Irisches Tagebuch, 04. Juni | Etappe 1 – Von Camp nach Annascaul

Wir waren wandern. In Irland. Hier gibt es den Bericht. Nicht live, aber dafür in Farbe und HD. Falls Ihnen Ihre Lebenszeit nichts wert ist und Sie alle Beiträge der Irischen Tagebücher lesen möchten, werden Sie hier fündig.


Wache um 5 Uhr auf. In Deutschland ist es jetzt 6. Um diese Zeit klingelt immer mein Wecker. Auch im Urlaub bin ich ein gut konditionierter Lohnabhängiger des Kapitalismus.

Draußen gurren ein paar Tauben. Sehr ausdauernd, sehr laut und sehr penetrant. Wie in Berlin. Nur ohne Straßenlärm.

Liege zwei Stunden wach, kurz nach 7 schlafe ich ein. Eine Viertelstunde später reißt mich der Handywecker aus dem Tiefschlaf. Ich fühle mich wieder wie gerädert und weiß immer noch nicht, was das bedeutet.

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Frühstück. Für unsere Wanderung müssten wir uns ordentlich stärken, meint unsere B+B-Landlady Sorcha. Sie schlägt ein Full Irish Breakfast vor. Ich bin zwar noch satt vom gestrigen Abendessen, willige aber trotzdem ein. Erstens will ich nicht widersprechen und zweitens möchte ich später nicht irgendwo auf dem Wanderweg zusammenklappen, weil ich mich der morgendlichen Nahrungsaufnahme verweigert habe.

Der kleine Frühstücksraum ist hell eingerichtet und bietet Platz für vier Tische. Außer uns frühstücken noch zwei irische Frauen aus Dublin. Sie sind ungefähr unser Alter. Vielleicht auch nicht. Ich verschätze mich bei so etwas häufig. Die beiden denken wahrscheinlich: „Außer uns sitzt eine deutsche Familie im Frühstücksraum. Die beiden Eltern sind ungefähr fünf bis zehn Jahre älter als wir. Eher fünfzehn.“

Die beiden erzählen, sie seien gestern von Tralee nach Camp gewandert. Die Strecke sei sehr beschwerlich gewesen. („Beautiful weather, stunning view, but the way was horrible.”) Wegen des gerölligen Untergrunds und weil sie am Vorabend im Pub waren und einen Kater hatten.

In Camp gab es wegen einer Hochzeit im ganzen Ort keine freie Unterkunft. Colm, Sorchas Ehemann, hat sie dort abgeholt und sie verbrachten eine weitere Nacht in Tralee.

Ich stelle mir das frustrierend vor: Du wanderst den ganzen Tag unter erschwerten Bedingungen und dann wirst du mit dem Auto in einer knappen Viertelstunde zu deinem Ausgangspunkt zurückgefahren.

Unser Frühstück kommt. Verstohlen mache ich ein Foto, so dass es die beiden Frauen hoffentlich nicht mitbekommen. Damit sie mich nicht für einen Influencer halten. Oder einen doofen Touri.

Das Full Irish besteht aus einer dekorativen halben Tomate, einem Spiegelei, zwei Scheiben Schinken, zwei Würstchen, einer Scheibe Black Pudding, die im weitesten Sinne als eine Art Blutwurst gelten kann, sowie eine Scheibe White Pudding, die geschmacklich an grobe Leberwurst erinnert. Zuhause esse ich nur sehr wenig Fleisch. Wenn es hochkommt, einmal die Woche. Nach anderthalb Tagen Irland habe ich bereits einen halben Bauernhof verspeist.

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Unsere erste Wanderung geht über rund 17 Kilometer von Camp nach Annascaul mit 400 zu bewältigenden Höhenmetern. Ob das viele Höhenmeter sind, weiß ich nicht. Bei einem 90 Grad Winkel wahrscheinlich schon. Die Strecke geht hauptsächlich über kleinere, wenig benutzte Straßen sowie einige grasbewachsene Wege und Pfade. Einige Abschnitte könnten nass und matschig sein, insbesondere nach längeren Regenperioden. Das ist aber nicht der Fall, wie uns von Sorcha mitgeteilt wurde.

Colm bringt uns mit dem Auto nach Camp. Er ist schätzungsweise Anfang 70, mit weißem Haar und einem kurzen ebenfalls weißen Bart. Seine Finger sind von Gicht so stark gekrümmt, dass ich mich frage, wie er überhaupt das Lenkrad und den Schaltknüppel greifen kann.

Sein irischer Akzent ist stärker als der seiner Frau. Aber er bemüht sich, langsam zu sprechen, so dass ich ihn trotzdem gut verstehe. Glaube ich zumindest. Vielleicht redet er auch über etwas vollkommen anderes, als ich denke.

Sie hätten ihr Haus von Anfang an als B+B geplant, erzählt Colm. Als sie 2005 die ersten Gäste empfingen, hätte er das Haus auf der Rückseite noch fertig gebaut. Bisher hätten sie noch nie schlechte Erfahrungen mit ihren Gästen gehabt. Das wären immer sehr nette und interessante Menschen gewesen. Ich hoffe, das schließt uns ein, obwohl mir nichts Interessantes einfällt, was ich sagen könnte.

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In Camp lässt Colm uns hinter einer Tankstelle raus. Nun beginnt der Wander-Teil unseres Urlaubs. Bisher sind wir ja hauptsächlich gereist und haben noch mehr gegessen.

Zunächst müssen wir einen kleinen Anstieg hinauf. Damit uns gleich klar ist, dass Wandern nichts für Weicheier ist. Nach einem Kilometer kommt eine Abzweigung. Auf einem Wegweiser ist ein kleiner gelber Wanderer abgebildet, die Markierung für den Dingle Way. Er sieht aus als sei er mit dem Ampelmann in Deutschland verwandt. Die Tochter tauft das Männchen Dingle Dude. Er sagt, wir müssten nach rechts gehen.

In unserer Streckenbeschreibung heißt es: „You are now on the Dingle Way.“ Klingt wie eine Quest in einem Computerspiel. Wir müssen aber keine Aufgabe lösen, sondern einfach geradeaus laufen.

Zwei Kilometer später biegen wir links ab und folgen einem Pfad entlang einer Hügelkette. Die Landschaft sieht aus, als hätte das örtliche Fremdenverkehrsamt sie für ein Fotoshooting aufgestellt. Hügel, Berge, Wiesen, Weiden. Alles in 50 Shades of Green. Dunkelgrün, hellgrün, tiefgrün, zartgrün, kräftig grün, leuchtend grün, schwarzgrün, braungrün, violettgrün, blaugrün, türkisgrün, pastellgrün, orangegrün, gelbgrün, saftig grün, trocken grün, grasgrün, piniengrün, moosgrün, olivgrün, pistaziengrün, pfefferminzgrün, billiardtischgrün, opalgrün, jadegrün, smaragdgrün. Grün, grün, grün, so weit das Auge reicht.

An einer Bank hängt ein blauer Postkasten, auf dem in gelber Schrift „Stamping Station“ steht. Das wahrscheinlich kleinste Postamt der Welt.

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Der steinige Weg geht mitten durch eine Weidelandschaft. Links und rechts von uns tummeln sich Schafe. Viele Schafe. Alle haben schwarze Gesichter und Beine. So wie bei Shaun, das Schaf.

Ich behalte die Schafe im Auge. Falls sie sich an unserer Anwesenheit stören und uns attackieren. Aber wahrscheinlich haben sie mehr Angst vor uns als wir vor ihnen. Noch wahrscheinlicher sind wir ihnen egal.

Auf der Weide grasen auch ein paar Kühe. In der Ferne steht eine Kuh quer auf dem Weg steht und blockiert ihn. So eine Kuh ist eine andere Nummer als ein Schaf. Wesentlich größer und schwerer. Die schiebst du nicht einfach zur Seite. Eher umgekehrt, falls wir ihr nicht passen.

Käme es zu einer Auseinandersetzung mit der Kuh, hätte ich den Vorteil, dass ich schneller bin als meine Frau und die Tochter. Ich wäre nicht das erste Kuh-Opfer. Gleichzeitig habe ich den Nachteil, dass soziale Konventionen von mir verlangen, dass ich Frau und Kind mit meinem Leben gegen jede Gefahr verteidigen muss. Notfalls auch gegen ein streitsüchtiges Rind.

Noch fünfzehn Meter bis zur Kuh. Sie schaut mich an, ich schaue sie an. Gerade als ich denke, ich müsste mit ihr diskutieren, wer von uns Platz macht – im Zweifel wir –, bewegt sie sich zur Seite und geht auf die Weide. Ganz, ganz langsam. Damit wir nicht denken, sie hätte nachgegeben. Wir sind schlicht nicht satisfaktionsfähig für sie.

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Elfeinhalb Kilometer. Wir kommen zu einer Weggabelung. Rechts weist uns Dingle Dude die Richtung zum Dingle Way, links geht es zum Inch Strand. Trotz des Umweges von insgesamt knapp drei Kilometern entscheiden wir uns für den Strand. Für eine kleine Rast sicherlich nicht die schlechteste Location. „See you later“, verabschiedet sich Dingle Dude von uns.

In einem kleinen Strand-Café kaufen wir Sandwiches. Sieben Euro das Stück. (Die Sandwiches vom Dubliner Flughafen nicken anerkennend.) Wir essen sie auf der Terrasse im strahlenden Sonnenschein. Die Sandwiches sind durchaus lecker, wenn auch nicht Sieben-Euro-lecker.

Ein junger Mann am Nachbartisch trägt einen regenbogenfarbenen Sonnenschirm-Hut. Ob er wohl eine Wette verloren hat? Oder ist er heute Morgen aufgestanden und dachte: „Heute ziehe ich meinen Regenbogen-Sonnenschirm-Hut auf und mache ein paar Ladies klar.”? Da er allein am Tisch sitzt, ist sein Plan wohl noch nicht aufgegangen.

Am Meer halten wir die Füße kurz ins Wasser und entscheiden, dass es zu kalt ist, um ganz reinzugehen. Außerdem habe ich keine Badehose dabei. Ich möchte nicht hüllenlos in die Wellen springen und damit den anderen Badegästen ihren Strandbesuch an diesem wunderbaren Tag verleiden. Und mir auch nicht.

Ich liege mit geschlossenen Augen auf dem Sand und dämmere langsam weg, während ich den Geräuschen am Strand lausche. Rauschendes Meer, brechende Wellen, juchzende Menschen, kreischende Kinder, schimpfende Eltern, weinende Kinder, bellende Hunde. Einer der Hunde kommt aus dem Wasser, stellt sich neben mich und schüttelt sein Fell trocken. Mein Dösen endet etwas abrupt, aber durchaus erfrischend.


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