Wir waren wandern. In Irland. Hier gibt es den Bericht. Nicht live, aber dafür in Farbe und HD. Falls Ihnen Ihre Lebenszeit nichts wert ist und Sie alle Beiträge der Irischen Tagebücher lesen möchten, werden Sie hier fündig.
6 Uhr. Wache durch ein summiges Brummen auf. Oder ein brummiges Summen. Wenigstens eine Stunde später und nicht durch meinen inneren protestantischen Arbeitsethiker. Dafür durch eine Wespe von beachtlicher Größe – und Lautstärke –, die sich in unserem Zimmer verirrt hat.
Die Wespe fliegt am Fenster hin und her, um einen Ausgang zu finden. Kaum dotzt sie 38-mal gegen die Scheibe und schon bemerkt sie, dass der geöffnete Fensterspalt den Weg nach draußen ermöglicht. Genau der Spalt, durch den sie zwei Minuten vorher reingeflogen kam. Wenigstens schafft sie es allein in die Freiheit und ich muss nicht aufstehen, um sie rauszubefördern.
Nun bin ich hellwach. Auf der Nachbarweide sind die Kühe zurück. Sie kauen erstaunlich geräuschvoll. Ich könnte meine Frau wecken und sie darüber informieren, lasse es aber lieber bleiben. Ein paar frühe Vögel, auf der Suche nach dem Wurm, zwitschern lautstark. In der Ferne miaut eine Katze. In die ländliche Tiergeräusch-Idylle mischt sich das sonore Schnarchen aus dem Nachbarzimmer.
Im Internet hatten wir viele geradezu euphorische Berichte über das exzellente Frühstück von Mary gelesen. Die Rezensionen sind nicht übertrieben. Mary hat die Tische liebevoll mit Blue Willow Geschirr, Silberbesteck und schweren Messing-Kaffeekannen eingedeckt, auf unseren Tellern wartet bereits eine halbe Grapefruit, auf der eine Erdbeere drapiert ist.
Für die Tochter gibt es dann Joghurt mit frischen Früchten, für meine Frau Rührei mit Lachs und für mich eine reichhaltige Käseplatte. (Weil es keine Pancakes gibt, was das Frühstückerlebnis nur minimal schmälert.) Dazu reicht Mary selbstgebackenes Brot und frische Scones mit selbstgekochter Marmelade.
Die Scones sind noch warm, außen knusprig und innen so fluffig, dass ich am liebsten mein Gesicht auf ihnen betten würde. Die Anwesenheit der anderen Frühstücksgäste, soziale Konventionen und ein kleines Maß an Restwürde halten mich davon ab.
An der Wand hängt über uns ein überdimensioniertes Jesusbild. Der Gottessohn schaut leidend auf unseren Tisch. Vielleicht weil er nichts von dem vorzüglichen Frühstück abbekommt. Oder – und das ist wahrscheinlicher –, weil ich so viel esse.
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Heute wandern wir nicht mehr, sondern fahren mit Bus und Zug nach Dublin. Gemeinsam mit einem amerikanischen Ehepaar warten wir im Garten auf unseren Transfer nach Dingle. Die beiden heißen Sue und Dave, sind schätzungsweise Mitte 50 und kommen aus Arizona. Sie haben die komplette 10-tägige Dingle-Way-Wanderung gebucht. Wenn du extra aus den USA angereist kommst, muss sich das Wandern lohnen.
Ihre heutige Etappe sieht vor, den Mount Brandon zu überqueren. Nur fünfzehn Kilometer, dafür mit 1.000 Höhenmetern. Die erste Hälfte der Strecke geht es ununterbrochen bergauf, die zweite kontinuierlich bergab. Daher haben sich die beiden überlegt, heute lieber einen „rest day“ einzulegen. Ein sehr weise und vor allem schweißsparende Entscheidung.
Die amerikanisch-unverkrampfte Art von Sue und David macht die Unterhaltung sehr einfach. Selbst für sozial herausgeforderte Menschen wie meine Frau und mich. Was Europa angeht, sind die beiden eher unwissend, aber interessiert. („Do you all drive on the left?“, „Is Berlin a big city?“)
Aber ich wäre die falsche Person, um über ihre vermeintliche Ignoranz zu erheben. Schließlich ist mein Wissen über die USA auch eher oberflächlicher Natur. Zum Beispiel habe ich keine Ahnung, wo Arizona liegt. (Irgendwo in der Mitte?) Ich weiß nur, dass es dort recht heiß ist und dass die Phoenix Suns aus Arizona kommen. (Sofern ich mich nicht irre.)
Während unserer Unterhaltung überlege ich die ganze Zeit, ob die beiden möglicherweise Trump-Anhänger sein könnten. Dafür sind sie eigentlich zu nett. Trotzdem. Ausgehend von der letzten Wahl liegen die Chancen immerhin bei fast 50 Prozent, dass sie für Trump gestimmt haben. Glaube ich aber nicht. Ohnehin fliegen wohl nur sehr wenige hardcore Trumpeteers zum Wandern nach Irland. (Viel zu kompliziert, die ganzen Schusswaffen im Flugzeug mitzunehmen.)
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Von Dingle aus fahren wir zunächst mit dem Bus nach Tralee. Dort, wo wir vor fünf Tagen unsere erste Übernachtung hatten.
Die Tochter ist „in charge“, sie hat die Bustickets online gekauft. Der Busfahrer muss nun für jeden von uns die 12-stellige Buchungsnummer in sein Kartenlesegerät eintippen. Dabei vertippt er sich zwei Mal. Bei jeder Nummer.
Vor dem Bus hat sich mittlerweile eine erhebliche Schlange gebildet. Die Passagier*innen in spe nehmen die Warterei mit stoischer Gelassenheit hin.
Endlich spuckt das Gerät drei Papierstreifen aus. Unsere Fahrkarten. Der Fahrer legt sie fein säuberlich übereinander, zerreißt sie dann zur Entwertung und wirft sie weg.
Drei Reihen vor uns sitzen zwei Amerikanerinnen. (Die halben USA scheinen in Irland zu sein.) Die beiden fotografieren aus dem fahrenden Bus die Landschaft. Ich habe große Zweifel, ob diese Bilder, die sie durch die mäßig sauberen Scheiben bei Tempo 80 schießen, ihre besten Urlaubsaufnahmen werden. Außer sie machen auch sonst nur verwackelte Fotos. Dann fällt das nicht weiter auf.
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Der Bus erreicht die Stadtgrenze von Tralee. Eine betagte Dame überquert die Straße. Sie trägt ein geblümtes Sommerkleid, hält ein riesiges Softeis in der Hand und geht mit gemächlichen kleinen Schritten. Sie stört sich nicht weiter daran, dass sie den gesamten Verkehr aufhält. Zwischendurch macht sie noch eine kleine Pause, um an ihrem Eis zu lecken. Manche Sachen dulden keinen Aufschub.
Am Bahnhof haben wir eine gute Stunde Zeit, bevor es mit dem Zug weiter nach Mallow geht. Meine Frau und ich ziehen los, Reiseproviant besorgen, die Tochter, deren Füße noch vom Wandern lädiert sind, passt auf das Gepäck auf.
Der erste Supermarkt, den wir finden, ist ein Lidl. In Berlin war ich bestimmt seit 15 Jahren nicht mehr in einem Lidl. Nicht aus Snobismus oder Distinktionsdünkel, sondern weil keiner fußläufig bei uns in der Nähe liegt.
Na ja, ein bisschen Distinktionsdünkel steckt vielleicht doch dahinter. Ich wurde als Kind Aldi-sozialisiert und deswegen gehe ich dort lieber hin. Mache ich inzwischen aber auch nicht mehr. Es gibt auch keinen fußläufig erreichbaren Aldi bei uns.
Der Lildl in Tralee ist mehr oder weniger wie seine deutschen Kollegen eingerichtet. Soweit ich mich erinnern kann. Lediglich das Sortiment ist an die irischen Konsumgewohnheiten und Geschmacksvorlieben angepasst. Zumindest kann ich mir nicht vorstellen, dass es im deutschen Lidl Steak and Kidney Pie to go gibt.
Wir decken uns mit Sandwiches, Crisps, Keksen und Getränken ein. Um unseren Körper auch ein paar Vitamine zuzuführen, nehmen wir noch eine Schale mit Mango, Ananas und Wassermelone mit. Später stellen wir fest, dass die Wassermelone mehr nach Wasser als nach Melone schmeckt. Eher wie eine Gurke. Vielleicht war es auch eine uns unbekannte rote Gurkensorte.
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Die Zugreise nach Mallow verläuft vollkommen ereignislos. Bis der Schaffner kurz vor Banteer, dem letzten Halt vor der Endstation, die Fahrkarten kontrolliert. Dabei stellt sich heraus, dass die Tochter versehentlich Karten für das gestrige Datum gekauft hat. Das heißt, wir sind ohne gültige Tickets unterwegs. Der Schaffner, ein rundlicher, älterer Mann, der mehr Gemütlichkeit als Balu, der Bär, ausstrahlt, zuckt mit den Schultern. „Anyway, just keep your heads down“, sagt er und geht weiter.
Als jemand, der in fast schon absurdem Ausmaß darauf bedacht ist, Regeln einzuhalten und nicht unangenehm aufzufallen, halte ich es nervlich kaum aus, mit ungültigen Fahrkarten zu reisen. Ich will in Mallow neue Tickets kaufen. Allerdings ist die Umsteigezeit zu knapp, um vom Bahnsteig ins Bahnhofsgebäude zu rennen, mich in die Funktionsweise des Fahrkarten-Automaten einzuarbeiten und dann die richtigen Tickets zu kaufen.
Gut, im Nachhinein wäre doch genügend Zeit gewesen, denn unser Anschlusszug hat fast 30 Minuten Verspätung. Laut der Tochter passiert das in Irland sehr selten. Fast nie. Vielleicht gibt es auch deswegen am Bahnsteig keinerlei Durchsagen oder Informationen zu der Verzögerung. Darüber regt sich aber niemand auf. Alle stehen entspannt rum und schauen in ihre Handys.
Das ist für uns sehr ungewohnt. Hat in Deutschland ein Zug auch nur drei Minuten Verspätung, ist die Stimmung sofort schlechter als auf der Bounty kurz vor der Meuterei. Allerdings ist das auch ein wenig verständlich, denn bei der Deutschen Bahn werden aus drei Minuten Verspätung schnell mal 140.
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Der Zug Richtung Dublin ist sehr voll. Ohne Fahrkarte haben wir keine Reservierung und müssen im Gang stehen. Ich bin nervös. Wer weiß, ob der Schaffner in diesem Zug so entspannt reagiert, wie sein Kollege eben, wenn rauskommt, dass wir falsche Tickets haben.
Im Kopf gehe ich die Unterhaltung mit dem Schaffner durch und überlege, was ich auf Englisch sagen muss. Das macht mich noch nervöser. Vielleicht mache ich einfach auf doofen Touri und tue so, als spräche ich nur Deutsch. Oder noch besser, irgendeine Phantasiesprache.
Ich könnte auch, immer wenn der Schaffner kommt, auf Toilette gehen. Dann müssen meine Frau und die Tochter sich um das Problem kümmern. Das wäre zugegebenermaßen ein wenig unfair ihnen gegenüber, aber der sich nie irrende Volksmund sagt nicht umsonst: „Im Krieg, in der Liebe und bei ungültigen Fahrkarten ist alles erlaubt.“
Eigentlich bescheuert, sich wegen ein paar ungültiger Tickets so aufzuregen, denke ich mir dann. Mit unseren Karten für gestern haben wir guten Willen bewiesen. Notfalls zahlen wir halt Strafe. Schön wäre das nicht, aber auch nicht dramatisch. Außer die Strafe besteht darin, aus dem fahrenden Zug geschmissen zu werden. Das wäre doch ein bisschen dramatisch.
Inzwischen hat der Zug dreimal gehalten, ist aber immer noch voll. Wir stehen weiter im Gang.
Der Schaffner taucht auf. Ich versuche, meinen Schweißdrüsen klarzumachen, das sei kein Grund, die Produktion hochzupowern. Meine Schweißdrüsen ignorieren mich. Der Schaffner steuert direkt auf uns zu. In meinem Kopf rattert es und ich gehe mein englisches Vokabular durch, um mir die richtigen Worte zurechtzulegen.
Er spricht uns an. Meine Schweißdrüsen verweigern endgültig den Gehorsam und öffnen die Schleusen. Dabei erklärt er uns lediglich, wir müssten nicht stehen, weiter hinten im Waggon seien drei Plätze frei. Ich erkläre, das sei überhaupt kein Problem, wir stünden gerne. Mist, damit funktioniert meine Doofe-Touri-Strategie nicht mehr, jetzt weiß er, dass ich sowohl Englisch verstehe als auch spreche.
Auf irisch-freundliche Art besteht der Schaffner darauf, dass wir mitkommen, damit er uns die Sitze zeigen kann. Um kein Aufsehen zu erregen, trotten wir ihm hinterher. Meine Schweißdrüsen sind mittlerweile außer Rand und Band.
Als wir uns gesetzt haben, lächelt er und sagt: „This is better, isn’t it?“ Wir nicken brav und bedanken uns. Dann geht der Schaffner weiter. Für unsere Tickets interessiert er sich nicht.
Alle Beiträge der Irischen Tagebücher finden Sie hier:
- Vorbereitung: Wie alles begann
- Anreise (02. Juni): Da wackelt nichts
- Zugfahrt (03. Juni): Mit der Ir’schen Eisenbahne
- Etappe 1 (04. Juni): Von Camp nach Annascaul
- Etappe 2 (05. Juni): Von Annascaul nach Dingle
- Etappe 3 (06. Juni): Von Dingle nach Dunquin
- Etappe 4 (07. Juni): Von Dunquin nach Cuas
- Bus- und Zugfahrt (08. Juni): Von Dingle nach Dublin
- Dublin (09. Juni): Wo sind all die Tier hin?
Christian Hanne, Jahrgang 1975, hat als Kind zu viel Ephraim Kishon gelesen und zu viel “Nackte Kanone” geschaut. Mit seiner Frau lebt er in Berlin-Moabit, die Kinder stellen ihre Füße nur noch virtuell unter den elterlichen Tisch. Kulinarisch pflegt er eine obsessive Leidenschaft für Käsekuchen. Sogar mit Rosinen. Ansonsten ist er mental einigermaßen stabil.
Sein neues Buch “Wenn ich groß bin, werde ich Gott” ist im November erschienen. Ebenfalls mehr als zu empfehlen sind “Hilfe, ich werde Papa! Überlebenstipps für werdende Väter”, “Ein Vater greift zur Flasche. Sagenhaftes aus der Elternzeit” sowie “Wenn’s ein Junge wird, nennen wir ihn Judith”*. (*Affiliate-Links)