„Die Kiste mit dem Weihnachtsschmuck müsste mal aus dem Keller geholt werden.“ Diesen Satz sprach die Freundin heute Morgen beim Frühstück beiläufig aus. Menschen, die in langjährigen Beziehungen leben, kennen diese Art des Formulierens. Es ist der Delegativ. Der kommt zum Einsatz, wenn du willst, dass dein Partner oder deine Partnerin Aufgaben erledigt, die du – aus welchen Gründen auch immer – nicht selbst übernehmen möchtest. Die Aufforderung, den Müll herauszutragen, wird beispielsweise häufig durch den Delegativ kommuniziert: „Der Müll müsste mal runtergebracht werden.“ Blumengießen, Fensterputzen und Altglasentsorgung sind ebenfalls beliebte Delegativ-Themen.
Zur Wahrung des partnerschaftlichen Friedens darf der Delegativ auf keinen Fall aktivisch formuliert werden. Sonst könnte es Widerspruch, dann Streit und schließlich Tränen geben. Durch die Verwendung des Delegativs gibst du deiner Partnerin oder deinem Partner stattdessen die Möglichkeit, die Aufgabe quasi aus freien Stücken zu erledigen, was die Beziehung mit Harmonie und Frieden erfüllt.
Die Freundin verwendet den Delegativ, wenn sie Sachen aus dem Keller benötigt, weil es dort Spinnen gibt. Viele Spinnen. Und große Spinnen. Und viele große Spinnen. Und die Freundin ekelt sich ganz fürchterlich vor Spinnen. Ich selbst bin auch kein großer Fan von Kellergängen. Da wir in einem Altbau wohnen, ist der Weg dorthin beschwerlich, es ist da unten modrig-muffig und außerdem hält sich dort außerordentlich viel Ungeziefer auf. Alles sehr gute Gründe, den Keller zu meiden. Deswegen gehe ich auch nur zwei Mal im Jahr in den Keller: Im Spätherbst lagere ich mein Fahrrad ein und hole die Weihnachtsdekoration hoch, im Frühjahr steige ich wieder hinab und tausche den Christschmuck gegen das Rad aus.
Als guter Partner komme ich der delegativischen Bitte der Freundin nach und mache mich nach dem Frühstück auf den Weg in den Keller. Der Sohn begleitet mich. Er ist sieben und der Einzige in der Familie, der gerne in den Keller geht. Er hofft, dass wir einen Schatz finden. Oder wenigstens ein Skelett. Seit im letzten Winter eine tote Ratte vor unserem Kellerverschlag lag, ist mein Bedarf an Keller-Leichen gedeckt.
Um unseren Kellerverschlag zu erreichen, haben der Sohn und ich zunächst den Keller-Dreikampf zu absolvieren. Zunächst müssen wir – beziehungsweise ich – das Fahrrad die steile und rutschige Treppe im Hinterhof nach unten tragen und dabei vermeiden, dass wir ausrutschen und uns das Genick brechen. Wir schaffen die Aufgabe souverän.
Danach ist die klemmende verrostete Kellertür aufzuschließen, ohne dass wir uns eine offene Wunde einhandeln und eine Blutvergiftung zuziehen. Auch das klappt erfreulich problemlos. Wir öffnen die schwere Tür und uns schlägt ein modriger Geruch entgegen, der die Minen von Moria aus ‚Herr der Ringe‘ als besuchenswertes Naherholungsgebiet erscheinen lässt.
Als letztes müssen wir nun durch die engen, niedrigen Kellergänge gehen, ohne mit dem Gesicht in Spinnweben hängen zu bleiben. Für den Sohn stellt diese Aufgabe kein Problem dar und er geht fröhlich pfeifend los. Da die Ausmaße des Ganges aber eher für Hobbits als für normalwüchsige erwachsene Männer ausgelegt sind, krieche ich gebückt wie Quasimodo zu unserem Kellerraum und schiebe mein Fahrrad neben mir her. Erreiche mit Rückenschmerzen den Kellerverschlag.
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Mit einer Mischung aus Neid und Verachtung schaue ich in den Kellerraum neben unserem. Der ist befremdlich penibel aufgeräumt und wesentlich ordentlicher als unser Wohnzimmer. Wobei die Messlatte da auch nicht allzu hoch liegt. (Eltern mit jungen Kindern wissen, wovon ich schreibe.) An den Wänden des Kellerraums stehen mehrere Regale, in denen verschiedene Kisten akkurat verstaut sind. Zusätzlich gibt es eine Werkbank und eine kleine Kommode, in der Nägel, Schrauben und Dübel aufbewahrt sind. An einer Wand hängen außerdem ein paar Werkzeuge fein säuberlich an der Wand.
Ich selbst besitze nur sehr wenig Werkzeug. Das meiste davon hat mir mein Vater geschenkt. Wenn er zu Besuch kommt, ist er immer begeistert, wie pfleglich ich damit umgehe, so dass es auch nach Jahren so gut wie keine Gebrauchsspuren aufweist.
Der Kellerraum links von unserem ist ebenfalls ein Kuriosum. Dort steht eine einzige Kiste mitten auf dem Boden. Sonst nichts. Gar nichts. Der Sohn fragt, ob die Nachbarn keine Sachen hätten. Ich erkläre, sie litten wahrscheinlich an einer psychischen Zwangsstörung, wegen der sie unnütze Dinge unverzüglich wegwerfen, anstatt sie wie normale Menschen in den Keller zu stopfen und bis zum nächsten Umzug zu vergessen. Der Sohn schaut in unseren Kellerverschlag und ist erleichtert, dass wir diese Krankheit nicht haben.
Unser Keller ist die Anti-These der beiden benachbarten Räume. Er ist bis zur Decke vollgemüllt mit altem Ramsch. Selbst für versierte Chaostheoretiker ist in der Anordnung der alten Möbelstücke, Kisten und Müllsäcke kein Ordnungssystem auszumachen.
Letztes Jahr bot sich eigentlich eine ganz hervorragende Gelegenheit, den Keller einmal richtig auszumisten. Im Sommer wurde in den Keller eingebrochen. Bevor der Einbrecher anfangen konnte, die Kellerräume auszuräumen, vertrieben ihn jedoch zwei couragierte Studenten aus der WG im dritten Stock. Ich konnte die Begeisterung der anderen Hausbewohner für diese angeblich heroische Tat nicht ganz teilen, wurde dadurch doch eine wunderbare Möglichkeit zunichte gemacht, dass wenigstens ein Teil des Krempels aus unserem Kellerverschlag kostengünstig und vor allem ohne viel Aufwand meinerseits entsorgt wird. Aber die Herren Studenten mussten ja unbedingt die Helden spielen.
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Um unseren Kellerverschlag zu betreten, muss ich zunächst einen ausrangierten Kinderstuhl, einen Tapeziertisch und ein sperriges Puppenhaus beiseite räumen. Dann erwarten mich viele Kisten. Sehr viele Kisten. Unzählig viele Kisten. Unser Kellerraum ist der Beweis für die Existenz des so genannten Kisten-Kellerraum-Paradoxons. Dabei übersteigt die Summe des Volumens aller Kisten das Volumen des Raumes, in dem sie aufbewahrt werden. Eines der großen Rätsel der Menschheitsgeschichte.
Selbstverständlich ist keine der Kisten beschriftet. Deswegen muss ich jedes Jahr in jede Kiste schauen, bevor ich in der letzten die Weihnachtsdekoration entdecke. Es ist vollkommen egal, in welcher Reihenfolge ich sie öffne. Der Weihnachtsschmuck ist immer in der letzten Kiste. Ein weiteres großes Rätsel der Menschheitsgeschichte.
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Im schummrigen Licht mache ich mich am ersten Karton zu schaffen. Er enthält ein paar alte Klamotten, die sich beim Kita-Flohmarkt als unverkäuflich erwiesen hatten. Ich frage mich, wie sie in die Kiste gekommen sind und die Kiste wiederum in unseren Keller gelangt ist. Und warum sie immer noch dort steht, wo doch schon seit zweieinhalb Jahren keines unserer Kinder mehr in die Kita geht.
Derweil entdeckt der Sohn in einer Tüte seine alten Dinosaurier-Figuren. Empört stellt er mich zur Rede, ich hätte ihm doch vor ein paar Jahren erzählt, seine Dinos seien in ein fernes Land vor unserer Zeit ausgewandert. Ich erwidere, dies sei korrekt und sie machten lediglich einen Kurzurlaub in unserem Keller. Maulend sucht der Sohn weiter nach einem möglichen Schatz.
Ich öffne die nächste Kiste. Sie enthält Unterlagen und Bücher aus meinem Studium, darunter eine Einführung in Theorien zur gesellschaftlichen Konstruktion von Wirklichkeit. Das hilft mir jetzt nicht wirklich weiter, denn das Chaos im Keller ist sehr real.
Im nächsten Karton liegen ein paar halbleere Farb- und Lackdosen sowie einige Kanister mit Terpentin. Benebelt von den ausströmenden Dünsten erfreue ich mich an den rosafarbenen Elefanten, die in unserem Keller Tango tanzen. Murmele halblaut, das sei besser als Kiffen. Der Sohn will wissen, was Kiffen ist. Anstatt einer Antwort gebe ich ihm sein altes Laufrad. Begeistert setzt er sich auf das Rad und fährt den Kellergang auf und ab.
Die nächste Kiste bringt etwas Undefinierbares zutage. Was auch immer es ursprünglich war, es ist anscheinend mehrmals feucht und wieder trocken geworden, bis es zu einer neuen, leicht pelzigen Lebensform mutiert ist. Ich bilde mir ein, dass das Ding ein drohendes Knurren ausstößt. (Das könnten aber auch Nachwirkungen der Lösungsmittelausdünstungen sein.)
Als ich nach 45 Minuten den letzten Karton öffne, lacht mich ein pausbäckiger Weihnachtsengel fröhlich an. Ein pausbäckiger Weihnachtsengel mit abgebrochenem Flügel, um genau zu sein. Ich erinnere mich daran, wie die Freundin letztes Jahr sagte: „Der Engel müsste geklebt werden, bevor er in die Kiste kommt.“ Zu meiner eigenen Überraschung hatte ich erwidert, ich würde mich darum kümmern. Zur Vermeidung unnötiger und unvorweihnachtlicher Diskussionen mit der Freundin stecke ich den Engel in die Kiste mit der mutierten Lebensform. Sie begrüßt den neuen Gast schnurrend.
Dann schnappe ich mir die Weihnachtskiste und wir gehen zurück in die Wohnung. Der Sohn ist ein bisschen enttäuscht, dass wir keinen Schatz gefunden haben. Ich dagegen bin erleichtert, dass wir uns keine schwerwiegenden Verletzungen zugezogen haben.
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Oben angekommen, fragt die Freundin, ob wir an den Christbaumständer gedacht hätten. Ich verneine ihre Frage und erkläre, dass wir dann dieses Jahr wohl keinen Weihnachtsbaum haben werden, denn ich ginge ja erst wieder im März in den Keller. Meine Argumentation überzeugt sie aber nicht und ich muss wohl oder übel noch einmal in den Keller. Irgendwo habe ich den Ständer eben auch gesehen. Hinter dem alten Liegestuhl? Oder neben der kaputten Stehlampe? Oder doch unter dem ausrangierten Drucker?
Der Keller müsste definitiv mal aufgeräumt werden. Im Frühjahr. Vielleicht.
Überall erhältlich, wo es Bücher gibt.
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Christian Hanne, Jahrgang 1975, hat als Kind zu viel Ephraim Kishon gelesen und zu viel “Nackte Kanone” geschaut. Mit seiner Frau lebt er in Berlin-Moabit, die Kinder stellen ihre Füße nur noch virtuell unter den elterlichen Tisch. Kulinarisch pflegt er eine obsessive Leidenschaft für Käsekuchen. Sogar mit Rosinen. Ansonsten ist er mental einigermaßen stabil.
Sein neues Buch “Wenn ich groß bin, werde ich Gott” ist im November erschienen. Ebenfalls mehr als zu empfehlen sind “Hilfe, ich werde Papa! Überlebenstipps für werdende Väter”, “Ein Vater greift zur Flasche. Sagenhaftes aus der Elternzeit” sowie “Wenn’s ein Junge wird, nennen wir ihn Judith”*. (*Affiliate-Links)
Bemerkenswert finde ich vor allem den Umstand, dass lediglich eine (in Zahlen 1) Kiste hervorgeholt werden musste.
Ich trotze todesmutig den Spinnen und anderem Getier, damit hier niemandem die Größe unseres adventliches-Dekorations-Klimmbimm-Lagers bewusst wird. Ich könnte problemlos vier bis sechs herrschaftliche Herrenhäuser mit den Deko-Accessoires aus unserem Keller für eine vorweihnachtliche Charity-Veranstaltung ausstatten. Auf Wunsch ganz klassisch in rot und grün oder eher puristisch in silberweiß, fröhlich bunt verspielt oder im Landhausstil mit Naturtönen. Bisher hat mich bedauerlicher Weise aber noch niemand darum gebeten.
Es gibt tatsächlich noch eine zweite Kiste. Mit Christbaum-Kugel. Sie ist aber gerade unauffindbar (“Die Kiste müsste mal richtig gesucht werden.”).
Sollte ich von jemandem hören, der nach einer innenarchitektonischen Beratung für adventliche Benefiz-Events sucht, werde ich gerne an dich verweisen.
Vielen Dank für diese realistische und gleichzeitig sensible Schilderung des an eine Heldentat erinnernden Ganges in einen Ort vor unserer Zeit. Heute flatterte hier die Nachricht in mein Postfach, dass der Sperrmülltag sich nähert. Ich gedenke, ihn wahrzunehmen.
Weihnachtsbäume kann man übrigens auch problemlos ohne Weihnachtsbaumständer auf-, äh, hängen. s. hier:
https://www.youtube.com/watch?v=tWLy_LY1Wqk
Müsste man mal ausprobieren.
Für die einen ist es ein Gang in den Keller, für andere die längste Reise zum Mittelpunkt der Erde.
Vielen Dank für das schöne Weihnachtsbaum-Hänge-Video. Platzsparend ist es ja.
*lachtränenwegwisch*
Du MUSST ein Buch darüber schreiben, das wird ein BESTSELLER!!!!
*immernochkicher*
Vielen Dank! Vielleicht richte ich mir im Keller ein Schreibzimmer ein.
Ich liiiiebe alte, modrige Keller. Vor allem die anderer Leute. Ich würde mich gern mal für eine Woche in euerm Keller einschliessen lassen und ausgiebig in den Kisten wühlen. Und mit dem Puppenhaus spielen, das Laufrad ausprobieren und ein paar Möbelstücke umstreichen… Falls Du an Ferienkellervermietung interessiert bist, ich zahle mit auf Quark und Frischkäsebasis hergestelltem Kuchen (wahlweise mit Kakaoanteil) :D
Wenn du auch noch das pelzige Ding fütterst, würde ich es mir überlegen.
Zwei Beine, vier Beine, sechs Beine… ich bin furchtlos!
Ich musste gerade sehr lachen. Was machst Du denn in unserem Keller? Wahrscheinlich haben wir uns nur knapp verpasst, während ich suchend um eine der drölfzig düsteren Ecken bog, auf der unsterblichen Suche nach den Radkappen für die Winterreifen.
Aber vermutlich erschrecke ich auf der Stelle zu Tode, sollte ich jemals einem anderen Menschen in den finsteren Gewölben unter unserem Haus begegnen. Das ist nämlich noch nie passiert. Hege die Vermutung, dass der Keller nur in meiner Phantasie existiert.
Schön, dass es dir gefallen hat. Vielleicht ist einer von uns ja das pelzige Wesen in dem Kellerraum?
Vielen Dank! Die Lektüre hat echt meinen Vormittag gerettet. Habe lange nicht mehr so gelacht!…Das Soziologie Buch über die Theorien der gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit habe ich übrigens auch!
Vielen Dank. Jede/r sollte eine Einführung in die Theorie der gesellschaftlichen Konstruktion von Wirklichkeit besitzen. Das kann dann unter konstruktivistisch wahrgenommene wackelnde Tischbeine geschoben werden.
Eine super Idee! “Oder der Tisch müsste mal repariert werden!” ; )
Ich kann mich der Simon nur anschließen – Du musst ein Buch schreiben, aber das natürlich nicht für das Tischbein!
gback: Woanders – diesmal mit einem Keller, einem Spitzer, einem Kochlöffel und anderem | Herzdamengeschichten
Göttlich! Ich habe mich köstlich amüsiert. Kennst du unseren Keller? Kam mir gerade so vor. Der müsste auch mal aufgeräumt werden.
Viele Grüße aus Hamburg.
Vielen Dank. Ich habe das Gefühl, es gibt in Deutschland einige dieser Keller. Die müssten alle mal aufgeräumt werden. Viele Grüße aus Berlin zurück.
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gback: #aufAugenhöhe: Putzen ist erlernt und nicht vererbt | mama mit macken