Irisches Tagebuch, 02. Juni | Anreise – Da wackelt nichts

Wir waren wandern. In Irland. Hier gibt es den Bericht. Nicht live, aber dafür in Farbe und HD. Falls Ihnen Ihre Lebenszeit nichts wert ist und Sie alle Beiträge der Irischen Tagebücher lesen möchten, werden Sie hier fündig.


14.30 Uhr. Letzter prüfender Blick ins Wohnzimmer, ob da nichts mehr rumliegt, was wir mitnehmen wollen, sehe aber nichts dergleichen. Die letzte Arbeitswoche war sowohl bei meiner Frau als auch bei mir etwas hektisch und die Reisevorbereitung damit nicht besonders systematisch und entspannt. Bin mir deswegen sicher, dass wir irgendetwas vergessen werden.

Das muss aber nicht sein. Das denke ich vor jedem Urlaub, egal wie systematisch und entspannt die Vorbereitung war.

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Trotz aller Hektik haben wir den Koffer bereits gestern Abend gepackt. Beziehungsweise die Koffer. Zur Entlastung der Urlaubskasse hatten wir uns auf ein Gepäckstück beschränkt. Ursprünglich. Für einen mehrtägigen Wanderurlaub benötigst du allerdings recht viel Schuhwerk und das nimmt recht viel Platz weg. Folglich standen wir vor der Wahl, keine Unterwäsche mitzunehmen oder einen zweiten Koffer nachzubuchen. Wir entschieden uns für den zweiten Koffer. Der wog zum Glück knapp unter zehn Kilo. 9,9. Zumindest auf unserer fünfzehn Jahre alten Badezimmer-Waage. Hoffen wir einfach, die Flughafenwaage misst genauso genau. Oder ungenau. Hauptsache unter zehn Kilo.

Eingecheckt sind wir auch schon. Um die Urlaubskasse noch weiter zu entlasten, haben wir die Plätze nicht selbst ausgesucht, sondern Ryanair die Wahl überlassen. Nun sitzt meine Frau in Reihe 33, ich in Reihe 12. Obwohl die Sitze links und rechts von uns komplett frei sind. Bei Ryanair arbeiten aber keine seelenlosen, grausamen Menschen. Uns wird angeboten, nebeneinander zu sitzen. Gegen einen Aufpreis von 25 Euro

Ich lehne ab. Aus Prinzip will ich mich nicht von Herrn O’Leary erpressen lassen. Damit würde unsere Urlaubskasse auch nicht ent-, sondern belastet.

Außerdem hat meine Frau große Flugangst. Ich selbst finde Fliegen auch nicht wahnsinnig toll, kann das aber auf einem Flug ganz gut verdrängen. Sitzt meine Frau neben mir, drückt sie bei jedem kleinen Wackler meine Hand sehr fest und atmet schwer. Ersteres ist schmerzhaft und zweiteres lässt mich das Ruckeln viel stärker wahrnehmen, als es eigentlich ist. Dann schwirren in meinem Kopf plötzlich irgendwelche Flugzeug-Katastrophen-Filme umher, die ich alle nur vom Titel kenne, weil ich sie aus gutem Grunde nicht anschaue. Das wars dann mit meiner Verdrängung.

Somit ist Fliegen für mich wesentlich angenehmer, wenn ich nicht neben meiner Frau sitze. Das hört sich vielleicht selbstsüchtig und empathielos an. Sehr wahrscheinlich sogar. Ich möchte das aber nicht als Egoismus, sondern als Selfcare-Maßnahme verstanden wissen. Und wenn es mir gut geht, geht es meiner Frau schließlich auch gut. Möglicherweise erst, nachdem wir gelandet sind.

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Vom Sohn hatten wir uns in der Frühe verabschiedet, bevor er in die Schule gegangen ist. Damit sein Trennungsschmerz nicht zu groß wird, gaben wir ihm noch ein paar mahnende Worte mit. Er solle an den Müll denken, die Blumen müssten regelmäßig, das heißt täglich, gegossen werden, und die allgemeine Schulpflicht bestünde auch in unserer Abwesenheit.

Der Sohn nickte zu allem. Dennoch gehe ich davon aus, dass unsere Sätze nicht lange in seinem Kurzzeitgedächtnis verweilen und sein Langzeitgedächtnis nie erreichen werden.

Dann gab es noch ein paar Ansagen, falls er eine Party feiern will. (Eine „Sturm“, wie die jungen Leute das heute nennen.) Prinzipiell hätten wir nichts dagegen, möchten es aber vorher wissen. Außerdem seien folgende Regeln einzuhalten:

  • Die Nachbar*innen werden nicht lärmbelästigt. (Zumindest nicht übermäßig).
  • In der Wohnung wird nicht geraucht.
  • Es wird nichts vom Balkon geschmissen.
  • Niemand pennt in unserem Schlafzimmer.
  • Es wird nicht auf den Dielenboden, sondern ins Klo gekotzt.
  • Die Wohnung sieht bei unserer Rückkehr so wie vorher aus.

Das übliche halt.

Der Sohn schaute schließlich auf die Uhr und meinte er müsse jetzt los, sonst käme er zu spät zur Schule und das sei sicherlich nicht in unserem Sinne.

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14.45 Uhr. Auf dem Weg zur Bushaltestelle. Der Flieger geht erst um 17.45 Uhr, aber in den Unterlagen von Ryanair stand, man solle zwei Stunden vor Abflug am Flughafen sein, um sein Gepäck aufzugeben, und um 16.15 Uhr durch die Security gehen.

Ich bin ein harmonie- und gefallsüchtiger Mensch, der keine Umstände machen und nicht unangenehm auffallen möchte. Deswegen halte ich mich penibel an solche Vorgaben. Es ist eine alptraumhafte Vorstellung für mich, zu spät am Gate zu erscheinen, den Abflug zu verzögern und in einem Walk of Shame unter den Buh-Rufen der anderen Passagier*innen durch das gesamte Flugzeug zu meinem Platz gehen zu müssen.

Im Gehen checke ich am Handy die Verbindungen zum Flughafen. Stelle fest, dass es mit dem Befolgen der Ryanair-Anweisungen schwierig werden könnte. Dass eine Stunde für die Anreise reicht, basierte auf der Annahme, wir nehmen den Flughafen-Express, kurz FEX, der regelmäßig am Hauptbahnhof abfährt und circa eine halbe Stunde bis zum Flughafen Berlin-Brandenburg, kurz BER, benötigt.

Tut der FEX heute aber nicht. Vielleicht auch schon seit längerem nicht, was ich wissen könnte, hätte ich mich gewissenhaft-penibel schon gestern oder noch besser sogar vorgestern über die Verbindungen zum BER informiert und nicht erst jetzt wie so ein leichtsinniger, verantwortungsloser Hallodri.

Da es nichts bringt, mein Vergangenheit-Ich mit Vorwürfen zu überziehen, sucht mein Gegenwarts-Ich stattdessen eine alternative Verbindung raus. Mit der kommen wir auf keinen Fall pünktlich am Flughafen an. Zumindest nicht zu der von Ryanair angehmahnten Zeit. Das macht mich nervös und das macht mir wiederum schlechte Laune.

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Erreichen den BER kurz nach 16 Uhr. Komme mir vor wie ein Rebell, der auf die Obrigkeit, ihre spießigen Vorgaben und überhaupt auf alle Regeln und Vorschriften scheißt. Allerdings wie ein Rebell, der Angst hat, die Obrigkeit könnte ihn dafür maßregeln.

Bei der Gepäckaufgabe ist nichts los. Wir machen Zeit gut und erreichen doch noch pünktlich die Security. Mein innerer Untertan macht eine Beckerfaust.

Beim Sicherheits-Check stehen zwei sehr nette, zuvorkommende Mitarbeiter*innen. Sie erklären allen Reisenden sehr geduldig, was sie in die Wannen legen müssen und wie. Gegebenenfalls auch mehrmals und mit nicht nachlassender Höflichkeit.

Das ist für Berlin sehr ungewöhnlich. Sehr, sehr ungewöhnlich. Ich frage mich, ob ich mich möglicherweise in einem Paralleluniversum befinde, in dem Berliner*innen für ihre Freundlichkeit bekannt sind. Da raunzt mich die Frau am Bodyscanner aus meiner Traumwelt. Ich solle meine Arme gefälligst weiter abspreizen, sonst funktioniere das nicht. Okay, alles wie immer.

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Wir sind hungrig und durstig. Aufgrund unserer suboptimalen Reisevorbereitung haben wir nichts eingepackt und müssen jetzt im Flughafen Snacks kaufen. Wo doch bekannt ist, dass die Preise hier gut 834-mal höher als im Supermarkt sind und Schokoriegel so viel kosten, als würden sie in Gold aufgewogen. Als wären wir Multimilliardäre.

Außerdem gibt es im Flughafen immer nur riesige Größen. Alkohol wird minimal in 5-Liter-Gebinden verkauft und Schokoladetafeln sind so schwer, dass du sie mit einem 7,5-Tonner abtransportieren musst.

Als Kind faszinierten mich diese XXXXXXL-Maxi-Packungen. Vor allem weil sie noch viel größer wirken, wenn du selbst klein bist. Umso enttäuschter war ich, als ich später herausfand, dass in den riesigen Toblerone-Schachteln gar keine Schokolade in Matterhorn-Größe waren, sondern einfach viele normal große Toblerone-Schachteln. Ich muss so um die 20 gewesen sein und damals endete meine Kindheit endgültig.

In einem Mini-Market kaufen wir eine Packung Sandwiches, ein Snickers, eine kleine Dose Pringles und zwei Coke Zero. Die Kassiererin erklärt, wir hätten Anspruch auf einen Meal Deal und könnten uns noch ein Sandwich-Paket holen. Kostenlos. Da wir fast 20 Euro bezahlen – die Urlaubskasse wimmert leise –, habe ich meine Zweifel, ob „kostenlos“ in diesem Zusammenhang eine angemessene Wortwahl ist.


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3 Kommentare zu “Irisches Tagebuch, 02. Juni | Anreise – Da wackelt nichts

  1. Priorityboarding ist überlebenswichtig für Menschen, die nicht von ihrem Handgepäck getrennt werden wollen, weil es z.B. aus Kameras, Objektiven, Musikinstrumenten etc. besteht, die aufzugeben den sicheren Tod des Gepäcks und den finanziellen Ruin seiner Besitzer bedeuten würde. Da aber heutzutage jeder flugreisende Mensch unfassbare Volumina an Handgepäck dabei hat und der Platz in den overhead bins eher begrenzt ist, und Fliegen auf first come, first served Basis läuft und wer zu spät kommt, den bestraft die Stewardess mit „Ihre Tasche passt leider nicht mehr hinein, geben Sie her, die werfen wir mit in den Flugzeugbauch“, sichert man sich mit dem Priority Boardingpass einen Platz für das wertvolle Handgepäck oberhalb des eigenen Sitzplatzes. (Ja, der Satz ist etwas ausgeufert, aber mir ist heute zu warm.)

  2. Als Kind haben die riesigen Toblerone Packungen auch immer eine große Faszination für mich gehabt. Die Enttäuschung war ebenfalls groß, aber geschmeckt hat sie dennoch.

  3. Ich will ja nicht angeben, aber wir waren 6 Tage wandern in Irland und das nur mit Handgepäck. Wir hatten trotzdem alles, also auch Unterwäsche, dabei… :) Wenn man wirklich will, geht fast alles… :)

    Ich freue mich schon auf die weiteren Beiträge. Danke dafür! Ich erlebe gerade meinen Wanderurlaub nochmal. Mal schauen wieviele Blasen ihr so bekommt.

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