Irisches Tagebuch, 05. Juni | Etappe 2: Von Annascaul nach Dingle

Wir waren wandern. In Irland. Hier gibt es den Bericht. Nicht live, aber dafür in Farbe und HD. Falls Ihnen Ihre Lebenszeit nichts wert ist und Sie alle Beiträge der Irischen Tagebücher lesen möchten, werden Sie hier fündig.


Wache auch heute pünktlich um 6 Uhr auf. Der arbeitswütige Preuße ist stark in mir. In Deutschland ist es jetzt 7. Wenn alles gut läuft, steht der Sohn gerade auf und geht zur Schule. Wenn nicht alles gut läuft, sammelt er ein paar unentschuldigte Fehlstunden.

Kontrolliere meine Mails. Eine Mrs. Cynthia Eddie schreibt. Sie habe eine Spende in Höhe von 9.500.000 Euro für mich. Bei den irischen Pub-Preisen käme mir ein Millionenbetrag sehr gelegen.

Körperlich geht es uns allen nach der gestrigen Wanderung gut. Es sind keine Blessuren zu vermelden. Eine wandererfahrene Kollegin meiner Frau meinte, schlimm wäre erst der dritte Tag. Danke für den Pep-Talk.

8 Uhr. Frühstück. An einem der Tische im Frühstücksraum sitzen zwei Frauen mittleren Alters, an einem anderen ein amerikanisches Ehepaar um die Mitte/Ende 50. Mit ihren hochwertigen Wanderschuhe und -hosen sowie Funktionsoberteilen sehen sie wie ambitionierte No-Nonsens-Wander*innen aus. Ich trage ein blaues Laufshirt vom Berliner Halbmarathon 2013 und komme mir etwas unpassend vor.

Die Haut der beiden ist leicht gegerbt von der vielen Zeit, die sie an der frischen Luft verbringen. Sie sind von hagerer, fast ausgezehrter Statur. Weil sie sich so viel bewegen und weil sie sich morgens kein Full Irish reinpfeifen, sondern Müsli mit Obst und Vollkornbrot essen. (Wahrscheinlich zur Schonung der Darmflora.)

Brian, der etwas schüchterne Co-Betreiber des Old Anchor Guesthouse fragt, ob wir Kaffee oder Tee möchten. Dann bringt er das Frühstück, das wir gestern Abend vorbestellt haben. Diesmal haben wir uns für eine etwas leichtere Variante entschieden. Die Tochter für Porridge mit Früchten, meine Frau für Scrambled Eggs mit Lachs und ich für Pancakes, um nicht schon wieder Fleisch zu essen. Okay, zu den Pancakes gibt es Ham, aber nur zwei Scheiben. Verglichen mit meinen bisherigen Mahlzeiten ist das so wenig totes Tier, dass es vegetarisch durchgehen kann. (Das Schwein, das sein Leben für meinen Schinken lassen musste, ist da möglicherweise anderer Meinung.)

Als wir aufbrechen, verabschiede ich mich von Brian. Wir stehen uns gegenüber und ich weiß nicht, ob ich ihm die Hand schütteln soll. Ich hatte dazu etwas in der Gebrauchsanweisung für Irland gelesen, kann mich aber nicht erinnern, ob das Händeschütteln in Irland üblich oder unüblich ist. Ich hebe linkisch meine Hand, sage „Goodbye and thank you very much” und verlasse das Old Anchor Guesthouse.

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Die heutige Etappe erstreckt sich über 20 bis 22 Kilometer bis nach Dingle. Mit 510 Höhenmetern. Es soll immer mal wieder steilere Abschnitte geben und die Wege und Pfade könnten sehr matschig sein, insbesondere wenn es viel geregnet hat. Das ist aber immer noch nicht der Fall, wie die Iren, mit denen wir uns unterhalten, nicht müde werden zu betonen.

Wir verlassen Annascaul. Zunächst geht es knapp einen Kilometer am Rande einer recht großen Straße entlang. Das erfordert ein wenig Aufmerksamkeit wegen der entgegenkommenden Autos, aber dann bist du wenigstens wach. Oder nie wieder, wenn du nicht aufmerksam genug warst.

Schließlich biegen wir rechts ab in eine kleine Straße und befinden uns wieder auf dem Dingle Way. Dingle Dude begrüßt uns mit einem fröhlichen „Morning, mates, have a lovely day.“

Links und rechts erstrecken sich weitläufige Weiden. Im Gegensatz zu gestern sind sie diesmal abgezäunt. Mein verspieltes, unvernünftiges Ich würde am liebsten über den Zaun klettern und die niedlichen Lämmchen liebkosen und mit ihnen kuscheln. Mein ängstliches, übervorsichtiges Ich befürchtet allerdings, dass ihm ein dann überbehütender, testosterongeschwängerter Schafbock den Kopf in die Hoden rammt und bleibt lieber brav auf dem Weg.

Die Landschaft ist wieder atemberaubend schön. Der Kontrast zum hektischen und lauten Berlin könnte nicht größer sein. Die Hügel sind grün (entspannend), die Schafe blöken (lustig), die Vögel zwitschern (erheiternd), die Kühe käuen (etwas dämlich) und die Insekten summen (etwas nervig)

Eine Joggerin kommt uns entgegen. Sie ist jung, durchtrainiert und flott unterwegs. Obwohl es für sie bergauf geht, sieht sie sehr locker aus. Sie lächelt uns an und grüßt freundlich. Angeberin.

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Nach fünf Kilometer erreichen wir die Cill Mhuire Bay. Der Strand ist von einem Wall aus riesigen Steinen, die wie überdimensionierte Kieselsteine aussehen umrandet. Als hätte eine Riese mit Ordnungsfimmel die Steine arrangiert. Die Erklärung ist aber viel profaner: Irgendwas mit Wind und Wellen. (Bestimmt eine Täuschung der Bevölkerung, damit keine Panik wegen der Riesen ausbricht.)

Oberhalb des Strandes steht eine Burgruine. Minard Castle. Die wurde im 16. Jahrhundert gebaut und 1650 von einer von Oliver Cromwells Armeen zerstört. Typischer Invasoren-Arschloch-Move. Überfallen ein Land, rauben alles, was sie gebrauchen können, und den Rest machen sie kaputt.

Die Ruine erinnert mich an meine Urlaube bei den Großeltern. Unser Opa machte mit meinem Bruder und mir immer Fahrrad-Touren in die Umgebung, unter anderem zu einer verfallenen Burg. Die hatte ein Verließ, das du nicht betreten durftest, aber wir konnten durch ein vergittertes Fenster hineinschauen. Mein Bruder und ich hofften jedes Jahr, ein Skelett darin zu entdecken. Das einzige, was wir mal fanden, war ein Knöchelchen von irgendeinem kleinen Tier. So endete unsere Kinder-Detektiv-Karriere, bevor sie begann.

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Wir lassen Strand und Burg hinter uns. Kurz danach kommen wir an einer Abzweigung nicht weiter, da unsere Wegbeschreibung nicht ganz eindeutig ist. (Zumindest für uns nicht.) Dingle Dude ist auch nirgends zu sehen, denn er macht gerade seine gewerkschaftlich vorgeschriebene Pause.

Ein Auto hält neben uns. Der Fahrer, ein älterer Herr um die 70, fragt, ob wir den Weg nach Dingle suchten. Ich nicke.

„You see the house with the creamy color over there?“ „Yes.“ (So viel Orientierungssinn habe ich dann doch noch, dass ich Häuser sehe, auf die jemand zeigt.)

Dann erklärt er, wo wir langgehen müssen, mit ganz oft links, noch mehr rechts und verwirrend vielen Entfernungsangaben. Ich nicke die ganze Zeit wie ein Wackeldackel bei Tempo 180 auf der Autobahn. Dazu streue ich immer wieder ein „Ok“, „I see“ und „Understood“ ein. Tatsächlich habe ich direkt nach „creamy house“ abgeschaltet, weil ich dachte, dass ich mir das sowieso nicht alles merken kann. Das bewahrheitet sich dann auch.

Glücklicherweise erkennen wir etwas später eine Stelle, die zu unserer Wegbeschreibung passt. Dingle Dude ist auch da, aber etwas verdeckt durch ein paar wild wuchernde Sträucher. Vielleicht pullert er gerade.

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Kilometer 7,5. Wir kommen einer Kuhweide vorbei. Direkt gegenüber liegt ein Friedhof. (Ein Menschenfriedhof, kein Kuhfriedhof.)

Die Kühe waren schon von Weitem zu hören. Besonders ein Bulle muhte tief, laut und durchdringend. Damit er auch ja nicht überhört wird.

Nun stehen wir vor der Weide und von Kühen oder gar Bullen ist nichts zu sehen. Alles nur Kälbchen. Eines kommt neugierig zum Gatter, um zu schauen, wer wir sind. Dann muht es uns tief, laut und durchdringend an. Das scheint der aufmerksamkeitsheischende Bulle in spe zu sein. Ich frage mich, wie so ein lautes Geräusch aus so einem kleinen Tier kommen kann.

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Elf Kilometer liegen hinter uns. Rechts von uns ist eine steinerne Eisenbahnbrücke zu sehen. Ein bisschen wie bei Harry Potter, nur kleiner und ohne Hogwarts Express. Sie ist nicht mehr in Betrieb, genau wie die Tralee and Dingle Light Railway, die früher über die Brücke gefahren ist.

Wir halten kurz. Die Tochter wechselt ihre Schuhe.

Ein paar hundert Meter weiter stehen einige zerfallene Steinhäuser. Wer hat hier wohl mal gewohnt? Und wo sind die Menschen, die früher hier lebten, hingegangen? Und was ist passiert, dass die Häuser eingestürzt sind? Rätsel über Rätsel. Gleichzeitig habe ich Hunger und überlege, wo wir mal Rast machen können, und das ist ja auch eine wichtige Frage.

Wir überholen ein anderes Wander-Paar. Die Frau trägt einen breitkrempigen Strohhut und flötet uns mit starkem amerikanischem Akzent ein „How are you?“ entgegen. Ich weiß wieder nicht, wie das mit dem Antworten darauf funktioniert. Die Tochter meint, es reicht, auch „How are you?“ zu sagen. Das ergibt für mich keinen Sinn und außerdem sollst du eine Frage nicht mit einer Gegenfrage beantworten. Ich frage trotzdem „How are you?“ zurück. Ihr Mann nickt mir sparsam zu.


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