The making of ‘Flaschenvater’ (Teil 2): Auf der Jagd nach Hurenkindern und Schusterjungen

Mein liebes Tagebuch,

letzte Woche habe ich dir ja mitgeteilt, dass ich ein neues Buch geschrieben habe. „Ein Vater greift zur Flasche. Sagenhaftes aus der Elternzeit.“ Ich wiederhole das hier nicht, weil ich denke, dass du vergesslich bist, sondern lediglich aus Gründen des Suchmaschinenmarketings. Aber das nur am Rande.

Möglicherweise hast du vom Bücherschreiben eine recht romantische Vorstellung, mein liebes Tagebuch. Vor deinem inneren Auge siehst du mich , wie ich auf der Terrasse eines toskanischen Landgutes sitze, meinen Blick in die Ferne schweifen lasse und ab und an ein paar Zeilen von nobelpreiswürdiger Qualität in eine Schreibmaschine tippe. (Okay, das war mal meine naive Vorstellung vom Bücherschreiben.)

Tatsächlich ist das Schreiben ein sehr langwieriger Prozess, der durch frustrierende Ideenlosigkeit und zerstörerische Selbstzweifel gekennzeichnet ist. Und von ganz viel Hass, wenn du morgens deine erbärmlichen Textentwürfe vom Vortag liest. Hass auf dich selbst, der du die Idee hattest, ein Buch zu schreiben. Hass auf Gutenberg, der den modernen Buchdruck erfunden hat. Und Hass auf den Menschen, der irgendwann mal dachte, „Lasst uns doch mit der doofen Höhlenmalerei aufhören und lieber Wörter auf Papier kritzeln.“ Hass, Hass, Hass!

Entgegen jeglicher Wahrscheinlichkeit, habe ich es trotzdem geschafft, ein Manuskript fertigzustellen, und nachdem ich es an zwei, drei Stellen überarbeitet hatte, befand der Verlag es für gut genug, um es zu drucken. Nun darfst du, mein liebes Tagebuch, aber nicht denken, dass damit die Arbeit für mich als Autor vorbei ist. Nein, mitnichten. Letzte Woche bekam ich ein PDF geschickt, in dem der Text im Layout gesetzt war und ungefähr so aussah wie später im Buch. Meine Aufgabe bestand darin, Schusterjungen und Hurenkinder zu eliminieren. Das klingt ein wenig als hätte ich mir die Zeit mit einem blutigen Ego-Shooter vertreiben dürfen, in Wahrheit ist es aber ein mühsames Unterfangen.

Schusterjunge und Hurenkind sind Bezeichnungen für gängige Typografiefehler. Vom Schusterjungen ist die Rede, wenn die erste Zeile eines Absatzes alleine am Ende der vorigen Seite steht, vom Hurenkind, wenn die letzte Zeile eines Absatzes in die neue Seite hineinreicht. Das widerspricht nicht nur der Schriftsatz-Ästhetik und ruft bei Typografen Ausschlag hervor, sondern stört außerdem den Lesefluss.

Schusterjunge und Hurenkind in ihrem natürlichen Lebensraum
Schusterjunge und Hurenkind in ihrem natürlichen Lebensraum

Um Schusterjungen und Hurenkinder loszuwerden, müssen in einem Absatz entweder ein paar wenige Worte ergänzt oder etwas gekürzt werden, und schon fließt der Text 1A, so dass das Typografen-Herz vor Freude hüpft. Das Problem dabei: Sparst du an einer Stelle eine Zeile ein, verschiebt sich der ganze Text, und auf einmal taucht an anderer Stelle ein Schusterjunge oder ein Hurenkind auf. Da änderst du dann wieder ein bisschen Text und produzierst irgendwo anders neue Schusterjungen oder Hurenkinder. Das geht immer so weiter, bis du Sisyphos für die sinnstiftende Tätigkeit des Steinerollens beneidest.

Entsprechend entnervt war ich irgendwann und hätte am liebsten mit einer Axt meinen Computer kurz und klein gehauen. Und wenn ich schon dabei bin, die komplette Wohnzimmereinrichtung gleich mit. (Dann kannst du der Hausratsversicherung auch eher weismachen, dass ein Tornado deine Wohnung verwüstet hat und sie doch bitteschön die Schäden übernehmen möge.)

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Nachdem nun alle Schönheitsfehler ausgemerzt und alle Hurenkinder und Schusterjungen vertrieben sind, kann ich mich aber immer noch nicht bequem zurücklehnen, mein liebes Tagebuch. Nein, den Grafikern ist jetzt aufgefallen, dass es vorne noch eine vollkommen leere Seite gibt. Und leere Seiten am Anfang sind bei Büchern anscheinend nicht so gut. Da denken die Leserinnen und Leser dann, „Mensch, hab‘ ich versehentlich „Die gesammelten schlauen Gedanken von Donald Trump“ gekauft?“ und werfen das Buch weg, ohne es gelesen zu haben.

Also muss ich mir jetzt etwas ausdenken, was auf diese leere Seite kommt. Vielleicht eine Widmung. John Irving hat beispielsweise Folgendes an den Anfang von „Hotel New Hampshire“ gestellt.

Für meine Frau Shyla, deren Liebe Licht und Raum für fünf Romane schuf.

Das ist doch eigentlich ganz hübsch. Könnte ich doch übernehmen. Allerdings heißt meine Frau nicht Shyla und ich habe auch noch keine fünf Romane geschrieben. Somit könnte diese Widmung Fragen aufwerfen – insbesondere bei meiner Frau. Deswegen muss ich mir wohl etwas anderes einfallen lassen. Zum Beispiel ein schmissiges Zitat, dass zum Lesen einlädt.

„Von dem Moment an, als ich Ihr Buch in die Hand nahm, bis zu dem Augenblick, als ich es niederlegte, habe ich mich vor Lachen gekrümmt. Ich habe vor, es eines Tages auch zu lesen.”
Groucho Marx

Auch nicht schlecht. Allerdings wird Ironie nicht von allen verstanden. Möglicherweise brauche ich doch etwas Direkteres.

„Lies! Mich! Durch!“

Nun ja, da ist wohl noch etwas Raum nach oben. Falls du eine gute Idee für meine erste Seite hast, mein liebes Tagebuch, lass‘ es mich bitte wissen.

In Erwartung deiner Vorschläge verbleibe ich,
Dein Christian

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Alle Teile des Flaschenvater-Schreibtagebuchs finden Sie hier.

36 Kommentare zu “The making of ‘Flaschenvater’ (Teil 2): Auf der Jagd nach Hurenkindern und Schusterjungen

  1. Vorschläge für die bislang leere Seite:

    Für mich!

    Für dich!

    Für meinen Geldbeutel (Puuh, den Shitstorm wünsche ich keinem).

    Für meine Reputation! (dito)

    Du siehst, ich bin hier keine große Hilfe. Vielleicht sollte ich sowas doch einem Experten wie dir überlassen.

  2. Für den Käsekuchen! Mit und ohne Rosinen!

    Auch keine Hilfe, aber vllt ein Denkansatz um leere Seiten zu füllen? *grübel

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