Zum Sonntagabend gibt es meine semi-originellen Gedanken und semi-spannenden Erlebnisse aus der abgelaufenen Woche. Manchmal banal, häufig trivial, meistens egal.
14. August 2023, Berlin
Der Sohn ist bis Samstag im Judo-Trainingslager, die Tochter besucht für ein paar Tage die Großeltern im Westerwald. Meine Frau und ich können uns diese Woche also in der Rolle der Empty Nester üben. Ausprobieren, wie es so ist, wenn die Kinder groß und aus dem Haus sind.
Unsere Freizeitmöglichkeiten sind schier grenzenlos. Wir könnten uns ins Kulturleben stürzen, ins Kino gehen oder Restaurants und Bars besuchen und anschließend die Clubs der Stadt unsicher machen. (Sofern wir reingelassen werden.)
Wobei wir das alles auch sonst machen könnten. Die Tochter wohnt schließlich inzwischen den größten Teil des Jahres in Irland und der Sohn ist 16, da liegt er abends nicht im Bett und weint, wenn wir nicht da sind. Ich bin mir nicht sicher, ob es ihm überhaupt auffallen würde.
Daher habe ich meine Zweifel, ob wir diese Woche kulturell, sozial und gastronomisch wahnsinnig aktiv sein werden. (Im Hintergrund nickt die Couch und kratzt sich am Kopf.)
Christian Hanne, Jahrgang 1975, hat als Kind zu viel Ephraim Kishon gelesen und zu viel “Nackte Kanone” geschaut. Inzwischen lebt er mit seiner Frau und seinen beiden Kindern in Berlin-Moabit. Kulinarisch pflegt er eine obsessive Leidenschaft für Käsekuchen. Sogar mit Rosinen. Ansonsten ist er mental einigermaßen stabil.
Großes Kino in der Straße vor unserer Wohnung. Ein Mercedes GTI Coupé in matt schwarz versucht einzuparken. Beziehungsweise der Fahrer des Mercedes versucht es. Vom Balkon aus sehe ich nur seinen muskulösen rechten Arm, mit dem er schaltet.
Die von ihm auserwählte Parklücke ist relativ groß und an der Straßenseite gegenüber parken keine Autos, so dass es ausreichend Platz gibt, um das Auto in die Lücke zu manövrieren. Allerdings parkt der Mann ungefähr so gut ein wie ich. Das heißt, sehr, sehr schlecht. Er fährt ein Stückchen vor, bremst ab, schlägt das Lenkrad ein, schaltet, fährt ein Stückchen zurück, bremst, schlägt das Lenkrad ein, schaltet, fährt ein Stückchen vor, bremst ab, schlägt das Lenkrad ein, schaltet, fährt ein Stückchen zurück, bremst, schlägt das Lenkrad ein, schaltet, fährt ein Stückchen vor, bremst ab, schlägt das Lenkrad ein, schaltet, fährt ein Stückchen zurück, bremst, schlägt das Lenkrad ein, schaltet und so weiter und so weiter.
Das geht fünf Minuten so, ohne dass er dem Ziel des Einparkens näherkommt. Das passt gar nicht zu dem Auto und dem Arm. Zumindest in meiner klischeebehafteten Vorstellung. In der können Männer mit dicken Autos und dicken Armen gut einparken. In der Realität nicht unbedingt. Ich habe fast ein bisschen Mitleid mit dem Mercedes-Fahrer.
Inzwischen stauen sich links und rechts die Autos die Straße hinunter. Allerdings traut sich niemand zu hupen. Wahrscheinlich wegen des muskulösen Arms.
Schließlich gibt der Mann sein Parkvorhaben auf, braust mit dröhnendem Motor davon und fährt bei rot über die nächste Kreuzung.
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Meine Frau und ich liegen abends im Bett und lesen. Gerade als ich mein Buch weggelegt habe und fast eingeschlafen bin, tut es draußen einen ohrenbetäubenden Schlag: ein krachender Blitz, dicht gefolgt von einem Donnerschlag. Starkregen setzt ein, innerhalb von Minuten steht das Wasser knöchelhoch in der Straße. Meine Frau meint, das Wetter sei kaputt, ich frage mich, ob möglicherweise so die Apokalypse anfängt.
Als Kind habe ich mich sehr vor Gewittern gefürchtet. Ich saß dann bei meiner Mutter auf dem Schoß und habe geweint. Irgendwann, ich muss so sieben oder acht gewesen sein, fragte sie mich, was ich denn später machen würde, wenn meine Kinder Angst vor Gewittern hätten. Ich erklärte, dass ich dann zusammen mit ihnen weinen würde. So weit ist es aber nie gekommen.
Meine Frau und ich stehen zusammen am Fenster, schauen uns den prasselnden Regen an und zählen die Sekunden zwischen den Blitzen und Donnern. Das habe ich als Kind mit meiner Mutter auch gemacht. Zur Ablenkung und Beruhigung. Was allerdings nur funktioniert hat, wenn die Abstände größer wurden.
Es blitzt zweimal hintereinander, ohne dass es dazwischen donnert. Ich bin verwirrt. Was bedeutet das? Dass das Gewitter ganz weit weg ist? Oder befinden wir uns mitten im Auge des Unwetters? Oder funktionieren Gewitter in der Apokalypse anders?
18. August 2023, Berlin
Heute ist Tag der schlechten Poesie.
„Bitte, liebe Mutter, reich mir mal die Butter. Danke sehr, bitte gib mir doch noch mehr.“
Damit sollte ich diesen Tag ausreichend gewürdigt haben.
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Apropos schlechte Poesie. Wir bekommen einen Brief von der Hausverwaltung. Die Neben- und Heizkostenabrechnung fürs letzte Jahr. Die gute Nachricht: Unsere Nachzahlung ist nicht vierstellig. Die schlechte: Es fehlen nur 70 Euro bis zur Vierstelligkeit.
Dabei waren wir sehr sparsam. Wir haben rund fünfzig Prozent weniger bei Heizung und Wasser verbraucht. (Robert Habeck nicht anerkennend, Winfried Kretschmann überreicht uns einen goldenen Waschlappen, Christian Lindner schaut unbeteiligt weg.)
Ich bin dankbar, dass wir in der privilegierten Position sind, in der so eine Nachzahlung zwar nervig ist – ziemlich nervig sogar –, wir sie aber verkraften können.
19. August 2023, Berlin
Unangenehmes Erlebnis beim Laufen. Heute steht der „lange Lauf“ auf dem Plan. 35 Kilometer, die letzten sechs davon im Marathontempo. Das ist aber noch nicht der unangenehme Teil.
Um auf die vorgesehenen Kilometer zu kommen, laufe ich zum Grunewald und im Grunewald herum. Bei Kilometer 15 trinke ich eines meiner Energiegels. Mit Orangen-Geschmack. Danach muss ich aufstoßen.
„Das ist nicht schlimm“, denke ich. „Hier ist ja niemand.“ Also lasse ich meinem Mund einen Röhrer entweichen, bei dem sich Hirschkühe im Umkreis von zehn Kilometern erschrocken fragen: „Scheiße, muss ich gleich ran?“
Kaum ist wieder Stille eingetreten, höre ich es links neben mir knacken. Ein dicklicher, weißhaariger Mann schiebt sich auf seinem Mountainbike an mir vorbei. Sofern er keine Noise-Cancelling-Kopfhörer trägt oder vollkommen gehörlos ist, hat er meinen Rülps er auf jeden Fall gehört.
Ich würde am liebsten im Erdboden versinken. Andererseits hat der Mann aber Glück gehabt. Wäre er eben vor mir gefahren, hätten ihn die Schallwellen vom Rad geweht.
20. August 2023, Berlin
Im Traum lädt mich eine (fiktive) Bekannte meiner Eltern zu einem Duft- und Aroma-Seminar ein. Ich habe keine Ahnung, was mir mein Unterbewusstsein damit sagen will. Ich weiß nicht mal, was überhaupt ein Duft- und Aroma-Seminar ist. Die fiktive Bekannte erklärt mir das auch nicht, sondern lädt mich ganz selbstverständlich dazu ein, als sei es genau das Richtige für mich.
Ist es aber nicht, denn ich rieche nicht gut. Damit meine ich nicht, dass ich stinke – zumindest meistens nicht –, sondern es fällt mir sehr schwer Gerüche zu erfassen. Das gelingt mir nur, wenn sie sehr intensiv sind. Ich bin anscheinend schwernasig. Das kann aber durchaus von Vorteil sein. Zum Beispiel im Sommer in der U-Bahn.
Christian Hanne, Jahrgang 1975, hat als Kind zu viel Ephraim Kishon gelesen und zu viel “Nackte Kanone” geschaut. Inzwischen lebt er mit seiner Frau und seinen beiden Kindern in Berlin-Moabit. Kulinarisch pflegt er eine obsessive Leidenschaft für Käsekuchen. Sogar mit Rosinen. Ansonsten ist er mental einigermaßen stabil.
Zum Sonntagabend gibt es meine semi-originellen Gedanken und semi-spannenden Erlebnisse aus der abgelaufenen Woche. Manchmal banal, häufig trivial, meistens egal.
07. August 2023, Berlin
Meine Frau ist gestern mit ihrer Mutter und der Tochter für eine Woche nach Föhr gefahren. Abends gerate ich auf 3Sat in eine Dokumentation über die spektakulärsten Bergbahnen der Schweiz. Genauer gesagt, über die Rigi-Bahn, die erste Zahnrad-Bahn Europas, ein Meisterwerk der Schweizerischen Ingenieurskunst, erfunden von einem Mann, der auf dem eingeblendeten schwarzweiß Foto über einen stattlichen Bart verfügt, dessen Namen ich jedoch vergessen habe. (Ich kann Ihnen also nicht sagen, wie der Zahnrad-Bahn-Erfinder heißt, könnte aber helfen, eine Phantombild-Zeichnung von ihm anzufertigen.)
Die Rigi-Bahn fährt von Arth-Goldau hoch auf den Gipfel der Rigi durch atemberaubende Berg-Landschaften mit Wasserfällen, Felsen und grünen Wiesen. Auf einer Strecke von achteinhalb Kilometern bewältigt sie circa 1.300 Höhenmeter. Vor der Eröffnung der Rigi-Bahn 1871 wurden betuchte Menschen in Sänften den Berg hinaufgetragen, was ich mir für alle Beteiligten unschön vorstelle.
Dreimal im Jahr, dem sogenannten Rigi-Historic-XXL-Day, werden die alten Züge aus dem Depot geholt, und fahren einen Tag lang hoch zum Rigi-Kulm. (Und im Idealfall auch wieder runter.) Einige der Triebwagen sind über 100 Jahre alt, der älteste sogar 149 Jahre. Der feucht-fröhliche Traum aller Trainspotter. Die reisen extra aus ganz Europa an, um dieses Ereignis in Bild und Video festzuhalten.
Als der Abspann läuft, frage ich mich, ob mir mein Strohwitwertum nicht so gut tut. Meine Frau ist nicht einmal zwei Tage weg und schon schaue ich Dokumentationen über historische Züge. Sollte sie mich jemals verlassen, sehe ich mich, wie ich an der Rigi-Strecke stehe und gemeinsam mit anderen Zug-Nerds – meinen neuen besten Freunden – alte Zahnrad-Bahnen fotografiere.
Christian Hanne, Jahrgang 1975, hat als Kind zu viel Ephraim Kishon gelesen und zu viel “Nackte Kanone” geschaut. Inzwischen lebt er mit seiner Frau und seinen beiden Kindern in Berlin-Moabit. Kulinarisch pflegt er eine obsessive Leidenschaft für Käsekuchen. Sogar mit Rosinen. Ansonsten ist er mental einigermaßen stabil.
Ich stehe an ungefähr fünfzehnter Stelle in der Warteschlange bei Penny. Der Mann hinter mir ist ungeduldig. Er ist etwas jünger als ich und trägt vier Dosen Bier in den Händen. Seine leicht ins Rot-Lila spielende Nase deutet darauf hin, dass er in seinem Leben schon recht viel Alkohol getrunken hat.
Weil ihm das alles zu lange dauert, geht er zum Kassierer und fordert in mäßig freundlichem Ton, dass eine zweite Kasse geöffnet wird. Der Kassier murmelt etwas in sein Mikro und dann passiert erstmal nichts.
Drei Minuten später geht der Bierdosen-Mann wieder zum Kassierer und sagt in noch weniger freundlichem Ton, es sei eine Frechheit, wie die Kunden hier behandelt würden, und es solle jetzt unverzüglich eine weitere Kasse aufgemacht werden. Kurz danach erscheint tatsächlich eine Penny-Mitarbeiterin und setzt sich an eine der anderen Kassen.
Als der Bierdosen-Mann an der Reihe ist, hat er sich immer noch nicht beruhigt und schimpft, der Umgang mit den Kunden hier sei eine Unart. Die Kassiererin ignoriert den Mann und sagt gar nichts. Das macht ihn noch ungehaltener und er sagt, er würde heute Abend beim Filialleiter anrufen und sich über ihr unverschämtes Benehmen beschweren.
Ich frage mich, ob der Mann sich heute Abend tatsächlich die Mühe macht, bei Penny anzurufen, sich so lange durchstellen lässt, bis er bei dem Filialleiter landet, und sich dann bei diesem über die unhaltbaren Zustände in seinem Laden beklagt.
Unterdessen wird es einer Kundin in der Nachbarschlange zu bunt. „Mein Gott, jetzt lassen sie die Frau in Ruhe. Die will nur ihre Arbeit machen“, weist sie ihn zurecht. Wenig überraschend passt dem Mann das nicht.
„Ich lass´ mir von Ihnen gar nichts vorschreiben. Ich rede, wann ich will. Meinungsfreiheit, verstehn ´se?“ „Und es ist meine Meinungsfreiheit, zu sagen, dass sie die Frau in Ruhe lassen sollen.“ „Wissen Sie überhaupt wie man Meinungsfreiheit schreibt?“ „Das werd´ ich Ihnen nicht buchstabieren. Das können Sie schön selbst nachschlagen.“
Ich bin fasziniert von diesem Schlagabtausch. Zum einen, weil sich die beiden siezen. Zum anderen ist das Gespräch zwar scharf im Ton, gleichzeitig auch irgendwie sachlich. Also, vielleicht kein herrschaftsfreier Diskurs im Habermasschen Sinne, bei dem nur das bessere Argument zählt. Aber die Atmosphäre ist auch nicht übermäßig aggressiv und die beiden sind nicht kurz davor, sich an die Gurgel zu gehen.
Möglicherweise lebe ich allerdings einfach schon zu lange in Berlin, dass ich das für eine halbwegs normale Unterhaltung halte.
12. August 2023, Berlin
Ich gehe heute das Projekt Erdbeermarmelade kochen an. Dazu sind wir dieses Jahr noch nicht gekommen. Meine Frau wollte das noch kurz vor unserem Urlaub erledigen. Ich meinte aber, das könnten wir machen, wenn wir zurückkommen, im August gäbe es auf jeden Fall noch Erdbeeren. Meine Frau schaute skeptisch, ich nickte zuversichtlich und damit war die Sache erstmal erledigt. Um ehrlich zu sein, war ich von meiner Einschätzung selbst nicht vollkommen überzeugt, aber ich hatte keine Lust, parallel zum Kofferpacken Marmelade zu kochen.
Zu meiner eigenen Überraschung – und Erleichterung – lag ich mit meiner Erdbeer-Verkaufssaison-Prognose richtig. Vor der Heilandskirche, dem Erdbeer-Verkaufs-Hotspot in unserem Kiez, steht immer noch eines der markanten Erdbeerhäuschen von Karl’s Erdbeerhof. Es gibt sogar ein Sonderangebot. 500 Gramm kosten 5,45 Euro, das Kilo nur 8,90 Euro. Das ist zwar immer noch ein stattlicher Kilopreis für Erdbeeren, aber ich spare damit zwei Euro und das überzeugt den Sparfuchs in mir.
Ich entscheide mich für vier Kilo, damit ich einen großen Marmeladen-Vorrat kochen kann. Noch lieber würde ich acht Kilo nehmen, dann wären wir fast bis zum Beginn der nächsten Erdbeer-Saison versorgt, aber ich möchte nicht maßlos erscheinen. (Stattdessen werde ich in den nächsten Tagen nochmal kommen und die restlichen vier Kilo besorgen.)
Die junge Verkäuferin tippt auf dem Taschenrechner rum. „Das macht 26,70 Euro.“
Ich war nie besonders gut in höherer Mathematik. Also, falls Algebra und Analysis zu höherer Mathematik gehören. Falls nicht, war ich schon in mittlerer Mathematik nicht besonders gut. Dafür kann ich okay Kopfrechnen. (Zumindest im Zahlenraum bis 100.) Somit merke ich sofort, dass 26,70 Euro für vier Kilo Erdbeeren zu wenig sind.
Kurz überlege ich, nichts zu sagen. Dann hätte ich nicht nur zwei Euro pro Kilo gespart, sondern mehr als vier. Ich habe jedoch Skrupel. Nicht wegen Karl‘s Erdbeerhof. Bei deren Preisen können die einen Verlust von knapp zehn Euro verkraften. (Meine Moral ist flexibel genug, dass sie bei Wirtschaftsunternehmen endet.)
Aber vielleicht müsste die Verkäuferin ihren Fehler persönlich ausbaden und der Fehlbetrag würde von ihrem Lohn abgezogen. Das würde mir leidtun und wäre auch nicht gut für mein Karma. Dann verschimmelt mir die Erdbeermarmelade innerhalb von drei Tagen und darüber hinaus werde ich im nächsten Leben als Kellerassel wiedergeboren.
Also weise ich die junge Frau auf den zu niedrigen Betrag hin. Damit ich nicht zu mansplainig rüberkomme, sage ich: „Ich glaube, das ist zu wenig.“ Anstatt sich zu freuen, dass ich sie vor einem Lohnabzug bewahre, schüttelt sie den Kopf. „Das stimmt so.“ Sie hält mir den Taschenrechner hin, auf dessen Display 26,70 steht.
Nun könnte ich mir sagen: „Ich hab‘s versucht, dann will sie es nicht anders.“ und mich über meinen zusätzlichen Rabatt freuen. Noch lieber möchte ich meinem Kellerassel-Schicksal entgehen.
„Aber das Kilo kostet fast neun Euro, dann müssen das bei vier Kilo knapp 36 Euro sein“, insistiere ich und bin mir bewusst, dass das nun durchaus mansplainig rüberkommen könnte. Aber ich habe erstens recht und tue das zweitens für die Verkäuferin.
Die junge Frau gibt jedoch nicht klein bei. „Aber hier steht 26,70.“ Sie hält mir wieder den Taschenrechner vors Gesicht. Diskutiere ich hier wirklich mit der Erdbeerverkäuferin, damit ich zehn Euro mehr bezahle? Meine innere Kellerassel nickt.
„Vielleicht geben sie das nochmal neu ein“, schlage ich vor. „Vier mal 8,90“, ergänze ich zur Sicherheit. Die Frau verzieht unmerklich das Gesicht, als sei das ein vollkommen hirnrissiger Vorschlag, weil sowieso wieder das gleiche rauskommen wird. Trotzdem tippt sie auf ihrem Taschenrechner rum.
Im Gegensatz zu mir überrascht sie das Ergebnis. „Sie haben recht”, sagt sie. „Es sind 35,60 Euro.“ Ich verkneife mir ein: „Sehen Sie“ und gebe ihr 40 Euro.
„Da hätten sie fast ein Sonder-Sonderangebot bekommen“, sagt sie, als sie das Rückgeld abzählt. Ja, habe ich aber nicht. Weil ich nicht als Kellerassel leben will. Stattdessen erwarte ich, im nächsten Leben als irgendeine Gottheit wiedergeboren zu werden. Oder wenigstens als Chris Hemsworth.
13. August 2023, Berlin
Der Sohn fährt heute für eine Woche ins Judo-Trainingslager. Dafür kommen meine Frau und die Tochter heute Abend zurück. Selbstverständlich freue ich mich darüber. Wobei ein, zwei Tage später wäre auch nicht schlimm. Morgen kommt auf 3Sat nämlich die Doku „Dampfende Züge, dampfende Küche in der Toskana“.
Christian Hanne, Jahrgang 1975, hat als Kind zu viel Ephraim Kishon gelesen und zu viel “Nackte Kanone” geschaut. Inzwischen lebt er mit seiner Frau und seinen beiden Kindern in Berlin-Moabit. Kulinarisch pflegt er eine obsessive Leidenschaft für Käsekuchen. Sogar mit Rosinen. Ansonsten ist er mental einigermaßen stabil.
Zum Sonntagabend gibt es meine semi-originellen Gedanken und semi-spannenden Erlebnisse aus der abgelaufenen Woche. Manchmal banal, häufig trivial, meistens egal.
03. Juli 2023, Berlin
Heute ist Schmeichle-deinem-Spiegelbild-Tag. Umgekehrt würde mir der Tag erheblich besser gefallen. Wenn mir mein Spiegelbild schmeicheln müsste. Stattdessen muss ich tagein, tagaus, mir jeden Morgen im Bad einen weißbärtigen Mann anschauen, der für den älteren Bruder meines Vaters gehalten werden könnte. Und die Zähne muss ich ihm auch noch putzen. Danke für nichts, Spiegelbild.
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Der Sohn ist gestern Abend gut in Paris angekommen. Von Unruhen keine Spur. Zumindest nicht auf den Bildern, die er uns schickt.
Meine Frau und ich sind dennoch besorgt. Warum schickt der Sohn Fotos, ohne dass wir ihn vorher dazu aufgefordert haben? Das ist sehr ungewöhnlich. Ob es ihm gut geht? Vielleicht will er auch schonmal für gute Stimmung sorgen, falls sein Kursfahrt-Taschengeld nicht ausreicht und er uns später um einen kleinen Zuschuss bitten muss.
Christian Hanne, Jahrgang 1975, hat als Kind zu viel Ephraim Kishon gelesen und zu viel “Nackte Kanone” geschaut. Inzwischen lebt er mit seiner Frau und seinen beiden Kindern in Berlin-Moabit. Kulinarisch pflegt er eine obsessive Leidenschaft für Käsekuchen. Sogar mit Rosinen. Ansonsten ist er mental einigermaßen stabil.
Ein Radfahrer schießt auf dem Bürgersteig an mir vorbei. Er schaut genervt, weil ich nicht mehr Platz mache, was mir schlicht unmöglich ist, da ich bereits mit einem Bein auf der Straße stehe. (Okay, ich könnte mich auch von einem Auto anstatt von ihm überfahren lassen.) Deswegen muss er minimal ausweichen, was er, wie mir seine Mimik signalisiert, nur äußerst widerwillig tut.
Ich bin kurz davor ihm hinterher zu rufen. „Geht das vielleicht auch ein wenig langsamer, junger Mann?“ Dann hat sich mein innerer Rentner wieder beruhigt und ich gehe wortlos weiter.
200 Meter später schnippt ein Mann seine Kippe knapp an mir vorbei an den Straßenrand. Ich schaue ihn irritiert an, er schaut maximal unirritiert zurück.
An der nächsten Ecke fährt eine ältere Dame auf einem E-Rolli mit beachtlichem Tempo um die Kurve und mich fast über den Haufen. Mit einem beherzten Sprung zur Seite bringe ich mich gerade noch in Sicherheit. Die Frau stört sich nicht weiter daran und rast kommentarlos von dannen.
Ich bin mir nicht sicher, ob diese Erlebnisse anekdotische Evidenz für die zunehmende Rücksichtslosigkeit und Verrohung der Gesellschaft sind. Vielleicht bin ich einfach nur unsichtbar geworden und die Menschen sehen mich schlicht nicht. Das wäre ganz schön, denn dann könnte ich dem nächsten Doofie unbemerkt eine Nackenschelle verpassen.
08. Juli 2023, Berlin
0.30 Uhr. Der Sohn ist zurück aus Paris. Heute früh saß er mit seinem Kurs pünktlich im TGV, doch der fuhr zwei Stunden lang nicht los. Dadurch verpassten sie ihren Anschlusszug in Karlsruhe um fünf Minuten. Warum der nicht warten konnte, blieb unklar. Möglicherweise haben die Passagier*innen darauf bestanden, weil sie kein Bock auf eine fünfstündige Fahrt mit einer 30-köpfigen Gruppe von Jugendlichen hatten.
Somit mussten sie einen anderen Zug nehmen, der eine Stunde später als geplant startete. Dank eines Böschungsbrandes auf der Strecke sowie eines Bundespolizei-Einsatzes in ihrem Zug verlängerte sich die Fahrzeit zusätzlich und sie kamen mit rund drei Stunden Verspätung am Berliner Hauptbahnhof an.
Trotz der späten Stunde erklärt sich der Sohn bereit, die Kursfahrt in knappen Worten für uns zusammenzufassen. Paris sei voll schön („Ganz viele alte Gebäude, alles in hellem Stein und die Straßen sind super breit.“), aber auch voll teuer. („8 Euro für ein kleines Baguette, von dem du nicht einmal satt wirst. Die spinnen doch.“)
Alle hätten sich gut verstanden, es hätte keinen Streit gegeben und sie hätten viel Spaß gehabt. Von Unruhen hätten sie nichts mitbekommen, aber es wäre ziemlich viel Polizei unterwegs gewesen.
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Das erhöhte Polizeiaufkommen wurde einem seiner Zimmernachbarn zum Verhängnis. Der meinte, am frühen Abend mit einem stattlichen Joint im Mund an einer Gruppe Polizisten vorbei gehen zu müssen. Warum er das für eine gute Idee hielt, blieb sein Geheimnis. Während ihn die ersten drei Polizisten nur befremdet anschauten, hielt ihn der vierte Kollege schließlich an.
Bei der unvermeidlich folgenden Leibesvisitation kam eine Menge an Gras zum Vorschein, die selbst mit sehr viel Wohlwollen nicht mehr als Eigenbedarf interpretiert werden konnte. (Wobei das natürlich eine subjektive Einschätzung ist und stark vom Ausmaß deines Haschkonsums abhängt. Wenn du beispielsweise Kette kiffst, können auch 12 Gramm durchaus als Eigenbedarf gelten.)
Der Sohn und zwei weitere Freunde erschienen den Polizisten verdächtig genug, um sie ebenfalls zu filzen. Da sie alle clean waren, blieb die Durchsuchung für sie folgenlos.
Eine ihrer Mitschülerinnen hielt die Szene von der anderen Straßenseite fotografisch fest, so dass nun ein Bild des Sohns existiert, wie er in Paris an einer Hauswand steht und von einem französischen Polizisten mit umgehängter Maschinenpistole abgetastet wird. Eine spätere Karriere als Bundeskanzler könnte damit schwierig werden.
Im Nachhinein ist diese Geschichte zwar recht amüsant. Aber es führt einem auch vor Augen, wie unterschiedlich der Kontakt mit der Polizei abläuft, wenn du ein weißer Jugendlicher aus Deutschland bist oder ein junger Mensch mit Migrationsgeschichte, der in einer der französischen Vorstädte lebt.
Für den kiffenden Mitschüler blieb die Geschichte nicht ohne Konsequenz. Gerade als er sich mit den Polizisten darauf geeinigt hatte, die Angelegenheit auf dem ganz kleinen Dienstweg beizulegen, indem er das Gras auf den Bürgersteig wirft und zertritt, meldete sich die Lehrerin, die vorher kontaktiert worden war.
Somit konnte der Vorfall nicht unter dem Deckmantel der Verschwiegenheit in Vergessenheit geraten, sondern wurde doch aktenkundig. Nicht bei der Pariser Polizei. Deren Interesse an einer strafrechtlichen Verfolgung eines Berliner Jugendlichen mit ein paar Gramm Haschisch zu viel liegt weit unter Normalnull. Aber dafür bei der Schule.
Der Schüler musste am nächsten Morgen nicht nur die Heimreise antreten, sondern auch den Rest der Woche zur Schule gehen und obendrein ein wenig angenehmes Gespräch mit dem Schulleiter führen. Am Ende der Ferien entscheidet die Schulkonferenz dann noch über etwaige disziplinarische Maßnahmen.
Seine Eltern waren von der Aktion ebenfalls wenig angetan. Sie strichen ihm den Spanienurlaub mit seinen Kumpels, für den er bereits bezahlt hat. Ich denke nicht, dass er in naher Zukunft sein I love Paris-Shirt tragen wird.
09. Juli 2023, Berlin
Eine junge Frau läuft an unserem Haus vorbei. Sie ist Anfang 30, hat Kopfhörer in den Ohren und wirkt unauffällig. Abgesehen davon, dass sie ziemlich laut singt.
Als sie an zwei Männern vorbeiläuft, schaltet sie allerdings in den Nicht-mehr ganz-so-unauffällig-Modus und beschimpft die beiden lautstark. Was sie genau sagt, verstehe ich nicht. Nur dass mehrmals das Wort „hässlich“ fällt. Dann geht sie weiter, als sei nichts geschehen.
Eine ihr entgegenkommende ältere Dame weicht mit besorgter Miene aus. „Sie müssen keine Angst vor mir haben“, beschwichtigt sie die Frau. „Ich bin nicht verrückt, ich spüre nur manchmal die Aura von anderen Menschen.“
Mir liegt es wirklich fern, unsensibel zu sein und jemanden als verrückt zu bezeichnen. Aber auf der Straße laut singen, andere Menschen grundlos anschreien und Auren spüren, gelten im sozialen Miteinander gemeinhin nicht als normale Verhaltensweisen. Selbst in Berlin nicht.
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Die Wochenschau verabschiedet sich mit diesem Beitrag in die Sommerpause, kommt Mitte August zurück und wünscht allen eine schöne Ferienzeit.
Damit die Wartezeit aber nicht zu lange wird, gibt es ab nächstem Mittwoch die “Irischen Tagebücher” über unseren kürzlichen Wanderurlaub.
Christian Hanne, Jahrgang 1975, hat als Kind zu viel Ephraim Kishon gelesen und zu viel “Nackte Kanone” geschaut. Inzwischen lebt er mit seiner Frau und seinen beiden Kindern in Berlin-Moabit. Kulinarisch pflegt er eine obsessive Leidenschaft für Käsekuchen. Sogar mit Rosinen. Ansonsten ist er mental einigermaßen stabil.
Zum Sonntagabend gibt es meine semi-originellen Gedanken und semi-spannenden Erlebnisse aus der abgelaufenen Woche. Manchmal banal, häufig trivial, meistens egal.
26. Juni 2023, Berlin
Die Tochter hat ihre Note für das erste Studienjahr erfahren. Beziehungsweise ihre Prozente. Die gibt es an irischen Universitäten anstatt Noten. Sie hat 68 Prozent. Das klingt nicht nach wahnsinnig viel, aber es gibt quasi nie mehr als 70 Prozent. Von daher sind ihre 68 Prozent ziemlich gut. Insbesondere weil sie das mit relativ überschaubarem Aufwand erreicht hat, ohne die sozialen Aspekte des First-Year-Student-Lebens zu vernachlässigen.
Etwas Angst hatte sie vor der Bewertung einer Geschichtsklausur. Die hatte sie leicht fiebrig und mit Halsschmerzen geschrieben. Sie wollte sich kein Attest besorgen und dann im August nachschreiben müssen. Ihre Sorge war allerdings unbegründet. Auch in dieser Arbeit hat sie 68 Prozent bekommen.
Ob das für die Leistung der Tochter oder gegen die Bewertungsmaßstäbe der Uni spricht, vermag ich nicht zu sagen. Ich vermute allerdings letzteres. Ihre Freundin kam auf 58 Prozent, obwohl sie in der gesamten Klausur auf die Verwendung von Jahreszahlen verzichtet hatte, weil sie sich nicht so richtig an sie erinnern konnte. Eine kreative Auslegung des Konzepts „Mut zur Lücke“.
Christian Hanne, Jahrgang 1975, hat als Kind zu viel Ephraim Kishon gelesen und zu viel “Nackte Kanone” geschaut. Inzwischen lebt er mit seiner Frau und seinen beiden Kindern in Berlin-Moabit. Kulinarisch pflegt er eine obsessive Leidenschaft für Käsekuchen. Sogar mit Rosinen. Ansonsten ist er mental einigermaßen stabil.
Heute gehe ich zum Friseur. Jedoch nicht, weil meine Frau oder sonst jemand, der das noch nie gemacht hat, versucht hat, mir die Haare zu schneiden. Ich hatte vorher schon einen Termin.
Beinahe hätte ich wieder zu meiner Stamm-Friseurin Ayşe gehen können, die seit ein paar Monaten nicht mehr in dem Laden arbeitet, zu dem ich immer gehe. Meine Frau hat sie kürzlich zufällig auf der Straße getroffen. Wobei, „zufällig“ und „auf der Straße“ nicht ganz zutreffend ist. Meine Frau hat sie gesehen, als Ayşe in dem Falafelladen neben ihrer alten Arbeitsstätte zu Mittag gegessen hat. Eine wahnsinnig clevere Akquisestrategie. Du siehst deine ehemaligen Kund*innen und isst dabei leckere Falafel.
Sie arbeite jetzt in einem Friseursalon, der gar nicht weit entfernt von uns sei, erklärte sie. Der sei auch nur geringfügig teurer. Anscheinend haben Ayşe und ich ein etwas anderes Verständnis von der Bedeutung des Wortes „geringfügig“. Ein Herrenhaarschnitt kostet dort in der günstigsten Variante 40 Euro – statt bisher 27 Euro –, meine Frau müsste sogar 62 Euro berappen.
Nun finde ich zwar, dass Dienstleistungen angemessen bezahlt werden sollen, aber 40 Euro für einen Haarschnitt finde ich doch zu teuer. Da lasse ich mir eher von N. die Haare schneiden. Der macht das bestimmt für einen Zehner.
Stattdessen gehe ich aber in den gleichen Friseurladen wie immer. Erneut habe ich einen Termin extra bei der Chefin ausgemacht, in der Hoffnung sie schneidet mir diesmal auch wirklich die Haare. Auf Chefinnen-Behandlung zu bestehen, klingt vielleicht etwas elitär, aber bei den ehemaligen Kolleginnen von Ayşe war ich immer nur so mittel zufrieden und wollte herausfinden, ob die Chefin das besser kann.
Als erstes bekomme ich von ihr persönlich die Haare gewaschen. (Wie ein Privat-patient, dem der Chefarzt ein Pflaster aufklebt.) Ich überlege, ob es später angebracht ist, wenn ich ihr ein Trinkgeld gebe. Schließlich ist sie die Chefin und da ist das vielleicht nicht üblich. Mein inneres Zwiegespräch bleibt ergebnislos, was aber egal ist, denn ich habe ohnehin kein Bargeld dabei.
Während des Haareschneidens versucht sich die Chefin im Smalltalk. Richtig gut ist sie darin nicht. Immer noch besser als ich, aber das ist kein besonders guter Maßstab. Wir quälen uns durch Themen wie Urlaubsorte, Mittagspause und das Wetter.
Kürzlich las ich im Clearer-Thinking-Newsletter von Spencer Greenberg über acht Tipps, wie du besseren Small Talk führst. Unglücklicherweise habe ich mir keinen einzigen davon behalten. Außer dass du dein Gegenüber ernst nehmen sollst. Das tue ich auf jeden Fall. Vor allem weil mein Gegenüber – beziehungsweise meine Hintermir – gerade mit einem Rasiermesser an meinem Ohr rumhantiert.
01. Juli 2023, Berlin
Meine Frau und ich betätigen uns in der Kulturtechnik des Ausgehens. Wir besuchen eine Lesung von David Sedaris. Weil wir das mit dem Weggehen nicht so häufig machen, haben wir vorher Guacamole mit sehr viel Knoblauch gegessen. Aber wenigstens nicht so viel, dass unsere Sitznachbar*innen ins Koma fallen.
Im Anschluss an die Lesung reihe ich mich in eine Dreißig-Meter-Schlange ein, um mir zwei Bücher signieren zu lassen. David Sedaris nimmt sich für jeden und jede, die an seinen Tisch treten, viel Zeit, unterhält sich ein wenig und malt etwas in die Bücher. Das ist einerseits sehr nett, andererseits auch recht langwierig. Aber für ihn sind die Unterhaltungen mit den Fans ein Quell von Anekdoten für neue Geschichten.
Nach knapp drei Stunden bin ich an der Reihe. Ich frage mich, ob David Sedaris überhaupt noch seinen Namen kennt oder ich nach der Warterei meinen.
Ich erkläre ihm, eines der Bücher sei ein Geburtstagsgeschenk für eine Freundin. Daraufhin will er wissen, wann ich Geburtstag habe und was ich mir wünsche. Wahrheitsgemäß antworte ich, ich hätte keine Wünsche, und frage zurück, was sein Geburtstagswunsch sei.
Er habe kürzlich einen Spiegel in Dänemark gesehen, erzählt er. 2×1 Meter groß und mit goldenen Blättern den Rahmen entlang. Für 12.000 Euro. Ich erwidere, ich würde leider niemanden kennen, der mir etwas für 12.000 Euro schenkt. David Sedaris meint, er lasse sich den Spiegel vielleicht von seinem Mann schenken. Von seinem eigenen Geld zwar, aber es wäre die Geste, die zählt. Dann gibt er mir meine signierten Bücher zurück.
Ich bezweifle, dass David Sedaris meine Ich-wünsche-mir-nichts-zum-Geburtstag-Antwort in seinem nächsten Buch verwenden wird. Dafür hat er es mit seinem 12.000-Euro-Spiegel aber in meinen Blog geschafft.
02. Juli 2023, Berlin
6.30 Uhr. Heute verabschiedet sich der Sohn. Er fährt auf Klassenfahrt. Eine Woche Paris. Als erfahrene Eltern wissen wir, dass wir ihn nicht zum Bahnhof begleiten müssen. Das letzte Mal, dass wir das gemacht haben, war bei der Tochter in der 9. Klasse. Außer uns war noch eine andere Mutter da. Während meine Frau und ich wie zwei Helikoptereltern aus dem Bilderbuch rumstanden, ignorierte uns die Tochter geflissentlich.
Daher fragten wir den Sohn nur pro forma, ob wir mit zum Bahnhof kommen sollen. Anscheinend stellte er sich vor, wie wir mit Taschentüchern winkend dem abfahrenden Zug hinterherlaufen, denn ein Anflug von Panik huschte kurz über sein Gesicht. Dann erklärte er, das sei nicht nötig. Wirklich nicht.
Vor zwei Wochen trübte der Lehrer die Vorfreude des Sohns auf die Klassenfahrt erheblich, als er den Schüler*innen mitteilte, sie müssten Referate halten und Reisetagebuch führen. Am meisten Unverständnis rief bei ihm allerdings hervor, dass ein striktes Alkoholverbot herrscht und sie um 22 Uhr auf den Zimmern sein müssen.
Ich verstehe den Lehrer und seine Bettruhevorgaben dagegen sehr gut. Ohnehin frage ich mich, wie masochistisch veranlagt du sein musst, um mit einer Gruppe von 16/17-jährigen in eine europäische Großstadt zu fahren. Was da alles passieren kann! Als Lehrer*in stehst du da die ganze Zeit mit anderthalb Beinen im Knast. Bei mir dürften die Schüler*innen auf einer Klassenfahrt gar nicht ihre Zimmer verlassen.
Trotz Referaten, Reisetagebuch und strengen Vorgaben zu Schlafenszeiten und Alkoholkonsum hat der Sohn es immer noch besser erwischt als sein Freund T. Während der gesamte Jahrgang europäische Metropolen wie Florenz, Edinburgh und London oder die Amalfi-Küste bereist, ist das Reiseziel des Kunst-LKs deutlich weniger attraktiv: Für den geht es nach Würzburg. Wenn ich den Sohn richtig verstehe, ist es ihm immer noch lieber um 22 Uhr nüchtern in einem Pariser Hotel zu liegen, als sturzbesoffen in Würzburg durchzumachen.
Christian Hanne, Jahrgang 1975, hat als Kind zu viel Ephraim Kishon gelesen und zu viel “Nackte Kanone” geschaut. Inzwischen lebt er mit seiner Frau und seinen beiden Kindern in Berlin-Moabit. Kulinarisch pflegt er eine obsessive Leidenschaft für Käsekuchen. Sogar mit Rosinen. Ansonsten ist er mental einigermaßen stabil.
Zum Sonntagabend gibt es meine semi-originellen Gedanken und semi-spannenden Erlebnisse aus der abgelaufenen Woche. Manchmal banal, häufig trivial, meistens egal.
12. Juni 2023, Berlin
Nach unserem Irland-Urlaub steht die Resozialisierung in den Erwerbsarbeit-Alltag an. Ein nicht ganz einfaches Unterfangen, nachdem wir tagelang bei bestem Wetter durch die irische Landschaft gewandert sind und unser Sozialleben abgesehen von vereinzelten Kontakten mit anderen Wander*innen sowie B+B-Gastgeber*innen in erster Linie aus Begegnungen mit Kühen und Schafen bestand.
Auch kulinarisch ist die Wiedereingliederung eine Herausforderung. Eine Woche lang gab es morgens Würstchen, Speck, Rührei und Pancakes und abends stärkten wir uns in irischen Pubs mit Burgern und Pommes oder Fish & Chips. Meine Frau hielt es heute Morgen aus mir nicht nachvollziehbaren Gründen nicht für nötig, mir ein ähnliches Frühstückangebot zu unterbreiten. Ich möchte das nicht direkt als Zeichen mangelnder Wertschätzung und Zuneigung interpretieren, empfinde es aber dennoch als äußerst bedauerlich.
Stattdessen muss ich mir selbst Haferflocken machen. Zumindest mein Cholesterinspiegel freut sich darüber.
Christian Hanne, Jahrgang 1975, hat als Kind zu viel Ephraim Kishon gelesen und zu viel “Nackte Kanone” geschaut. Inzwischen lebt er mit seiner Frau und seinen beiden Kindern in Berlin-Moabit. Kulinarisch pflegt er eine obsessive Leidenschaft für Käsekuchen. Sogar mit Rosinen. Ansonsten ist er mental einigermaßen stabil.
15 Uhr. Wir sitzen im Zug nach Frankfurt. Am Vierer-Tisch neben uns telefoniert ein Geschäftsmann und ist wichtig. Die Frau neben ihm liest in der Barbara. (In der Zeitschrift, nicht in einer Frau namens Barbara.)
Gegenüber sitzt ein Paar, bei dem mir der Mann schon auf die Nerven geht, als wir einsteigen. Ich weiß gar nicht warum. Vielleicht weil er eine modisch fragwürdige blaue Fleeceweste trägt, die ihm zwei Nummern zu groß ist, und dazu ein farblich nicht passendes kariertes Hemd? Ich hoffe nicht. Schließlich möchte ich nicht so oberflächlich sein, dass ich jemanden aufgrund seines geschmacklosen Kleiderstils ablehne.
Der Mann redet ununterbrochen auf seine Frau ein und strahlt mittelstarke Boomer-Vibes aus. Das ist wiederum ein guter Grund, ihn nervig zu finden. Kurz nach Hannover schläft der Laberhorst ein. Dadurch wirkt er gleich nicht mehr ganz so nervig. Mein Glück ist nur von kurzer Dauer. Nach fünf Minuten weckt ihn seine Frau, weil ihr Handy nicht richtig lädt. Nun finde ich sie auch nervig.
Die Fahrt verläuft erfreulich problemlos und ohne größere Vorkommnisse. Zwischendurch schreibe ich meinem Vater, wir kämen pünktlich in Limburg an. Ein großer Fehler. Mit der Nachricht erzürne ich den Bahn-Gott, der sich denkt: „So nicht, Freundchen. Ob ihr pünktlich seid oder nicht, entscheide immer noch ich.“
25 Minuten bevor wir Frankfurt erreichen, bleibt unser Zug stehen. Die Zugbegleiterin meldet sich. Im Abschnitt vor uns brenne ein Böschungskran. Ich habe keine Ahnung, was ein Böschungskran ist, aber wenn er brennt, scheint das ein Problem zu sein. Wir müssen nun ein Stück zurückfahren, bis wir einen Punkt erreichen, an dem wir auf eine andere Strecke Richtung Frankfurt ausweichen können. Die ist allerdings nicht für ICE-Geschwindigkeiten ausgelegt, so dass wir nur mit gedrosseltem Tempo fahren können.
Zunächst zeigt die Bahn-App eine Verspätung von 45 Minuten an, dann 60, dann 90, dann 105 und schließlich 115. Eine gute Gelegenheit, den inneren Stoiker zu trainieren. Schließlich änderst du an der Situation nichts, wenn du dich aufregst. Dadurch hört der Böschungskran nicht auf zu brennen und der Zug fährt auch nicht schneller.
Die Atmosphäre im Wagon ist insgesamt relativ entspannt. Lediglich ein wenig Sarkasmus und Galgenhumor sind aus der ein oder anderen Bemerkung herauszuhören. Dass die Stimmung so gut ist, liegt sicherlich auch daran, dass das Bordbistro, das eigentlich schon geschlossen worden war, wieder aufgemacht wurde und nun die umsatzstärksten Stunden des Jahres erlebt.
Irgendwann erreichen wir den Frankfurter Hauptbahnhof. Mit 140 Minuten Verspätung. Wir legen erstmal einen kurzen kulinarischen Boxenstopp bei Burger King ein.
Anschließend geht es weiter Richtung Limburg mit dem 22.09-Uhr-Zug. Der fährt aber erst um 22.20 Uhr los. Der Zug ist sehr voll und ohne Platzreservierungen bleibt uns nichts anderes übrig, als mit unseren Koffern im Gang zu stehen, Seit an Seit mit anderen Reisenden, die ebenfalls keine Platzreservierungen haben.
Die 30-minütige Fahrt ist der zäheste Abschnitt unserer heutigen Reise. Ich führe ein Experiment durch, ob sich die Reisezeit verkürzt, indem du alle 30 Sekunden auf deine Uhr schaust. Das Ergebnis: Tut sie nicht.
Mein Bruder holt uns in Limburg ab und wir erreichen kurz vor Mitternacht Westerburg. Obwohl mein Vater das gar nicht vorhatte, können wir nun in seinen Geburtstag reinfeiern. Vielleicht war es das, was der Bahn-Gott bezweckt hat.
16. Juni 2023, Westerburg
Die eigentliche Geburtstagsfeier meines Vaters findet morgen statt, für heute hat er ein paar Nachbar*innen und Leute aus dem Ort eingeladen. Der Bürgermeister macht seine Aufwartung. Mit dem habe ich zusammen Abitur gemacht. Da er bei der Schüler Union war, hatte ich aber nicht sonderlich viel mit ihm zu tun. (Nachdem ich mich eine Minute mit ihm unterhalte, weiß ich wieder warum.)
Der Pfarrer ist ebenfalls da. Er ist einer meiner besten Schulfreunde. Mit M. habe ich früher so viel gemeinsam erlebt und gefeiert, dass ich immer, wenn ich ihn im Talar sehe, denke, er hätte sich verkleidet. Seine Frau ist auch mitgekommen. Mit ihr war ich von der ersten Klasse bis zum Abitur in einer Klasse. Sie ist inzwischen Richterin.
Leider habe ich keine Klassenkameraden, die jetzt Sparkassen-Direktor oder Bauunternehmer sind. Sonst hätten wir die Charaktere für einen launigen Regional-Krimi zusammen. („Der Wut-Würger vom Westerwald“)
17. Juni 2023, Westerburg
Der Trainingsplan für meinen geplanten 10-Kilometer-Laufs sieht heute eine Runde von 22 Kilometern vor. Allerdings hatte ich eine sehr unruhige Nacht. Ich bin erst um 3 Uhr eingeschlafen – obwohl ich um kurz nach Mitternacht ins Bett gegangen war –, wachte mehrmals auf und ab 7 konnte ich gar nicht mehr schlafen. Es ist nicht auszuschließen, dass es einen Zusammenhang zwischen der schlechten Schlafqualität und meinem gestrigen Sektkonsum sowie einigen Häppchen, die ich mir kurz vorm Schlafengehen noch einverleibt habe.
Ich beschließe, den Lauf ausfallen zu lassen. Das würde mich für den Rest des Tages und für die späteren Feierlichkeiten erledigen. Das wäre nicht so gut, denn als Sohn des Jubilars habe ich möglicherweise gewisse Repräsentationspflichten. Da kann ich nicht halb schlafend irgendwo in der Ecke hocken.
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Mein Vater hat die Geburtstagsgesellschaft in ein feines Restaurant eingeladen. Im Prinzip das einzige feine Restaurant der Gegend. Das Essen ist durchaus konkurrenzfähig mit guten Küchen in Berlin. Lediglich die Portionen sind etwas groß. Das ist dem Westerwald geschuldet. Hier muss Essen lecker, aber vor allem reichlich sein. Sonst kommt niemand und du gehst schneller pleite, als du experimentelle Molekularküche sagen kannst.
Die Feier startet mit einem Sektempfang. Eine ältere Dame, mit der ich mich unterhalte, teilt mir mit, auf der nichtalkoholischen Aperitif-Alternative schwömmen kleine Ingwer-Raspeln. Das bräuchte kein Mensch. Wer bin ich, dass ich 85 Jahren Lebensweisheit widerspreche, denke ich, und nehme mir lieber ein Glas Sekt.
Unsere Kinder, die nur einen Bruchteil der Gäste kennen, müssen immer wieder das gleiche Ritual über sich ergehen lassen. Zunächst wird sich darüber ausgelassen, wie groß sie geworden sind. Anschließend wird der Sohn gefragt, ob er schon wisse, was er nach der Schule machen will – das würde mich auch interessieren – und anschließend die Tochter, wie lange sie noch zu studieren habe und was sie danach geplant habe. (Auch das würde mich interessieren.) Ungünstigerweise sind die Kinder nicht mehr klein und süß, so dass sie nach den Unterhaltungen von den Gästen nur aufgrund ihrer Niedlichkeit fünf Euro zugesteckt bekommen.
Ich mache auf der Feier die Erfahrung, dass Menschen mit zunehmendem Alter ihren sozialen Filter verlieren. Sie geben immer weniger auf Konventionen und sagen einfach, was sie denken. Das führt zum Beispiel dazu, dass mir eine Frau, bei der ich mir nicht hundertprozentig sicher bin, wer sie überhaupt ist, zur Begrüßung sagt, dass mein Bart ganz schön weiß sei. Meine Frau bekommt wiederum mehrfach zu hören, dass ihr das graue Haar gut stünde. Damit ergeht es uns immer noch besser als meinem Bruder. Der bekommt von einem Gast erklärt, er habe seit ihrer letzten Begegnung ganz schön zugelegt.
Übrigens stimmen diese Aussagen alle. Die Gäste sind aufgrund ihres fortgeschrittenen Alters vielleicht ein wenig undiplomatisch, verfügen aber immer noch über eine scharfe Beobachtungsgabe, gutes Augenlicht und einen wachen Geist. Was willst du mehr mit 80+?
18. Juni 2023, Westerburg / Berlin
Heimfahrt nach Berlin. Diesmal läuft alles glatt. Kurz nach Wolfsburg schreibe ich meinem Bruder, wir seien pünktlich. Der Bahn-Gott schüttelt den Kopf und fragt mich: „Alter, hast du auf der Hinfahrt gar nichts gelernt? Ich entscheide über die Pünktlichkeit und nicht irgendein hergelaufener Wurm.“
Eine Minute später stoppt der Zug und es kommt eine Durchsage des Schaffners. Heute brennt kein Böschungskran, sondern im auf der Strecke vor uns befänden sich Personen auf den Gleisen, die da nicht hingehören. Wir könnten unsere Fahrt erst fortsetzen, wenn diese ausfindig gemacht worden seien. Eine halbe Stunde später geht es weiter, obwohl die Personen noch nicht gefunden wurden. Daher dürfen wir nur mit gedrosselter Geschwindigkeit fahren.
Mit gut einer Stunde Verspätung erreichen wir Berlin. Oder um es positiv auszudrücken: 80 Minuten pünktlicher als auf der Hinfahrt. Danke, Bahn-Gott!
Christian Hanne, Jahrgang 1975, hat als Kind zu viel Ephraim Kishon gelesen und zu viel “Nackte Kanone” geschaut. Inzwischen lebt er mit seiner Frau und seinen beiden Kindern in Berlin-Moabit. Kulinarisch pflegt er eine obsessive Leidenschaft für Käsekuchen. Sogar mit Rosinen. Ansonsten ist er mental einigermaßen stabil.