von dem anstrengenden Blätterausdrucken erholt hast.“

    „Ich stehe für Fragen zur Verfügung“, erkläre ich.

    Der Tod hebt skeptisch die linke Augenbraue.

    „Ich habe auch vor Corona nicht ständig die Hausaufgaben der Kinder kontrolliert“, erkläre ich. „Da halte ich es mit Professor Dumbledore: ‚In Hogwarts wird jedem Hilfe zuteil, der danach fragt.‘.“

    „Und fragen sie?“

    „Manchmal.“

    „Und hilfst du ihnen dann?“

    „Manchmal.“

    „Warum nur manchmal?“, will der Tod wissen.

    „Ich kann ja nicht ahnen, dass sie mich nach griechischer Mythologie oder Integralrechnung fragen!“

    „Wenigstens lernen deine Kinder, wie richtig gegoogelt wird“, stellt der Tod fest.

    ###

    Wir nippen an unseren Gläsern.

    „Den ganzen Tag in der Wohnung zu sein und keine persönlichen Begegnungen zu haben, ist auch nicht schön“, erkläre ich dem Tod.

    „Hä?“, fragt der Tod. „Du arbeitest doch sonst auch im Home Office und dein einziger sozialer Kontakt den du da hast, ist der DHL-Bote, wenn er die Pakete für die Nachbarn bei dir abgibt.“

    „Ja, aber früher haben wir immerhin ein kleines Schwätzchen gehalten“, antworte ich. „Jetzt ist unsere Begegnung eher wie ein Agentenaustausch auf der Glienicker Brücke. Er stellt die Päckchen auf die Zwischentreppe und ich darf sie erst holen, wenn er wieder unten ist. Und dann ist er schon wieder weg.“

    „Wenn dir nach sozialen Kontakten ist, dann arbeite doch als Aushilfe im Supermarkt und lass dich an der Kasse von den Kundinnen und Kunden anhusten“, schlägt der Tod vor. „Da hast du dann deine sozialen Kontakte. Und wenn du dich ansteckst, gibt es noch viel mehr persönliche Begegnungen. Mit dem Personal auf der Intensivstation.“

    ###

    „Ich gehe doch sowieso schon in den Supermarkt“, erkläre ich. „Mit ihrem Herzfehler gehört meine Frau zur Risikogruppe. Deswegen übernehme ich bei uns das Einkaufen komplett.“

    Der Tod steht wieder auf und klatscht. „Noch ein Hoch auf unseren Alltagshelden Christian, der für die Familie einkaufen geht!“

    „Immerhin setze ich mich damit der Gefahr aus, mich mit einem potenziell tödlichen Virus zu infizieren“, erkläre ich.

    „Aha, du bist also im Supermarkt quasi auf James-Bond-Mission“, spottet der Tod. „Freue mich schon auf die Verfilmung: ‚Virengrüße von der Kühltheke.‘ Oder ‚Nies an einem anderen Tag‘“

    „Mach dich nur lustig“, sage ich. „Einkaufen ist ganz schön kompliziert.“

    „Warum?“, fragt der Tod. „Überfordert dich das? Sachen in einen Einkaufswagen zu legen?“

    „Ich muss in mindestens drei verschiedene Läden gehen und bekomme trotzdem nicht alles“, beklage ich mich.

    „Wegen der Hamsterkäufe?“, fragt der Tod.

    „Genau“, antworte ich. „Mehl und Hefe sind immer aus und Klopapier gibt es auch fast nie.“

    „Warum brauchen die Leute überhaupt Klopapier, wenn sie die ganze Zeit Mehlspeisen futtern?“, wundert sich der Tod. „Das stopft doch.“

    „Vielleicht verwechseln die ja das Corona- mit dem Noro-Virus“, überlege ich.

    „Außerdem nervt es voll, dass die meisten Leute zu doof sind, den Sicherheitsabstand von anderthalb Metern einzuhalten“ fahre ich fort.

    „Bei dem, was Männer für 20 Zentimeter halten, wundert es mich nicht, dass die 1,50 Meter nicht richtig abschätzen können“, sagt der Tod.

    „Ich nehme wenigstens meine Social-Distancing-Verantwortung wahr und mache immer lauter Umwege zwischen den Regalen, um niemandem zu nahe zu kommen“, erkläre ich.

    Der Tod steht auf.

    „Du musst nicht schon wieder klatschen“, sage ich genervt.

    „Will ich doch gar nicht“, erklärt der Tod. „Ich muss mal.“

    Als er fünf Minuten später zurückkommt, hält er ein Blatt Toilettenpapier in der Hand. „Das ist ja fünflagig!“, ruft er begeistert. Dann schnuppert er daran. „Und riecht nach Kamille! Seid ihr unter die Adligen gegangen?“

    „Das war das einzige, das ich noch bekommen habe“, erkläre ich. „Und bring das Blatt gefälligst zurück. Ist unsere letzte Rolle, die da hängt.“

    „Keine Panik“, beruhigt mich der Tod. „So lange der Duschschlauch bis zur Toilette reicht, ist alles paletti.“

    ###

    Der Tod setzt sich wieder hin.

    „Wer auch nervt, sind die Leute, die mit Maske einkaufen gehen, die ihnen am Kinn hängt, damit sie besser telefonieren können“, beschwere ich mich. „Oder sie tragen Handschuhe, mit denen sie sich erst im Gesicht rumtatschen und dann das Gemüse anfassen. Da können sie es auch gleich ablecken.“

    „Jetzt spiel dich hier mal nicht als Hygiene-Role-Model auf“, ermahnt mich der Tod.

    „Was denn?“, erwidere ich.

    „Wer ohne Viren ist, huste in seine Hand“, erklärt der Tod.

    „Mach ich doch gar nicht“, verteidige ich mich. „Ich huste immer schön in die Ellenbeuge.“

    „Vorhin hast du mit dem Ellenbogen die Kühlschranktür zugemacht“, erklärt der Tod. „Da hättest du sie doch auch gleich ablecken können.“

    „Dafür wasche ich mir immer gründlich die Hände“, erkläre ich trotzig.

    „Na, ich hoffe mal, dass du dir auch vor Corona die Pfoten gewaschen hast“, erwidert der Tod.

    „Klar, aber nicht so oft und nicht so lang“, erkläre ich. „Meine Hände sind schon ganz rau und wund.“ Ich halte dem Tod meine trockenen und geröteten Knöchel hin.

    „Mensch, du Ärmster“, bemitleidet mich der Tod. „Erzähle ich bei meinem nächsten Besuch im Krankenhaus dem Personal dort. Dann wissen die wenigstens, wer es wirklich schwer hat.“

    „Ich will doch nur sagen, dass diese Flatten-the-curve-Strategie nicht funktionieren kann, wenn sich die Leute nicht an die einfachsten Empfehlungen halten“, erkläre ich.

    „Schreib doch einen Tweet darüber, wie dumm alle sind“, schlägt der Tod vor. „Dann kannst du dir mit deiner Bubble gegenseitig beipflichten, wie klug und perfekt ihr alle seid.“

    „Das wäre ja total peinlich“, wehre ich ab. „Es reicht schon, dass sich Menschen auf Twitter damit brüsten, dass sie die Polizei gerufen haben, weil ein Auto mit fremdem Kennzeichen beim Nachbarn stand.“

    „Das überrascht dich?“, fragt der Tod.

    „Das ist doch voll das Denunziantentum“, empöre ich mich.

    „Wie naiv kann man denn sein, sich darüber zu wundern“, fragt der Tod rhetorisch. „So vehement wie die Leute nach Kontaktsperren und Isolation gerufen haben. Und den Söder hätten sie am liebsten zum bayerischen König gekrönt, weil der „so richtig durchgreift“. Da ist es doch klar, dass es Menschen gibt, die dann auch wollen, dass der Staat das durchsetzt.“

    „Aber deswegen müssen die doch nicht den Notruf wählen!“, ereifere ich mich.

    „Vielleicht brauchen die ja mal Abwechslung vom Balkonklatschen“, lacht der Tod.

    ###

    „Weißt du, wie du dich mal wirklich nützlich machen kannst?“, fragt der Tod dann.

    „Wie denn?“, frage ich zurück.

    „Deine Frau und du, ihr habt doch beide ein gesichertes Einkommen“, erklärt der Tod. „Dann könnt ihr die lokale Wirtschaft unterstützen. Die geht sonst den Bach runter und wenn der ganze Spuk vorbei ist, dann ist hier schön tote Hose im Kiez.“

    „Aber wir sollen ja nicht rausgehen“, gebe ich zu Bedenken.

    „Na und“, erwidert der Tod. „Lasst euch doch Essen liefern.“

    „Um ehrlich zu sein, möchte ich in einer Zeit, in der ein höchstansteckendes Virus grassiert, nur ungern von irgendwo Essen bestellen.“

    „Dann kauf halt Gutscheine“, erklärt der Tod leicht genervt. Er nimmt meinen Laptop und tippt etwas ein.

    „Hier!“, ruft er freudestrahlend. „Da kannst du sogar einen Gutschein von dem Döner-Laden um die Ecke kaufen.“ Während er spricht, tippt er weiter. „Die freuen sich bestimmt über deine 50 Euro.“

    „Äh, hast du jetzt einfach mit meinem Geld einen 50-Euro-Gutschein gekauft?“, frage ich ungläubig.

    „Gern geschehen“, erwidert der Tod. „Gibt ein paar Karma-Punkte. Falls das in den Ellenbogen niesen und auf der Couch sitzen nicht reicht.“

    ###

    Der Tod schaut auf die Uhr. „Oh, ich muss los, sonst komme ich zu spät!“

    „Weitere Corona-Tote?“, will ich wissen.

    „Nee, Rüdiger Nehberg hat mich zum Essen eingeladen, als ich ihn am Mittwoch abgeholt habe“, erklärt der Tod.

    „Na dann, viel Spaß“, sage ich.

    „Weiß nicht“, sagt der Tod. „Wahrscheinlich gibt es da nur so komisches Zeug. Gebratene Heuschrecken und eingelegte Känguruhoden.“ Er überlegt kurz. „Druck mir mal den Döner-Gutschein aus. Schadet vielleicht nichts, wenn ich vorher schon einen Happen zu mir nehme.“

    Nachdem ich dem Tod den Gutschein ausgehändigt habe, verabschieden wir uns herzlich, aber ohne Umarmung. Der Tod geht die Treppe runter und pfeift dabei „Heroes“ von David Bowie.


    Christian Hanne

    Christian Hanne, Jahrgang 1975, hat als Kind zu viel Ephraim Kishon gelesen und zu viel „Nackte Kanone“ geschaut. Inzwischen lebt er mit seiner Frau und seinen beiden Kindern in Berlin-Moabit. Kulinarisch pflegt er eine obsessive Leidenschaft für Käsekuchen. Sogar mit Rosinen. Ansonsten ist er mental einigermaßen stabil. Im März ist sein aktuelles Buch „Hilfe, ich werde Papa! Überlebenstipps für werdende Väter“ erschienen. Ebenfalls mehr als zu empfehlen sind „Ein Vater greift zur Flasche. Sagenhaftes aus der Elternzeit“ sowie „Wenn’s ein Junge wird, nennen wir ihn Judith“*. (*Affiliate-Links)

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  • Sylvia sagt:

    Ich liebe die Gespräche mit dem Tod.


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