Irisches Tagebuch, 06. Juni | Etappe 3 – Von Dingle nach Dunquin

Wir waren wandern. In Irland. Hier gibt es den Bericht. Nicht live, aber dafür in Farbe und HD. Falls Ihnen Ihre Lebenszeit nichts wert ist und Sie alle Beiträge der Irischen Tagebücher lesen möchten, werden Sie hier fündig.


Heute Morgen konfrontieren meine Frau und die Tochter mich mit schweren Anschuldigungen: Ich hätte heute Nacht geschnarcht. Das kann nicht stimmen, denn ich schnarche nie. Aufgrund der vielen Burger der letzten Tage kann es allenfalls sein, dass ich im Schlaf geringfügig lauter geatmet habe. Egal, ohne audiovisuellen Beweis weise ich diese infame Unterstellung entschieden zurück. Und ohne Anwalt werde ich mich nicht weiter äußern. Ich habe alle Folgen Boston Legal geschaut, da weiß ich, wie ich mich in solchen kniffligen Situationen juristisch schadlos halte.

Ich glaube, meine Frau und die Tochter sind einfach schlecht gelaunt. Die mehr als 40 Kilometer Wanderung der letzten beiden Tage haben ihre Spuren hinterlassen. Meine Frau klagt über zwickende Waden, die Tochter hat zwei Blasen an den Füßen. Ich spüre lediglich meine Hüftknochen etwas stärker als gewöhnlich. Richtig schlimm ist es nicht, ich betone es aber trotzdem. Damit ich nahbarer und Teil der Gruppe bin. Insbesondere nach den Schnarch-Anschuldigungen. (Den unbewiesenen Schnarch-Anschuldigungen, wie ich betonen möchte.)

Eileen Brosnan, unsere B+B-Landlady, begrüßt uns im Frühstücksraum. Eileen ist eine fröhliche Mittdreißigerin mit blonden, halblangen Haaren. Sie entschuldigt sich, dass sie uns gestern nicht persönlich willkommen heißen konnte, aber ihre Töchter hätten ein Football-Spiel gehabt. (Das heißt, sie haben wahrscheinlich Gaelic Football gespielt, diese Mischung aus Fußball, Handball und Rugby, die in Irland mindestens genauso populär wie ungälischer Football ist.) Dann freut sich Eileen für uns, dass wir so viel Glück mit dem guten Wetter haben. (Wetter-Konversation: check!)

Eigentlich möchte ich sie fragen, ob sie mit Pierce Brosnan verwandt ist. Ich traue mich aber nicht, weil das bestimmt alle wissen wollen. Somit bleibt die mögliche verwandtschaftliche Beziehung unserer B+B-Hosts mit James Bond ein Geheimnis.

Ich starte das Frühstück mit O-Saft und Müsli. Bei der fleischhaltigen Ernährung der letzten Tage freut sich mein Körper bestimmt über ein paar verdauungsfördernde Ballaststoffe. Anschließend genehmige ich mir Crêpes mit Ahornsirup, denn gegen ein paar kraftspendende Kohlenhydrate für die heutige Wanderung hat mein Körper sicherlich auch nichts einzuwenden.

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Bevor wir loswandern, wollen wir uns im Supermarkt mit Proviant eindecken. Auf dem Weg schreibe ich dem Sohn eine WA-Nachricht und erkundige mich nach seinem Wohlergehen. Er reagiert nicht. Ich werte das als Zeichen, dass er in der Schule ist und nicht, dass er noch im Bett liegt und schläft.

Die Angestellten im Supermarkt tragen alle dunkelblaue Westen. Auf ihrem Rücken steht: „Have a question? Just ask!“ Vielleicht kann ich einen von ihnen fragen, ob die B+B-Brosnans mit 007 verwandt sind.

Wir kaufen Sandwiches, Rosinenbrötchen und Chips beziehungsweise Crisps. Damit die Kassiererin nicht denkt, wir stopfen uns nur mit minderwertigen Kohlenhydraten voll, nehmen wir ein paar Alibi-Äpfel mit.

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Unser heutiges Etappenziel ist Dunquin. Bis dorthin sind es 22 Kilometer mit 550 zu absolvierenden Höhenmetern. Die Strecke verläuft ein gutes Stück am Meer entlang, später gibt es einen Bergpfad, der hoch und runter geht. Erneut weist die Wegbeschreibung unseres Reiseanbieters darauf hin, dass manche Wege ziemlich matschig sein können, vor allem wenn es länger geregnet hat. Die Gefahr ist aber weiterhin sehr gering, denn wir haben strahlenden Sonnenschein und 22 Grad.

Zunächst laufen wir durch Dingle. Vorbei an einer Statue für Fungi, den Delfin, am Aquarium, an einem Golfplatz, der ein Crazy-Golf- und ein Soccer-Golf-Angebot bewirbt, und an der Dingle Whiskey Distillery. Somit haben wir die größten touristischen Attraktionen des Ortes alle gesehen. Zumindest von außen.

Circa drei Kilometer hinter der Distillery gelangen wir wieder auf den Dingle Way. Dingle Dude grüßt uns mit einem gut gelaunten: „Good luck today, mates.“

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Wir passieren eine Kuhweide. Die Kühe sind mit Verdauen und Ausscheiden beschäftigt. Eine Kuh seilt einen Fladen ab, eine andere pinkelt geräuschvoll. Eine dritte kackt, während ein Kälbchen an ihrem Euter trinkt. Interessanterweise stört das keine der Beteiligten.

Für knapp zwei Kilometer müssen wir nun auf einer Straße laufen. Wir halten uns rechts, damit uns die links fahrenden Autos entgegenkommen. Um sicherzugehen, dass ich auf der richtigen Seite bin, muss ich mir wieder und wieder vorstellen, wie ich im Auto sitzen und mir selbst entgegenfahren würde. Am besten male ich mir einen Fußgänger auf die linke Hand und ein Auto auf die rechte.

Der Verkehr ist nicht besonders stark. (Der Vorteil der dünnen Besiedelung Irlands.) Die Autofahrer*innen bremsen in der Regel kaum ab. Eigentlich so gut wie gar nicht. Dafür machen sie auch nicht richtig viel Platz. Eigentlich so gut wie gar nicht. Dafür heben sie immer höflich die Hand, wenn sie an einem vorbeifahren. Das gefällt mir. Dann ist wenigstens das letzte, was du siehst, ein winkender Ire.

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Fünfeinhalb Kilometer sind rum. An einer Abzweigung begegnen wir einem neuen Wegweiser-Männchen. Beziehungsweise Weibchen. Die Figur trägt ein Gewand und einen langen Stab in der Hand, aus ihrem Hinterkopf wächst ein Zopf. Sie ist genauso gelb wie Dingle Dude. Vielleicht ist es seine Oma?

500 Meter später will Dingle Granny, dass wir rechts abbiegen. Dingle Dude schüttelt energisch den Kopf und zeigt an, wir sollen unbedingt weiter geradeaus gehen. Er wirkt hektisch. Möglicherweise ist die Wandersfrau gar nicht seine Oma, sondern die Dingle Witch, die uns zu ihrem Lebkuchenhaus lotsen will.

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Ich denke darüber nach, dass es lustig wäre, in Star-Trek-Uniformen zu wandern und andere Wander*innen mit einem Tricorder abzuscannen. Wenn ich die Gesichtsausdrücke meiner Frau und der Tochter richtig deute, bin ich der Einzige, der das witzig findet. Mein Alternativvorschlag, Storm-Trooper-Rüstungen zu tragen, ruft ebenfalls keine Heiterkeitsausbrüche hervor. Schwieriges Publikum.

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Ventry Beach. Wir haben ungefähr siebeneinhalb Kilometern hinter uns gebracht. Ein guter Zeitpunkt und Platz, um kurz Pause zu machen.

Wir essen am Strand unsere Alibi-Äpfel, die damit keine Alibi-Äpfel mehr sind. Um uns herum staksen Raben durch den Sand. Ungewöhnlich für einen Strand. Vielleicht sind es keine Raben, sondern Goth Möwen.

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Die nächsten zweieinhalb Kilometer gehen wir über den Strand, danach wieder ein kurzes Stück Straße mit winkenden Autofahrer*innen.

Zu unserer rechten taucht ein Freilichtmuseum mit angegliedertem Streichelzoo auf. Mit Ziegen, Schafen, Eseln und einem haarigen Schwein. Hier könnte ich mein Mit-Lämmchen-kuscheln-Bedürfnis befriedigen. Bei sechs Euro Eintritt verzichte ich darauf. So viel ist mir das Mit-Lämmchen-kuscheln doch nicht wert.

Der Weg wird zunehmend steiler. Der Himmel ist wolkenlos und die Sonne scheint fast schon unangenehm heiß. Aus der Reihe „Sätze, von denen ich nicht gedacht hätte, sie über einen Irland-Urlaub zu schreiben“.


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