Corona-Föhrien 2020 – Tag 5: Von unpolitischen Musikern und Schafen, funktionaler Supermarkt-Arbeitsteilung, lebensgefährlichem Wikinger-Schach, einem alten, grinsenden Bekannten und Leo Lausemaus

Der (fast) alljährliche Urlaubsblog. Diesmal nicht live, aber dafür in Farbe und HD. Zur besseren zeitlichen Orientierung sei erwähnt, dass der Urlaub Ende Juni / Anfang Juli stattfand. Die kompletten Beiträge finden Sie hier.


Schafe, Mark Forster und die Politik

„Guten Morgen, wie geht’s so?“ Es ist kurz nach acht und ich versuche, auf meiner Deich-Joggingrunde Konversation mit den freilaufenden Schafen zu betreiben. Sie bleiben einfach regungs- und wortlos stehen. Eigentlich ist das schon ein Fortschritt, denn sonst sind sie immer hektisch davongelaufen, wenn ich ihnen zu nahe gekommen bin. Ein bisschen bewundere ich die Schafe dafür, wie gelassen sie meine Besuche nehmen. Ich wäre nicht so entspannt, wenn ein Schaf durch unser Wohnzimmer laufen würde.

Allerdings finde ich auch, dass die Schafe manchmal schon etwas zu stoisch auf meine Anwesenheit reagieren. Fast schon gleichgültig. Es könnte fast der Eindruck entstehen, es sei ihnen egal, ob ich da bin oder nicht. Das tut dann schon ein wenig weh. Ab und an ein „Hallo“ wäre schon schön. Oder überhaupt irgendeine Art von Reaktion.

Zum Laufen höre ich heute den „Deutschland3000“-Podcast, für den sich die Journalistin Eva Schulz mit Menschen aus Pop, Politik und Gesellschaft trifft. Zugegebenermaßen bin ich mit Mitte 40 nicht wirklich die Zielgruppe von „Deutschland3000“. Das Format richtet sich eher an jüngere Menschen. Aber es schadet ja nicht, sich das trotzdem anzuhören, um auf dem Laufenden zu bleiben, wie die Jugend so tickt und was sie umtreibt. Vor allem interessiert es mich, ob noch ROFL und LOL gesagt wird. Oder ROFL-LOL. Laut meinen Kindern hat noch nie jemand ROFL-LOL gesagt, ich solle das auch nicht tun, vor allem nicht, wenn sie dabei sind und nie, wirklich nie, nie, niemals in der Öffentlichkeit.

In der Podcast-Folge diskutiert Eva Schulz mit dem Musiker Mark Forster unter anderem die Frage, ob er zu unpolitisch sei.

Mark Forster findet, es sei letztendlich sinnlos, wenn er auf der Bühne sagt, Nazis seien scheiße, weil das niemanden davon abhalte, die AfD zu wählen. Er überlegt außerdem, dass er mit seinen Liedern über Liebe und gute Gefühle vielleicht Menschen auch eine Botschaft vermittelt, dass es gut ist, in einer freien, liberalen Gesellschaft zu leben.

Ob das tatsächlich ausreicht, vermag ich nicht zu sagen. Meine Botschaft wäre in diesem Sinne: „Käsekuchen für alle!“ Das ist gemeinschaftsstiftend und kann Grenzen, Differenzen und Meinungsverschiedenheiten überwinden. Ich bin mir aber nicht ganz sicher, ob das als Forderung ausreichen würde, um damit in die nächste Bundestagswahl zu ziehen. (Die Gefahr, sich einen Shitstorm von empörten Laktoseintoleranten einzuhandeln, wäre wahrscheinlich zu groß.)

„Wisst ihr, was auch eine gute politische Botschaft ist?“, frage ich die Schafe im Vorbeilaufen. Keine Reaktion. „Schafe an die Macht!“, rufe ich. „Dann wäre die Welt ein friedlicherer, ein gerechterer, ein besserer Ort.“ Ein Schaf schüttelt den Kopf, ein anderes verdreht die Augen, der Rest grast unbeeindruckt weiter. Nun gut, war ja nur eine Idee. Vielleicht ist „Käsekuchen für alle“ doch der bessere Slogan.

Funktionale Arbeitsteilung im Supermarkt

Bevor wir zum Strand gehen, müssen wir noch ein paar Einkäufe erledigen. Vor unserem Urlaub war die Frau mehr als drei Monate nicht im Supermarkt. Durch ihre Herzerkrankung gehört sie zu den Risikogruppen, die sich besser nicht mit Corona infizieren sollten, und deswegen habe ich das Einkaufen alleine übernommen. Das ist jetzt kein Grund für Standing Ovations, denn immerhin gab mir das die Möglichkeit, zwei Mal in der Woche die Wohnung zu verlassen. Okay, das bedeutete allerdings auch, zwei Mal in der Woche auf andere Menschen zu treffen, und das kann dann schon mal zu der Erkenntnis führen, dass, sich alle Güter des täglichen Bedarfs liefern zu lassen und nie wieder die Wohnung zu verlassen, eigentlich eine recht attraktive Alternative zum Einkaufen gehen ist.

In ihrer 100-tägigen Supermarkt-Abstinenz hat die Frau die Kulturtechnik des Einkaufens aber nicht verlernt und wir können unsere bewährte funktionale Arbeitsteilung praktizieren. Ihre Aufgabe besteht darin, verschiedene nachhaltig und unter Wahrung des Tierwohls hergestellte Produkte auszusuchen, die allesamt dem höherpreisigen Warensegment zuzuordnen sind. Mir obliegt es wiederum, unmerklich mit dem Kopf zu schütteln – aber nicht so unmerklich, dass sie es nicht merkt – und etwas von „die billigen Lebensmittel sind auch in Ordnung und entsprechen der deutschen Lebensmittelhygieneverordnung“ zu murmeln, als würde ich mich als Pressesprecher von Julia Klöckner bewerben. Die Frau tut dann einfach so, als würde sie denken, ich runzle die Stirn, weil ich aus welchen Gründen auch immer – nach 23 Jahren Beziehung hinterfragst du manches besser nicht mehr – gerade einen chinesischen Faltenhund imitiere und legt die Sachen trotzdem in den Einkaufswagen.

Damit hier keine Missverständnisse aufkommen: Ich möchte auf gar keinen Fall den Eindruck erwecken, die Frau sei verschwenderisch und würde Geld zum Fenster hinausschmeißen. Das ist nicht der Fall, sie legt einfach wert auf hochwertige Lebensmittel, die unter ökologisch und ethisch untadeligen Bedingungen produziert werden, und das ist auch richtig so. Das eigentliche Problem ist eher, dass ich einfach schon von klein auf ein sehr kostenbewusster Mensch bin. (Eine Formulierung, die vorteilhafter klingt, als „Er war schon als Kind krankhaft geizig.“) Eine Eigenschaft die dich zwar bei Finanzministern recht populär macht, nicht aber unbedingt bei der eigenen Familie während des Großeinkaufs.

Die Kinder suchen derweil die Lebensmittel und Produkte zusammen, die im Urlaub für eine ausgewogene Ernährung essenziell sind: Schokocreme, Erdnussbutter, Kekse und Chips. Falls Sie sich jetzt fragen, was das bitteschön mit ausgewogener Ernährung zu tun haben soll, sei Ihnen gesagt, dass die Urlaubs-Ernährungspyramide etwas anders gestaltet ist, als die für den normalen Schul- und Arbeitsalltag. Im Urlaub muss mehr Wert auf Nahrungsmittel gelegt werden, die größtenteils aus kurzkettigen Kohlenhydraten, ungesättigten Fetten und Weißmehl bestehen. Solche Lebensmittel sprechen direkt das Belohnungszentrum im Gehirn an, was zu guter Stimmung führt, die ja für das Gelingen eines Urlaubs nicht unwichtig ist. (Die Stimmung ist allerdings nicht mehr so gut, wenn du nach dem Urlaub auf die Waage steigst oder versuchst, eine frischgewaschene Jeans anzuziehen.)

Die Kinder sorgen somit dafür, dass wir für die nächsten Tage leckere Sachen zu essen haben, und damit erfüllen sie ihre Aufgabe in unserer funktionalen Einkaufs-Arbeitsteilung.

Wikinger-Schach. Oder: Rette sich wer kann!

Wir haben am Strand mal wieder neue Nachbar:innen. Den Strandkorb rechts von uns belegt jetzt nicht mehr die Kindermeute, sondern eine drei-Generationen-Familie mit Großeltern, Eltern und zwei Kindern. Das Mädchen ist ungefähr dreizehn, der Junge circa zehn. Das heißt, ihr Alter kann irgendwo zwischen sechs und zwanzig liegen, denn im Einschätzen des Alters von Kindern bin ich noch schlechter als bei Erwachsenen.

Die beiden Kinder spielen Wikinger-Schach. Ich schaue ihnen zu und überlege, wie ich ihr Talent für dieses Spiel möglichst wertschätzend ausdrücken kann. Vielleicht so: Möglicherweise können sie ja hübsch malen.

Bei der nächsten Partie steigen die Eltern und Großeltern mit ein und es wird schnell klar, dass das mangelhafte Wikinger-Schach-Können anscheinend genetisch bedingt ist und in der Familie von Generation zu Generation weitergetragen wird. Aber das ist ja auch nicht schlimm. Nicht jede:r muss gut im Wikinger-Schach sein. Ein bisschen besser wäre allerdings schon gut, denn die Holzklötze und -stäbe schlagen gefährlich nahe an unserem Strandkorb ein und es dauert sicherlich nicht mehr lange, bis mir einer davon den Schädel spalten wird. Vielleicht sollte ich mich besser in Sicherheit bringen. Ich könnte zum Beispiel in den Buchladen gehen und für unsere neuen Strandkorbnachbar:innen ein paar Malbücher kaufen.

Kuck mal, wer da grinst

In der Strandkorbreihe hinter uns, erblicke ich einen alten Bekannten: Grinse-Ole. Der hat vor zwei Jahren auch schon mit seiner Familie Urlaub auf Föhr gemacht. Ich weiß nicht, ob er wirklich Ole heißt, aber damals trug er häufiger ein T-Shirt, auf dem groß Ole stand. Daraus habe ich Sherlock-mäßig geschlossen, dass es wohl sein Name ist. Warum sollte er das T-Shirt sonst tragen? Ich besitze ja auch keine Oberteile, auf denen Dieter oder Waldemar steht.

Und gegrinst hat Ole immer. So richtig breit. Ununterbrochen. Wie eine Mischung aus Michael Fassbinder und dem Beißer aus den James-Bond-Filmen. Das war etwas irritierend. Warum grinst ein Mensch pausenlos? Okay, vielleicht weil er total nett ist und einfach immer gute Laune hat. Aber das macht einen ja auch irgendwie verdächtig. Das geht eigentlich nur mit Drogen. Vielleicht rührt Grinse-Ole sein Müsli ja immer mit Kokain an.

In den letzten zwei Jahren war Grinse-Ole nicht untätig. Er trägt ein kleines Baby, das nur wenige Monate alt ist, auf dem Arm. (Es ist sein drittes Kind.) Trotzdem strahlt Ole immer noch die gleiche jugendliche Fitness und Vitalität aus wie beim letzten Mal. Beneidenswert. Ich selbst bin bei jedem der Kinder in den ersten zwölf Monaten nach der Geburt zehn Jahre gealtert. Seither werde ich in besseren Momenten für den jüngeren Bruder meines Vaters gehalten. Und in den schlechteren für den älteren.

Leo Lausemaus meets John McEnroe

Die Familie zu unserer Linken gibt sich heute sportlich. Die Eltern spielen Beachtennis und die zweijährige Tochter darf als Ballmädchen mitmachen. Allerdings vergessen der Vater und die Mutter das immer wieder und heben den Ball meistens selbst auf, bis die Kleine einen John-McEnroe-Gedächtnis-Tobsuchtsanfall bekommt.

Der Vater versucht, das Mädchen schnell wieder zu beruhigen, denn so einen kleinkindlichen Wutanfall in der Öffentlichkeit empfinden Eltern ja meistens als peinlich, quasi als Beweis für erzieherische Inkompetenz und elterliches Versagen. Ich beobachte ihn mitfühlend und denke nur: „Das muss dir nicht unangenehm sein, das haben alle Eltern schon mal mitgemacht.“ Und dann denke ich selbstverständlich noch: „Zum Glück ist es nicht mein Kind.“

Die Zweijährige scheint heute aber ohnehin ein wenig unleidlich zu sein. Vielleicht hat sie schlecht geschlafen. Oder sie ist hungrig. Oder ihr sitzt einfach ein Pups quer. Geht einem ja auch als Erwachsenem manchmal so. Auf jeden Fall ist die Kleine im „Wille nich“-Modus.

„Möchtest du nicht lieber deinen Pulli ausziehen, Mäuschen? Das ist doch viel zu warm?“
„Wille nich!“

„Spätzchen, ich muss dich noch eincremen.“
„Wille nich!“

„Du musst mal was trinken, Schatz, du hast doch bestimmt Durst.“
„Wille nich!“

„Bärchen, du kannst die Mütze leider nicht abziehen, die Sonne brennt viel zu heiß.“
„WILLE NICH!“

Die Mutter lässt sich aber nicht aus der Ruhe bringen. Bewundernswert. Möglicherweise hat sie heute Morgen ihr Müsli mit Valium angerührt.

Jetzt schlägt sie ihrer Tochter vor, sie könne ihr aus dem neuen Leo-Lausemaus-Buch vorlesen. „Wille nich!“ Dagegen ist nichts zu sagen, das spricht viel mehr für den guten Büchergeschmack des Mädchens. Wobei ihr Leo Lausemaus eigentlich sympathisch sein müsste, denn sie haben etwas gemeinsam. Leo Lausemaus will nämlich auch nie etwas.

Zumindest war das so in dem Leo-Lausemaus-Buch, das wir früher hatten. In der Geschichte ging es darum, dass Leo Lausemaus nicht das machen will, was seine Mutter ihm sagt. Morgens nicht das Gesicht waschen, seinen Kakao nicht trinken, sich nicht anziehen, das Zimmer nicht aufräumen und so weiter und so fort. Ich weiß nicht mehr, wie das Buch hieß. Wahrscheinlich „Leo Lausemaus hat kein‘ Bock“. Oder „Leo Lausemaus ist richtig scheiße drauf“.

Mir war diese Leo-Lausemaus-Reihe irgendwie suspekt. Was sollte das sein? Eine Art Fortbildung für Kita-Kinder? Ein Life-Coaching für die Trotzphase? Eine Art „50 Wege anti zu sein und Spaß dabei!“ Oder „Wie treibe ich meine Eltern am effektivsten in den Wahnsinn?“ Ich habe das Gefühl, die meisten Kinder können das auch ohne die Nachhilfe von Leo Lausemaus ganz gut.

Deswegen hatten wir auch nur dieses eine Leo-Lausemaus-Buch. Irgendwann war es dann nicht mehr aufzufinden. Ich weiß wirklich nicht, wo es abgeblieben ist.


Unser tägliches Kniffel-Spiel gib uns heute

Der Sohn verteidigt knapp seine Führung und es gibt leichte Tendenzen zu einer gegenderten Zweiklassengesellschaft, aber noch ist die Challenge ja nicht vorbei.

Sie möchten informiert werden, damit Sie nie wieder, aber auch wirklich nie wieder einen Familienbetrieb-Beitrag verpassen?

53 Kommentare zu “Corona-Föhrien 2020 – Tag 5: Von unpolitischen Musikern und Schafen, funktionaler Supermarkt-Arbeitsteilung, lebensgefährlichem Wikinger-Schach, einem alten, grinsenden Bekannten und Leo Lausemaus

  1. Ich möchte auch mal eine Theorie zu Grinse-Ole aufstellen:

    Liegt am Namen! 😉 Unser Zweijähriger grinst nämlich- zwischen seinen Wutanfällen- auch immerzu! Wirklich! Insofern freue ich mich, ob der Aussicht, dass er sich das später erhalten kann…

    Überprüfen kann ich die Theorie leider selbst nicht, denn hier ist der Name extrem selten. 😄
    Ach und zu Leo… “lifecoach” trifft es voll. Wir bekamen just das erste Buch dieser Reihe und ich bete, es möge auch das Letzte bleiben… als Deutsch-/Geschichtslehrerin bin ich nämlich grundsätzlich gegen Bücherverbrennung 😉!

Likes

Erwähnungen

  • Der (fast) alljährliche Urlaubsblog. Diesmal nicht live, aber dafür in Farbe und HD. Zur besseren zeitlichen Orientierung sei erwähnt, dass der Urlaub Ende Juni / Anfang Juli stattfand. Die kompletten Beiträge finden Sie hier.

    Eine Radtour, die ist lustig, aber nur ein kleines bisschen

    „Ich habe da eine super App empfohlen bekommen, mit der kannst du dir ganz einfach Radtouren zusammenstellen.“ Das hatte die Frau vor ein paar Wochen beim Abendessen in Berlin gesagt. Die Kinder und ich schauten uns alarmiert an. „Für Föhr habe ich schon mal einen schönen Rundkurs rausgesucht“, fuhr sie ungerührt fort. Unser Unbehagen wuchs und wir rutschten nervös auf unseren Plätzen hin und her, was die Frau aber gekonnt ignorierte. „Sind auch nur 40 Kilometer.“ Das war der Moment, als wir richtig panisch wurden, denn mit Familien-Radausflügen haben wir nur so mittelmäßig gute Erfahrungen gemacht.

    View this post on Instagram Guten Morgen, Morgen! #latergram #20200703 #coronaföhrien #föhr A post shared by Familienbetrieb (@betriebsfamilie) on Aug 13, 2020 at 11:23pm PDT

    Da die Temperaturen heute mal wieder eher ins Herbstliche spielen, es aber wenigstens nicht regnen soll, beschließen wir, es heute mit der Radtour anzugehen. Wobei „beschließen wir“ vielleicht etwas zu sehr nach gemeinschaftlich getroffener Entscheidung klingt. Tatsächlich schlug die Frau die Radtour vor, und da uns anderen außer „Muss das wirklich sein?“ kein gutes Gegenargument und auch kein besserer Vorschlag für eine alternative Freizeitgestaltung einfielen – mit seiner Idee, den ganzen Tag am Handy zu zocken, konnte sich der Sohn nicht durchsetzen –, liehen wir also Räder aus und machten uns auf den Weg.

    Im Feldversuch stellt sich heraus, dass die „super App“ doch nicht ganz so super ist. Wir sind noch nicht wahnsinnig lang unterwegs, da hat die App uns schon zum siebten Mal zum Umdrehen aufgefordert. Es ist nicht auszuschließen, dass dies damit zusammenhängt, dass die Frau, die vorneweg fährt, direkt am Anfang falsch losgefahren ist. Die App will sich aber partout nicht darauf einlassen, den Rundkurs aus der anderen Richtung zu befahren, sondern weist uns beharrlich darauf hin, wir mögen bitte umkehren. Die Frau hält an, fummelt hektisch am Handy rum, murmelt ein paar unterdrückte Flüche und fährt schließlich mit den Worten „Das müsste eigentlich auch gehen.“ wieder los.

    Ich weiß ja nicht, wie Ihnen das geht, aber bei einer Routenplanung finde ich die Verwendung des Konjunktivs und dann noch in Verbindung mit dem Wort „eigentlich“ nicht sehr vertrauenserweckend. So willkürlich, wie die Frau die nächsten Abzweigungen nimmt, habe ich zeitweise das Gefühl, sie würfelt das aus. Es würde mich nicht wundern, wenn sich unsere 40km-Radwanderung zu einer stattlichen Tour-de-France-Etappe auswachsen würde. (Dazu müssten wir die Insel zwar vier- bis fünfmal umrunden, aber zum jetzigen Zeitpunkt möchte ich das nicht ausschließen.)

    View this post on Instagram Noch nie ‘ne Kuh gesehen, oder was? #latergram #20200703 #coronaföhrien #föhr A post shared by Familienbetrieb (@betriebsfamilie) on Aug 14, 2020 at 3:06am PDT

    Aber ich sollte mich nicht beschweren. Schließlich könnte ich selbst unser kleines Peloton anführen und mir von der App den Weg weisen lassen. Tue ich aber nicht. Das würde nämlich auch nicht viel ändern. Sehr wahrscheinlich würde es die Situation noch verschlimmern. Ich verfüge nämlich über den Orientierungssinn einer Stubenfliege mit Links-rechts-Schwäche und chronischem Schwipp-Schwindel.

    Landkarten sind mir auch keine große Hilfe. Ich kann Entfernungen nicht abschätzen, brauche ewig, bis ich meinen Standort finde – „ewig“ ist hier übrigens wörtlich zu verstehen –, und halte die Karte prinzipiell erstmal falsch rum. Falls es so etwas wie eine Landkarten-Leseschwäche gibt, habe ich sie definitiv.

    Daher sind Navigationssysteme für mich eine segensreiche Erfindung, denn es ist für mich eine riesige Erleichterung, wenn mir jemand vorsagt, wie ich von A nach B komme. Allerdings auch nicht immer. Wenig hilfreich ist es zum Beispiel, wenn das Navi sagt: „Fahren Sie Richtung Norden zur Ludwig-Klein-Allee.“ Wo zur Hölle soll die Ludwig-Klein-Allee sein? Wenn ich das wüsste, bräuchte ich das Navi wahrscheinlich gar nicht. Und woher soll ich bitteschön wissen, wo Norden ist? Bin ich ein verdammter Kompass, oder was? Warum sagt es nicht gleich „Fahren sie grob Richtung 52° 31′ 50.995″ N 13° 20′ 45.154″ E, dann werden Sie Ihr Ziel mit etwas Glück erreichen. Fragen Sie zur Not unterwegs nochmal nach.“

    View this post on Instagram Are you talking to me? #latergram #20200703 #coronaföhrien #föhr A post shared by Familienbetrieb (@betriebsfamilie) on Aug 14, 2020 at 3:10am PDT

    Nach rund 20 Minuten Radelei kann festgehalten werden: Der Spaßfaktor unseres Familien-Ausflugs ist ausbaufähig. Die ansonsten sehr resiliente Frau wirkt leicht angespannt, weil sie sich von der App gegängelt fühlt, die Tochter klagt, ihre Handgelenke täten wegen des komischen Lenkers weh, der Sohn merkt an, dass Radfahren doch weniger Spaß macht, als er vorher gedacht hat – und ich glaube, seine Erwartungen diesbezüglich waren schon nicht besonders hoch –, und ich denke derweil darüber nach, dass wir für die Drei-Tage-Leihgebühr für die vier Räder fast 100 Euro bezahlt haben. Eigentlich hätte ich das Geld auch verbrennen können. Dann wäre der Schein zwar auch futsch, aber wir hätten zumindest weniger Stress.

    Wer auch keinen guten Tag hat, ist die Fahrrad-App. Sie fragt sich gerade bestimmt, warum sie nichts Ordentliches geworden ist, zum Beispiel Fortnite Battle Royal oder FIFA mobile. Halt irgendetwas, was den User:innen Spaß macht, und wofür sie der App dann eine Masse 5-Sterne-Ratings geben. Stattdessen muss sie vier vollkommen plan- und orientierungslose Vollhonks, deren intellektuellen Informationsverarbeitungsfähigkeiten nicht einmal dazu ausreichen, um die einfachsten Anweisungen zu befolgen, über eine Nordseeinsel lotsen.

    Wahrscheinlich macht die App heute die fünf Phasen der Trauer durch:

    Leugnen: „Nein, dass kann nicht sein, dass die jetzt zum fünften Mal genau in die entgegengesetzte Richtung gefahren sind, als ich angesagt habe. Das ist einfach nicht möglich, das kann nicht wahr sein. Nein, nein, nein!“Wut: „Habt ihr Penner die falsche Spracheinstellung gewählt und ihr lasst mich die ganze Zeit Esperanto labern, so dass ihr mich nicht versteht? Oder denkt ihr Dumpfbrumsen so langsam, dass ihr schon an der Kreuzung vorbei seid, wenn die Information in eurem Gehirn ankommt, dass ihr abbiegen müsst? Trottel!“Verhandeln: „Einmal, nur einmal könntet ihr doch darauf hören, was ich euch sage. Das wäre voll nett. Ich könnte euch auch den Weg zu einer Eisdiele zeigen.“Depression: „Warum? Warum ich nur? Wir werden nie wieder Zuhause ankommen, irgendwann ist der Akku leer und das war’s dann mit mir.“Akzeptanz: „Ach, fuck it, ich sage einfach irgendwas. Ihr rafft es ja sowieso nicht. Wird schon schiefgehen.“Nach knapp drei Stunden erreichen wir schließlich wieder unsere Ferienwohnung. „Sie haben ihr Ziel erreicht“, verkündet die Rad-App und seufzt vor Erleichterung. Und wenn ich mich nicht täusche, höre ich noch ein leises: „Und jetzt deinstalliert mich bitte!“

    Grab! Ein! Loch!

    Die Temperaturen sind zwar immer noch nicht so prickelnd, aber wir gehen trotzdem nochmal an den Strand. Dort sehe ich von Weitem Grinse-Ole und seine Familie. Seine Frau sitzt mit dem Baby im Strandkorb, er spielt mit den beiden größeren Kindern, die circa drei und sechs sind. Das Spiel scheint eine Art Manchester-Kapitalismus-im-frühen-19.-Jahrhundert-Live-Simulation zu sein. Grinse-Ole muss die Rolle des ausgebeuteten Arbeiters übernehmen, seine Kinder sind tyrannische Fabrikbesitzer:innen. Gerade ist Grinse-Ole dabei, ein Loch zu graben. Er fragt, wie tief er buddeln soll, der Sohn sagt lapidar: „Bis du unten bist.“ Gut, die Angabe ist etwas unpräzise, aber da die Tochter die ganze Zeit ruft: „Grab‘, Papa, grab‘!“, weiß Grinse-Ole zumindest, dass er noch lange nicht fertig ist.

    Nachdem die beiden der Meinung sind, dass er genug gegraben hat, nötigen sie ihn, mit einem Eimer, Wasser aus dem Meer zu holen und in das Loch zu schütten. Seinen Einwand, das Wasser würde immer im Sand versickern, lassen sie nicht gelten: „Ist doch nicht schlimm, das macht trotzdem Spaß!“ Ich bin mir nicht ganz sicher, ob Grinse-Ole dieser Aussage uneingeschränkt zustimmt, denn er ist es, der dutzende Male und immer mit einem Kind auf den Schultern oder dem Arm zum Meer latschen muss. Aber Ole soll das Ganze einfach positiv sehen: Das Lochgraben und Wasserholen ist ein spitzen Work-out und hilft ihm dabei, in Form zu bleiben. Zugegebenermaßen eine rosarote Sichtweise, die einem recht leicht fällt, wenn du im Strandkorb sitzt und keine Löcher buddeln und kein Wasser schleppen musst.

    View this post on Instagram Water, waves, clouds, camera, TV. #latergram #20200703 #coronaföhrien #föhr A post shared by Familienbetrieb (@betriebsfamilie) on Aug 14, 2020 at 7:10am PDT

    Das mysteriöse Tatoo

    Auch gut in Form ist der Typ, der sich ungefähr fünfzehn bis zwanzig Meter vor unserem Strandkorb mit seiner Freundin niedergelassen hat. Bei den beiden erkenne selbst ich, dass sie nicht unser Alter sind, sondern schätzungsweise fünf Jahre jünger. (Also 20).

    Der Typ hat ein ziemliches beeindruckendes Tattoo, das sich über seinen gesamten Brustkorb erstreckt. Ungefähr in der Mitte, wo der Solarplexus ist, leuchtet etwas rötlich. Aus der Entfernung kann ich leider nicht erkennen, was das Tattoo genau darstellt. Es könnte ein großer Greifvogel mit ausgebreiteten Schwingen sein, und was da leuchtet, ist vielleicht sein Schnabel. Oder es ist ein Suchbild und der rote Punkt ist Walter, den der Typ schon seit Jahren erfolglos auf seiner Brust sucht.

    Möglicherweise hatte der Tattoo-Artist aber einfach einen sehr lange andauernden Schluckauf und hat unkontrolliert Kringel und Kreise in den Oberkörper gestochen. Das kann auch gut sein.

    Stadt, Land, Stuss

    Nach dem Abendessen spielen wir „Stadt, Land, Vollpfosten“. Das funktioniert wie das normale „Stadt, Land, Fluss“ nur mit etwas außergewöhnlicheren Kategorien. Zu meinem Leidwesen sind aber Stadt, Land und Fluss als Kategorien gesetzt. Fluss ist der totale Horror für mich. Meine Erdkunde-Kenntnisse sind jetzt zwar nicht so ausgeprägt, dass ich mich Jemandem als Wer-wird-Millionär-Telefonjoker für Geographiefragen aufdrängen würde, aber meine Allgemeinbildung bewegt sich durchaus auf Kreuzworträtsel-Niveau und reicht für gängige Flüsse wie Rhein, Mosel und Donau. Spree, Isar und Alster sind mir ebenfalls bekannt. Zumindest normalerweise. Nicht aber unter dem Druck eines „Stadt, Land, Fluss“-Spiels. Dann ist der Bereich meines Gehirns, in dem die Flüsse abgespeichert sind, plötzlich total leer. Vollkommen blank. Da ist nichts mehr. Nada, nothing, rien, niente, niets, ничего, なんでもない, 毫无.

    Wahrscheinlich rührt meine Fluss-Phobie und -Amnesie daher, dass ich im Alter von circa neun oder zehn auf einem Paddelausflug mit einer befreundeten Familie im Altrhein gekentert bin. So ein traumatisches Erlebnis kann einen beim „Stadt, Land, Fluss“-Spielen schon mal blockieren.

    Die anderen Kategorien, die wir auswählen und mit denen ich hoffe, meine Fluss-Schwäche wettzumachen, sind die folgenden:

    SäugetiereSchimpfworteWas man heimlich machtKündigungsgrundTrennungsgrundDie Säugetiere-Kategorie ist natürlich etwas lame, bietet aber gute Anknüpfungspunkte für die anderen Kategorien, wie Sie gleich sehen werden. Zum Beispiel für die Kategorie Schimpfworte. Da kombinierst du die Tiere einfach mit einem ordinären Ausdruck für Hintern und schon hast du eine 1a-Beleidigung: Igelarsch, Eselarsch, Ponyarsch, Otterarsch, Stachelschweinarsch, Ziegenarsch und so weiter. Die anderen finden das zwar wenig originell, aber da sie die Frage verneinen, ob sie es für ein Kompliment hielten, wenn ich sie Dromedararsch nennen würde, zählen meine Antworten.

    Die Sachen, die die Kinder in der Was-man-heimlich-macht-Kategorie aufschreiben, klingen wiederum ein wenig, als hätte sich die Dr.-Sommer-Redaktion zum Brainstorming getroffen: Onanieren, Masturbieren, Fummeln, Fellatio, Petting oder Züngeln. Wenigstens scheinen sie im Sexualkundeunterricht aufgepasst zu haben.

    Längere Diskussionen gibt es, als die Frau in dieser Kategorie Fechten einträgt. Sie erklärt, wenn du nicht fechten kannst, möchtest du dabei nicht gesehen werden und machst das deswegen immer nur heimlich. Das ergibt durchaus Sinn. Das ist auch der Grund, warum Sie mich in der Öffentlichkeit niemals beim Yoga, Square Dancing oder Hummer essen sehen.

    Ich lasse mich für die Was man heimlich macht-Kategorie wieder von den Säugetieren inspirieren. Igel küssen, Esel küssen, Pony küssen, Otter küssen, Stachelschweine küssen, Ziegen küssen. Die anderen finden das zwar grenzwertig, aber stimmen mir zu, dass du definitiv nicht dabei beobachtet werden willst, wie du ein Frettchen küsst. Eine super Strategie von mir. Trotzdem sollte ich mich vielleicht mal mit einem Therapeuten unterhalten. Bestimmt hängt diese Tiere-küssen-Obsession damit zusammen, dass mir meine Eltern früher kein Haustier erlaubt haben.

    Besonders genial ist aber mein Schachzug, die Antworten aus der Heimlich-machen-Kategorie einfach auch bei Kündigungsgrund und Scheidungsgrund einzutragen. Erneut gibt es Proteste vom Rest der Familie, aber ich kann überzeugend argumentieren, dass du ja wohl deinen Job verlieren wirst, wenn du auf der Arbeit einen Esel küsst. (Insbesondere, wenn du Tierpfleger bist.)

    Bei der Kategorie Scheidungsgrund sage ich zur Frau, dass sie sich sicherlich von mir trennen würde, wenn ich ein Stachelschwein küssen würde. Darauf entgegnet sie, mit Hinblick auf meinen Bart, könne durchaus argumentiert werden, dass sie seit über 20 Jahren sogar Sex mit einem Stachelschwein hat, und ich mich ja auch nicht scheiden lassen würde. Die Kinder wissen nicht so recht, ob sie lachen oder sich übergeben sollen. Vielleicht sollten wir doch lieber etwas anderes als „Stadt, Land, Fluss“ spielen.

    Unser tägliches Kniffel-Spiel gib uns heute

    Return of the Tochter, die nach der Corona-Kniffel-Challenge auch die Urlaubs-Challenge für sich entscheiden will. Und nein, die Frau hat entgegen anderslauternder Meldungen nicht eine Runde ausgesetzt.

    ###

    Alle Beiträge zum Corona-Föhrien-Blog finden Sie hier.

    Sie möchten informiert werden, damit Sie nie wieder, aber auch wirklich nie wieder einen Familienbetrieb-Beitrag verpassen?

    (function() {
    window.mc4wp = window.mc4wp || {
    listeners: [],
    forms: {
    on: function(evt, cb) {
    window.mc4wp.listeners.push(
    {
    event : evt,
    callback: cb
    }
    );
    }
    }
    }
    })();
    E-Mail-Adresse:

    Wenn du ein Mensch bist, lasse das Feld leer:

    Christian HanneChristian Hanne, Jahrgang 1975, hat als Kind zu viel Ephraim Kishon gelesen und zu viel „Nackte Kanone“ geschaut. Inzwischen lebt er mit seiner Frau und seinen beiden Kindern in Berlin-Moabit. Kulinarisch pflegt er eine obsessive Leidenschaft für Käsekuchen. Sogar mit Rosinen. Ansonsten ist er mental einigermaßen stabil.
    Im September erscheint sein neues Buch „Papa braucht ein Fläschchen“. Ebenfalls mehr als zu empfehlen sind „Hilfe, ich werde Papa! Überlebenstipps für werdende Väter“, „Ein Vater greift zur Flasche. Sagenhaftes aus der Elternzeit“ sowie „Wenn’s ein Junge wird, nennen wir ihn Judith“*. (*Affiliate-Links)
    Gefällt mir:Gefällt mir Wird geladen…

    Ähnliche Beiträge

  • Julia Kropf sagt:

    Danke für diese Verlängerung des Urlaubs! 😎

Neuveröffentlichungen

Erwähnungen

  • Frau Mutterherz
  • walking_mp3_player

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert