Die DSGVO, so beliebt wie Rosinen, Rosenkohl und Kapern. Daher auch diese Woche der Hinweis: Durch die eingebetteten Tweets kann Twitter irgendetwas herausfinden, was Sie im Internet so machen. Und zwar weil ich die Tweets nicht hinter leserinnenunfreundlichen opt-in-Verfahren versteckt habe. Wenn Sie das nicht möchten, ziehen Sie am besten schnell weiter. Allen anderen viel Spaß beim Lesen.
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Wie jeden Freitag, die besten Familien-Tweets und -Tröts der Woche. Auch diesmal ist die Auswahl gekennzeichnet durch Intransparenz, Subjektivität und Inkompetenz.
Die 7-Jährige wollte ein Gutenacht-Lied vorgesungen bekommen und ist nach 2 Minuten eingeschlafen.
Entweder ich bin verdammt gut oder verdammt schlecht!
Christian Hanne, Jahrgang 1975, hat als Kind zu viel Ephraim Kishon gelesen und zu viel “Nackte Kanone” geschaut. Inzwischen lebt er mit seiner Frau und seinen beiden Kindern in Berlin-Moabit. Kulinarisch pflegt er eine obsessive Leidenschaft für Käsekuchen. Sogar mit Rosinen. Ansonsten ist er mental einigermaßen stabil.
„Wissen macht: Hä?“, meine immer noch recht neue Infotainment-Rubrik mit weiterhin mittelmäßig wenig Info und mittelmäßig viel tainment zu Jahres- und Feiertagen, geschichtlichen Ereignissen sowie aktuellem Zeitgeschehen. Wer regelmäßig „Wissen macht: Hä?“ liest wird wahrscheinlich nicht klüger, aber auch nicht dümmer. Vielleicht.
14. Mai ist Muttertag. Der Tag, an dem Mütter geehrt und gefeiert werden, in der Hoffnung, sie vergessen dann, dass sie die restlichen 364 Tage im Jahr in schlechter bezahlten Jobs arbeiten, in gut bezahlten Jobs weniger Geld als Männer bekommen, mehr Haus- und Carearbeit als Väter übernehmen und dafür mit einem erhöhten Risiko von Altersarmut belohnt werden.
Sollten Sie der Meinung sein, die Schnittblumenindustrie und die Nazis haben den Muttertag erfunden, liegen Sie falsch. Aber auch ein bisschen richtig. Tautologische Sätze mit wenig Aussagekraft und noch weniger Erkenntnisgewinn. Willkommen bei „Wissen macht: Hä?“
In der neuesten „Wissen macht: Hä?“-Ausgabe erfahren Sie, was wirklich der Ursprung des mütterlichen Ehrentages ist, wie er nach Deutschland kam, was die beliebtesten Geschenke zu Muttertag sind und noch viel mehr. Wie immer – das heißt, wie in der ersten Ausgabe – ist das hier alles knallhart recherchiert, streng evidenzbasiert und so fundiert, dass sie es mit ihrem neuen Wissen locker bis zur 50-Euro-Frage bei Günther Jauch schaffen.
Christian Hanne, Jahrgang 1975, hat als Kind zu viel Ephraim Kishon gelesen und zu viel “Nackte Kanone” geschaut. Inzwischen lebt er mit seiner Frau und seinen beiden Kindern in Berlin-Moabit. Kulinarisch pflegt er eine obsessive Leidenschaft für Käsekuchen. Sogar mit Rosinen. Ansonsten ist er mental einigermaßen stabil.
Mütter, die sich Präsente und kleinere Aufmerksamkeiten zum Muttertag wünschen, müssen spätestens Mitte April ihre Partner und Kinder daran erinnern. Und nochmal Ende April, Anfang Mai, am Montag vor Muttertag und jeden Tag bis Samstagmorgen. Mit etwas Glück bekommen sie dann eines oder sogar mehrere der hier aufgeführten Geschenke.
Blumen: Das Number One Go-To-Geschenk an Muttertag. Mit Blumen zu Muttertag kannst du nichts falsch machen. Außer mit einem Strauß weiße Nelken. Die werden traditionell eher zu Beerdigungen verschenkt.
Pralinen: Nummer zwei unter den Evergreen-Muttertagsgeschenken. Damit machst du an Muttertag ebenfalls nichts falsch. Außer mit Mon Cherie. Die sind Ausdruck für Missachtung, mangelnde Wertschätzung und abgrundtiefen Hass und sollten weder zu Muttertag noch zu sonst irgendeiner Gelegenheit verschenkt werden.
Parfüm: Ebenfalls ein beliebtes Muttertagsgeschenk, aber durchaus heikel. Schließlich signalisiert es: „Du könntest besser riechen.“
Gutschein: Falls du als Kind den Muttertag vergessen hast, kannst du einfach morgens noch schnell einen Block mit Post-its beschriften. „1x Müll runterbringen“, „1x Geschirrspülmaschine ausräumen“, „1x Altglas wegbringen“, „1x Rücken kraulen“. Zack, fertig ist das Muttertagsgeschenk. Mütter sollten solche Gutscheine gut aufheben und 20 Jahre später einlösen.
Frühstückstisch decken: Was gibt es Schöneres als sonntagmorgens vom Duft frischen Kaffees geweckt zu werden, den die Kinder aufgebrüht haben? Genau, ihn nicht trinken zu müssen. Das ist noch viel schöner, denn Kinder sind die schlechtesten Kaffeekocher der Welt. Entweder sie benutzen so wenig Pulver, dass es geschmacklich vorteilhafter wäre, abgestandenes Spülwasser zu trinken. Oder sie hauen so viel Pulver in den Filter, dass dir die Überdosis Koffein den Herzschlag auf die Geschwindigkeit eines Scooter-Songs hochpeitscht.
Selbstgebackener Kuchen: Wenn Kinder zu Muttertag einen selbst gebackenen und bunt verzierten Schokokuchen überreichen, geht Müttern das Herz auf. Solange sie darüber hinwegsehen, dass er so unförmig ist, als hätte sich ein Nilpferd daraufgesetzt. Außerdem ist er mit einem Zentner bunter Streuseln und Zuckerperlen dekoriert, als hätte sich ein Einhorn mit schwallartigem Brechdurchfall darüber übergeben. Verzehrt werden sollte der Muttertagskuchen besser auch nicht. Entweder ist er steinhart gebacken, so dass beim Reinbeißen der Verlust der Schneidezähne droht, oder noch halb roh und birgt die Gefahr einer mittelschweren Salmonellenvergiftung.
Selbstgemalte Bilder: Kinder im Alter von zwei bis fünf bringen zum Muttertag häufig selbstgemalte Bilder aus der Kita mit. (Und falls nicht, bekommt der JU-Vorsitzende Tilman Kuban einen Tobsuchtsanfall und stellt die Kita-Leitung persönlich zur Rede.) So ein selbstgemaltes Bild ist herzallerliebst. Zumindest im Auge der betrachtenden Mütter. Für alle anderen sehen die „Kunstwerke“ aus, als seien sie von einem zugekokster Waschbären gemalt worden, und der Stil ist eine krude Mischung aus naiver Malerei, Kubismus, Ex- und Impressionismus.
Gedicht: Grundschulkinder verschenken zu Muttertag gerne Gedichte. Wenn die Mütter Glück haben, irgendein abgeschriebenes, wenn sie Pech haben einen selbstgereimten Gruß. Irgendetwas auf dem Niveau von „Kochen, waschen, bügeln, putzen – diesen Tag sollst du anders nutzen.“ plus ein paar Sätze, die sich auf Mama reimen. (Hammer, Klammer, Kammer) Oder auf Mutter. (Erdnussbutter, Fischkutter, Katzenfutter)
4) Everything Everywhere All at Once: Jeden Tag ist Muttertag, fast überall
Nicht auf der ganzen Welt fällt der Muttertag auf den zweiten Sonntag im Mai. Das ist ziemlich gut, denn so können Mütter durch geschicktes Umziehen mehrmals im Jahr Muttertag feiern.
Zum Beispiel im Februar in Norwegen, an den Märzwochenenden in Georgien, Bulgarien, Ägypten und Slowenien, im April wiederum in Armenien und Nepal, an den Maisonntagen in Angola, Südkorea, Mexiko, Samoa, Paraguay, Polen, Bolivien oder Nicaragua, im Juni dann in der Mongolei, in Luxemburg und Kenia. Im Juli sieht es mau aus, dafür wird im August in Thailand und Costa Rica gefeiert, der September muss wieder überbrückt werden, bevor es im Oktober nach Belarus, Malawi und Argentinien geht. Im November kann der Muttertag theoretisch in Russland begangen werden, aber vielleicht ist es besser darauf zu verzichten und stattdessen die Umzüge im Dezember nach Panama und Indonesien vorzubereiten.
Zugegebenermaßen ist dieses Muttertagshopping recht aufwändig. Dafür müssen Mütter aber sonntags nie selbst Frühstück machen. Allerdings gibt es nur Knäckebrot und Haferflocken ohne Milch, denn wegen der vielen Umzieherei ist kein Geld mehr übrig.
5) Quo vadis, Muttertag?
In Zeiten vielfältiger Familienmodelle wird der Muttertag zunehmend kritisch hinterfragt. Ob er noch zeitgemäß sei. Oder überkommene Geschlechterrollen beschönigt und zementiert. Von Familienforscher*innen gibt es Vorschläge, den Muttertag – und den Vatertag – durch einen Elterntag zu ersetzen. Das würde die Aufmerksamkeit stärker auf die Gleichstellung von Vätern und Müttern lenken.
Allein das Gedankenspiel, den Muttertag abzuschaffen, löst bei Tilman Kuban, Bayern-König Markus Söder und seinem Vize Hubert Aiwanger Schnappatmung aus. Das wirkt sich wiederum wenig förderlich auf ihr Denkvermögen aus. Markus Söder fabulierte beispielsweise kürzlich auf dem CSU-Parteitag: „Mutter ist mit Abstand das schönste Wort der Welt. Gibt es ein wichtigeres Wort?“ Ja, gibt es. Zum Beispiel Käsekuchen, Flutschfinger oder Ponyhof. Und dafür musste ich nicht einmal zehn Sekunden nachdenken.
Der Aiwanger Hubsi twitterte wiederum anscheinend in einer Art Fiebertraum: „Wer den Muttertag in Frage stellt, kommt mit seinem Leben nicht klar.“ Ob jemand, der ernsthaft der Ansicht ist, Deutschland wäre ein sichereres Land, wenn jeder anständige Mann und jede anständige Frau ein Messer in der Tasche trüge, darüber urteilen sollte, ob andere Menschen ihr Leben auf die Reihe bekommen, kann hier nicht vertieft erörtert, sondern nur stark verkürzt beantwortet werden: Nein, sollte er nicht.
Nun ist der Verzicht auf Muttertagsbasteleien sicherlich nicht die Lösung, um das Patriarchat und alle damit verbundenen Ungerechtigkeiten zu überwinden. Aber es ist bestimmt auch nicht der Untergang des Abendlandes, wenn wir anlässlich dieses Tages über Vielfalt und Rollenmodelle, Defizite bei der Gleichberechtigung oder über Begrifflichkeiten und ausschließende Sprache diskutieren.
Von daher, Tilman, Markus und Hubert: Wischt euch den Schaum vom Mund ab und dann schreibt ihr Mutti eine schöne Muttertagskarte. (Sofern ihr noch eine Mutti habt.) Da hindert euch niemand daran. Anschließend kümmert ihr euch bitte darum, das Ehegattensplitting zu canceln, Altersarmutsgefahren für Frauen zu minimieren und mehr Kinderbetreuungsplätze zu schaffen. Darüber freuen sich Mütter – und Nicht-Mütter – bestimmt mehr als über sinnbefreite Tweets oder Muttertags-Einlassungen an der Grenze zum Dadaismus.
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In diesem Sinne: Allen, die den Muttertag feiern, viel Spaß dabei, und allen, die ihn nicht feiern, einen schönen Sonntag!
Alle Folgen von “Wissen macht: Hä?” finden Sie hier.
Christian Hanne, Jahrgang 1975, hat als Kind zu viel Ephraim Kishon gelesen und zu viel “Nackte Kanone” geschaut. Inzwischen lebt er mit seiner Frau und seinen beiden Kindern in Berlin-Moabit. Kulinarisch pflegt er eine obsessive Leidenschaft für Käsekuchen. Sogar mit Rosinen. Ansonsten ist er mental einigermaßen stabil.
Zum Sonntagabend gibt es meine semi-originellen Gedanken und semi-spannenden Erlebnisse aus der abgelaufenen Woche. Manchmal banal, häufig trivial, meistens egal.
01. Mai 2023, Berlin
Tag der Arbeit. Meine Frau und ich nutzen den arbeitsfreien Tag, um Wandern zu üben. Hört sich komisch an und ist es auch. Aber nicht im Sinne von lustig, sondern wie bei merkwürdigen Sonderlingen. Anfang Juni besuchen wir die Tochter in Irland und haben eine Wanderung entlang des Dingle Ways geplant. Vier Tage hintereinander müssen wir zwischen 17 und 25 Kilometern zurücklegen.
Weil wir noch nie einen Wanderurlaub gemacht haben – was unter anderem daran liegt, dass ich die Kombination der Worte Wandern und Urlaub befremdlich finde –, hielten wir es für eine gute Idee, das vorher auszuprobieren. Schließlich wollen wir nicht am ersten Tag zwei Kilometer hinter Camp feststellen: „Puh, diese Wanderei ist viel zu anstrengend. Lass’ mal zum nächsten B&B trampen.“
Christian Hanne, Jahrgang 1975, hat als Kind zu viel Ephraim Kishon gelesen und zu viel “Nackte Kanone” geschaut. Inzwischen lebt er mit seiner Frau und seinen beiden Kindern in Berlin-Moabit. Kulinarisch pflegt er eine obsessive Leidenschaft für Käsekuchen. Sogar mit Rosinen. Ansonsten ist er mental einigermaßen stabil.
Die ganze Woche ist voll mit Ehren- und Feiertagen. Der 4. Mai ist Star-Wars-Tag. Wegen „May the force be with you.“ Wahnsinniger Schenkelklopfer. Darüber können sich die Nerds den ganzen Tag kaputtlachen.
Ich selbst konnte mich nie so recht für Star Wars erwärmen. Stattdessen war ich Fan von Star Trek. Vor allem war von „The Next Generation“ mit Captain Jean-Luc Picard. Als ich 15, 16 war, lief die Serie täglich auf Sat1. Ich hatte den Videorekorder programmiert, um ja keine Minute zu verpassen. Das ist mir auch gelungen und ich habe alle 178 Folgen gesehen.
Einmal fuhren wir mit ein paar Leuten zu einer Star-Trek-Kino-Nacht extra nach Mainz. Zu der Zeit gab es sechs Star-Trek-Filme. Um 18 Uhr fing der erste an, der letzte endete um kurz nach sechs. Rückblickend ist es wenig überraschend, dass ich damals keine Freundin hatte. Der Anteil weiblicher Fans in der Star-Trek-Community ist doch recht überschaubar. (Im Westerwald Anfang der 90er ging er gen Null.)
1993, bei einem Städtetrip nach New York, besuchte ich freiwillig das American Museum of Natural History, wo es eine Star-Trek-Exhibition gab. Heute kann ich mich nicht mehr erinnern, was dort gezeigt wurde. Ein Indiz, dass die Ausstellung nicht wahnsinnig spektakulär gewesen sein kann. Meine Star-Trek-Freunde zuhause beneideten mich trotzdem.
Im Museumsshop kaufte ich mir einen Star-Trek-Ohrring. Eine kleine Enterprise, die zeitweise an meinem Ohr baumelte. Rückblickend ist zwar wenig überraschend, dass ich damals keine Freundin hatte, aber umso mehr, dass ich nicht wusste, woran das liegen könnte. Welches mental einigermaßen stabile Mädchen will schon mit einem Typen zusammen sein, an dessen Ohr ein Raumschiff hängt?
„E as suas tentativas autodidactas de aprender a língua através de uma aplicação para as nossas férias em Portugal este Verão?
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Kurz vor 8. Sitze im Arbeitszimmer und schreibe. Kurz vor 8 scheint für die Frau, die im Hinterhof gegenüber wohnt, die bevorzugte Zeit zum Duschen zu sein. Das tut sie nämlich zum wiederholten Male diese Woche.
Was sollte ich auch damit anfangen, ihr Gesicht zu kennen. Sähe ich sie auf der Straße, könnte ich ja schlecht sagen: „Guten Tag, ich bin ihr Nachbar. Sie kennen mich nicht, aber ich sie. Ich sehe ihnen regelmäßig beim Duschen zu.“ Das führt schnell zu Missverständnissen und du giltst plötzlich als Perversling.
Um die Privatsphäre der Nachbarin – und meine eigene – zu wahren, mache ich mir in der Küchen einen Kaffee. Allerdings klappt das mit der Privatsphärenwahrung nicht so richtig, denn unser Küchenfenster geht ebenfalls zum Hinterhof raus. Die Frau duscht immer noch.
Begebe mich mit meinem Kaffee auf den Balkon. Auf der Straßenseite gegenüber steht ein großes Dominikaner-Kloster mit angrenzender Kirche. Da ist es eher unwahrscheinlich, dass ich durch die klösterlichen Bleiglas-Fenster jemandem beim Duschen zusehen muss. Zumindest hoffe ich das inständig.
06. Mai 2023, Berlin/Hamburg
Heute wird der Windsor Kalle offiziell zum König gekrönt. Beziehungsweise zu King Charles III. „by the grace of God, of the United Kingdom of Great Britain and Northern Ireland and of His other Realms and Territories King, Head of the Commonwealth, Defender of the Faith, and Sovereign of the Most Noble Order of the Garter.” (Viel Glück dem Grafik-Designer, der das alles auf eine Visitenkarte packen muss.) Order of the Garter ist im Deutschen übrigens der Hosenbandorden. Das hört sich allerdings weniger nach exklusivem Ritterorden, sondern mehr nach einer Kindergarten-Bande an.
Statt das königliche Event im Livestream zu verfolgen, fahren wir nach Hamburg. Um in den Geburtstag meiner Schwägerin A., beziehungsweise Schwipp-Schwägerin, um genau zu sein, reinzufeiern. Das ist mindestens genauso wichtig. Außer du bist King Charles III. Dann ist das mit der Krönung etwas wichtiger.
07. Mai 2023, Hamburg/Berlin
Lese auf der Rückfahrt nach Berlin die aktuelle MAGAZIN-Ausgabe. Die enthält unter anderem ein sehr lesenswertes Interview mit André Wiersig, der als Extrem-Freiwasserschwimmer stundenlang durch die Meere dieser Welt schwimmt. Auf die Durchquerung des Ärmelkanals bereitete er sich vor, indem er jahrelang ausnahmslos kalt duschte. Außerdem stieg er täglich in eine Regentonne in seinem Garten. Dabei musste er häufig erstmal eine Eisschicht zerbrechen, um überhaupt in die Tonne zu gelangen.
Bis jetzt war ich darauf stolz, morgens meine Beine kalt abzubrausen. Für zehn Sekunden. (Manchmal auch nur acht.) Im Vergleich zu André Wiersig stehe ich nun wie ein erbärmliches Weichei da. Schönen Dank auch.
2021 schwamm André Wiersig als erster Mensch vom Festland aus nach Helgoland. Fast 49 Kilometer. Als der Interviewer ihn darauf anspricht, antwortet er lapidar: „Ich wollte die Nordsee erleben.“ Also, wenn ich die Nordsee erleben will, mache ich Urlaub auf Föhr. (Und hoffe dabei inständig, dass das Wetter nicht zu kühl, windig und unbeständig ist.)
In den späten 80ern waren wir in der achten Klasse für zwei Wochen auf Klassenfahrt auf Norderney und sind mit dem Schiff nach Helgoland gefahren. Allerdings nur fast. Während André Wiersig sich 18 Stunden lang durch die Nordsee kämpfte, drehte unser Schiff wegen des hohen Wellengangs und der starken Winde nach anderthalb Stunden um. Außer uns war noch eine Senior*innengruppe auf dem Schiff. Die älteren Herrschaften waren so seekrank, dass der Kapitän sich um ihre Gesundheit sorgte.
Ich glaube, niemand unter den Passagier*innen freute sich mehr als ich über die Ankündigung, dass das Schiff wieder zurückfährt. Während der Fahrt dachte ich mehrmals, dass wir gleich kentern und ich zurück nach Norderney schwimmen muss. Keine schöne Aussicht für jemanden, der nur mit Ach und Krach und sehr viel Wohlwollen des Bademeisters, der zufällig ein Bekannter meines Vaters war, sein Seepferdchen bekommen hat. Außerdem hatte ich mich auch nicht jahrelang durch kaltes Duschen vorbereitet. (Im Gegenteil. Ich gehörte als Kind eher in die Kategorie Extremwarmduscher.)
Als jemand der im Geiste durch die Nordsee nach Norderney geschwommen ist – und in meiner Phantasie fühlte sich das sehr real an –, kann ich sehr gut nachvollziehen, was für eine phänomenale Leistung André Wersig vollbracht hat und weiß sie angemessen zu würdigen.
Christian Hanne, Jahrgang 1975, hat als Kind zu viel Ephraim Kishon gelesen und zu viel “Nackte Kanone” geschaut. Inzwischen lebt er mit seiner Frau und seinen beiden Kindern in Berlin-Moabit. Kulinarisch pflegt er eine obsessive Leidenschaft für Käsekuchen. Sogar mit Rosinen. Ansonsten ist er mental einigermaßen stabil.
Die DSGVO, so beliebt wie Rosinen, Rosenkohl und Kapern. Daher auch diese Woche der Hinweis: Durch die eingebetteten Tweets kann Twitter irgendetwas herausfinden, was Sie im Internet so machen. Und zwar weil ich die Tweets nicht hinter leserinnenunfreundlichen opt-in-Verfahren versteckt habe. Wenn Sie das nicht möchten, ziehen Sie am besten schnell weiter. Allen anderen viel Spaß beim Lesen.
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Wie jeden Freitag, die besten Familien-Tweets und -Tröts der Woche. Auch diesmal ist die Auswahl gekennzeichnet durch Intransparenz, Subjektivität und Inkompetenz.
"Der Penis ist privat und wird nicht ausgepackt wenn Besuch da ist."
Christian Hanne, Jahrgang 1975, hat als Kind zu viel Ephraim Kishon gelesen und zu viel “Nackte Kanone” geschaut. Inzwischen lebt er mit seiner Frau und seinen beiden Kindern in Berlin-Moabit. Kulinarisch pflegt er eine obsessive Leidenschaft für Käsekuchen. Sogar mit Rosinen. Ansonsten ist er mental einigermaßen stabil.
Heute ist einer dieser Morgen, an denen ich im Wohnzimmer auf dem Sofa sitze, versuche, mittels Kaffee meine Lebensgeister zu wecken, und mich die Aussicht auf meine Erwerbsarbeit nur bedingt mit Vorfreude und Enthusiasmus erfüllt. An solchen Tagen sage ich mir zur Aufmunterung immer: „Na, wenigstens muss ich heute keine Mathearbeit schreiben.“
Der Sohn würde sich das sicherlich auch gerne sagen, kann es aber nicht, denn er muss heute eine Mathearbeit schreiben. Eine Aussicht, die ihn auch nicht mit Vorfreude und Enthusiasmus erfüllt. Dafür mache ich ihm einen doppelten Espresso. Der weckt hoffentlich seine Lebensgeister und wenn er Glück hat, kennen die sich mit Integralen, Graphen und Funktionen aus.
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Gegen 13 Uhr kommt der Sohn zurück. Die Arbeit sei ganz gut gelaufen. Er hoffe, dass es für fünf Punkte reicht.
Nach der Klausur seien sie zur Humboldt-Uni gefahren. Exkursion mit dem Philo-LK. (So oft wie sie mit dem Kurs Ausflüge machen, vermute ich allmählich, dass ihr Lehrer unter einer Klassenzimmer-Phobie im fortgeschrittenen Stadium leidet.) Sie hätten einen Vortrag von einem Philosophie-Professor gehört, der sei voll interessant gewesen.
Er habe über Moral und Dilemma gesprochen. Mehr bekomme ich aus dem Sohn nicht heraus. Trotzdem kann der Professor sich darauf etwas einbilden. Einer Gruppe von16-/17-Jährigen, deren Aufmerksamkeitsspanne ungefähr die Länge eines TikTok-Videos umfasst, als Reaktion aufn einen philosophischen Vortrag die Reaktion “interessant” zu entlocken ist durchaus eine Leistung. Auf jeden Fall ein deutlicher Fortschritt gegenüber der Exkursion zum Deutschen Ethikrat letzte Woche. Dort ist der Sohn nach eigenen Angaben fast eingeschlafen ist. (Und wenn er „fast“ sagt, gehe ich davon aus, dass er tatsächlich ein Nickerchen eingelegt hat.)
29. April 2023, Berlin
Der Volksmund befiehlt bekanntlich, dass du morgens wie ein Kaiser speisen sollst, denn das Frühstück ist die wichtigste Mahlzeit des Tages. (Dicht gefolgt von einem Stück Kuchen am Nachmittag. Aber das ist meine ganz persönliche Meinung und volksmündlich nicht abgesichert.)
Ein Frühstück wird noch besser, wenn du dir Freunde einlädst. So wie wir das gemacht haben. Heute kommen B. und M. mit ihrer Tochter H. zu Besuch. Ihr Sohn N. kann leider nicht, er muss arbeiten. Das ist sehr schade, denn bei unserem letzten Treffen hat er mich sehr mit seiner Lebensweisheit beeindruckt.
N. geht in die 10. Klasse und legte recht ausführlich dar, wie du eine gute Mitarbeitsnote bekommst, insbesondere in Fächern, in denen du nicht so richtig viel Ahnung hast.
Erstens musst du unbedingt Blickkontakt halten, wenn der Lehrer dich anschaut. Unter gar keinen Umständen darfst du wegschauen. Im Gegenteil, du musst ihm leicht zunicken. So denkt er, du wüsstest Bescheid und er nimmt dich nicht einfach dran, um zu sehen, ob du etwas verstanden hast.
Zweitens musst du dich immer melden, wenn sich sehr viele andere auch melden. Selbst wenn du die Antwort nicht weißt, da die Wahrscheinlichkeit dann sehr klein ist, dass du aufgerufen wirst.
Drittens musst du ab und an eine Frage stellen und dich am Ende der Stunde beim Rausgehen lautstark verabschieden. Durch beides stellst du sicher, dass sich der Lehrer an dich erinnert.
Ich fand seine Ausführungen sehr klug. Sie zeugten von strategischem Denken, Kenntnissen der Psychologie und einer gewissen Zielstrebigkeit. N. wird vielleicht nicht das beste Abitur aller Zeiten machen, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass er später in der Arbeitswelt sehr gut zurechtkommen wird.
30. April 2023, Berlin
Heute ist Ehrentag der Frisuren. Wahrscheinlich wurde der während der Corona-Pandemie in einem der Lockdowns erfunden.
Als Teil ihrer regelmäßigen Westerwälder Presseschau haben mir meine Eltern kürzlich einen Artikel geschickt, der die schöne Überschrift „Waschen, schneiden, schweigen“ trug. In diesem ging es um den Trend des Silent Cuts, bei dem während des Haareschneidens, wie es der Name vermuten lässt, auf Small Talk verzichtet wird.
Der Silent Cut sei eine gute Werbemaßnahme, um Kunden anzusprechen, die von Gesprächen beim Friseurbesuch genervt sind, erklärt in dem Artikel Antonio Weinitschke, seines Zeichens Art Director beim Zentralverband des Deutschen Friseurhandwerks. (Ich weiß nicht, ob mich mehr überrascht, dass ein Zentralverband des Deutschen Friseurhandwerks existiert, oder dass es in diesem die Position des Art Directors gibt.) Die Aussage ist zwar nicht übermäßig originell, aber ich würde ihr trotzdem zustimmen. Zum einen weil Antonio Weinitschke ein phantastischer Name ist, zum anderen, weil ich im Prinzip diese Zielgruppe bin.
Dennoch würde ich nie einen Silent Cut buchen. Für mich klänge das, als würde ich zu der Friseurin sagen: „Halt gefälligst die Fresse, während du mir die Haare schneidest.“ Ich hätte Angst, dass sie mich dann für elitär und ungehobelt hält. Das möchte ich noch weniger, als mich beim Friseur unterhalten.
Christian Hanne, Jahrgang 1975, hat als Kind zu viel Ephraim Kishon gelesen und zu viel “Nackte Kanone” geschaut. Inzwischen lebt er mit seiner Frau und seinen beiden Kindern in Berlin-Moabit. Kulinarisch pflegt er eine obsessive Leidenschaft für Käsekuchen. Sogar mit Rosinen. Ansonsten ist er mental einigermaßen stabil.
Zum Sonntagabend gibt es meine semi-originellen Gedanken und semi-spannenden Erlebnisse aus der abgelaufenen Woche. Manchmal banal, häufig trivial, meistens egal.
24. April 2023, Berlin
Autsch, autsch, autsch. Nach dem Marathon von gestern stellt das Treppenlaufen eine größere körperliche Herausforderung dar. Vor allem runter. Ich fühle mich, als hätte ich die Oberschenkel eines Ochsens. Allerdings nicht, was die Kraft angeht, sondern den Umfang. Bei jedem Schritt brennen meine Oberschenkel wie Feuer. Vielleicht sollte ich mich lieber aufs Treppengeländer setzen und runterrutschen.
Um mich trotzdem etwas bewegen – aber nicht zu schnell –, mache ich einen kleinen Spaziergang durch den Kiez. Dabei höre ich meine Marathon-Playlist und schwelge in Erinnerungen des gestrigen Laufs. Mein Körper ist wahrscheinlich noch vollgepumpt mit einem Glückshormon-Cocktail aus Endorphinen, Dopamin und Serotonin. Ich lächle alle mir entgegenkommenden Menschen beseelt an. Am liebsten würde ich sie umarmen und ihnen ins Ohr flüstern: „Ich bin gestern Marathon gelaufen.“
Aber so etwas kannst du nicht bringen. Selbst in Berlin nicht, wo merkwürdige Verhaltensweisen nicht ganz unüblich sind. Gerade nicht in Berlin. Da mache ich mich schon mit meinem freundlichen Lächeln verdächtig. Sicherlich denken die Passant*innen: „Was stimmt mit dem Typ nicht? Scheiß Psycho.“
Christian Hanne, Jahrgang 1975, hat als Kind zu viel Ephraim Kishon gelesen und zu viel “Nackte Kanone” geschaut. Inzwischen lebt er mit seiner Frau und seinen beiden Kindern in Berlin-Moabit. Kulinarisch pflegt er eine obsessive Leidenschaft für Käsekuchen. Sogar mit Rosinen. Ansonsten ist er mental einigermaßen stabil.
Die DSGVO, so beliebt wie Rosinen, Rosenkohl und Kapern. Daher auch diese Woche der Hinweis: Durch die eingebetteten Tweets kann Twitter irgendetwas herausfinden, was Sie im Internet so machen. Und zwar weil ich die Tweets nicht hinter leserinnenunfreundlichen opt-in-Verfahren versteckt habe. Wenn Sie das nicht möchten, ziehen Sie am besten schnell weiter. Allen anderen viel Spaß beim Lesen.
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Wie jeden Freitag, die besten Familien-Tweets und -Tröts der Woche. Auch diesmal ist die Auswahl gekennzeichnet durch Intransparenz, Subjektivität und Inkompetenz.
4-Jähriger: „Heute war eine neue Erzieherin im Kindi.“ Ich: „Und war sie nett?“ 4-J: „Ja schon, aber sie hat halt nen doofen Job.“
Christian Hanne, Jahrgang 1975, hat als Kind zu viel Ephraim Kishon gelesen und zu viel “Nackte Kanone” geschaut. Inzwischen lebt er mit seiner Frau und seinen beiden Kindern in Berlin-Moabit. Kulinarisch pflegt er eine obsessive Leidenschaft für Käsekuchen. Sogar mit Rosinen. Ansonsten ist er mental einigermaßen stabil.
Die Hälfte ist geschafft. An der Ecke Marie-Luisen-Straße wartet meine Frau mit der nächsten Flasche und zwei Energie-Gels. Die Übergabe funktioniert wieder reibungslos. Außer dass ich sie fast nicht gesehen hätte, weil der Treffpunkt nach meinem Zeit- und Entfernungsgefühl erst später kommen sollte. Geisteswissenschaftler eben.
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Meine Blase fragt an, wie es denn nun mit der Entleerung sei. Wir hätten jetzt doch die Hälfte hinter uns gebracht. Ignoriere sie. Hier gibt es ohnehin gerade kein Toilettenhäuschen und wir laufen durch ein feines Villenviertel. Da kannst du nicht einfach gegen den nächstbesten Baum pinkeln. Wir sind schließlich nicht in Berlin.
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Fortuna Ehrenfeld besingen die „Rückkehr zur Normalität“. Keine Ahnung, was mir das sagen soll. Was ist schon normal?
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Kilometer 24. Nächste Gel-Einnahme. Reiße den Beutel schlecht auf und spritze den ersten Schluck auf mein Shirt. Der Rest landet aber größtenteils in meinem Mund. Und auf meinen Händen. Zeit, wieder mit ein paar Kindern abzuklatschen.
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Meine Blase meldet sich erneut. Langsam nervt sie. Tue so, als höre ich sie nicht. Überlege aber kurz, ob es auffallen würde, wenn ich mir beim Laufen in die Hose pinkle. Worüber du halt so nachdenkst, während du Marathon läufst.
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In Alsterdorf liegt eine der Wechselzonen für die Marathonstaffeln. Das heißt, gleich drängeln sich wieder übermotivierte Staffelläufer an einem vorbei und du läufst Gefahr, einen Ellenbogen ins Gesicht zu bekommen. Gleichzeitig musst du aufpassen, nicht in etwas langsamere Teilnehmer*innen zu crashen, die nicht ganz so trainiert sind und wahrscheinlich von ihren Kolleg*innen überredet wurden, bei der Staffel mitzumachen.
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Die Playlist spielt „Mit Pfefferminz bin ich dein Prinz“. (Grenzwertiges Lied, aber gut für den Laufrhythmus.) Marius singt: „Pipi ist kein Name und auch kein Getränk, mancher muss schon rennen, wenn er nur an Pipi denkt.“ Arschloch.
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Kilometer 28. Das Aufreißen des nächsten Gel-Beutels klappt problemlos. Schön, so ein kleines Erfolgserlebnis zwischendurch.
Meine Streckenabweichung beträgt nun circa 300 Meter, sprich 90 Sekunden. Dafür bin ich eine Minute schneller als der Plan. Könnte reichen. Oder auch nicht. Egal. Weiterlaufen.
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S-Bahnhof Ohlsdorf. Letzte Flaschenübergabe. Das Getränk besteht nun zur Hälfte aus mit Zucker und einer Prise Salz versetztem Mineralwasser, aus dem die Kohlensäure geschüttelt wurde, und zur anderen Hälfte aus Cola, ebenfalls ohne Kohlensäure. Eine Mischung, für die es sicherlich keine 5-Sterne-Rezensionen gibt.
Nehme den ersten Schluck. Es schmeckt noch scheußlicher, als ich es in Erinnerung hatte. Das Gebräu hat einen merkwürdigen fruchtigen Nachgeschmack.
Meine Frau erzählt später, dass die Flasche nicht ganz dicht war, so dass ein Teil des Getränks ausgelaufen war. Mit dem Improvisationstalent eines McGyvers streckte sie den Cola-Zuckerwasser-Mix kurzerhand mit einem koffeinhaltigen Getränk der Geschmacksrichtung Schwarze Johannisbeere, das dem Kleiderbeutel als Sponsoren-Give-away beilag.
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Kilometer 33. Nächstes Energie-Gel. Diesmal mit Cola-Geschmack und extra Koffein. Schmeckt auch nicht leckerer als der Orangen-Kollege.
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Kilometer 34. Überhole einen Staffelläufer im Bienenkostüm. Oder ich halluziniere.
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Max Prosa faselt irgendwas von „Flügel“. Die hätte ich auch gerne.
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Wir erreichen Winterhude. Die Anwohner*innen prosten uns mit Champagnerflöten zu. In Berlin wird eher mit Dosenbier gewunken. Andere Städte, andere Sitten.
Trinke einen Schluck meines Cola-Gebräus. Immer noch widerlich. Überlege, wie viel Zeit ich verliere, wenn ich mich während des Laufens übergebe. Die Blase merkt an, dass sie ja wohl zuerst an der Reihe wäre. Behalte aber alle Körperausscheidungen in mir, um die Winterhuder*innen nicht zu traumatisieren.
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35 Kilometer vorbei. Fühle mich immer noch gut. Allerdings wäre es hilfreich, wenn ich mich hinter jemanden klemmen und ein wenig ziehen lassen könnte. Zum Beispiel von der Frau vor mir im Deutsche-Post-Shirt. Auf den Rücken ist ihr Name gedruckt. Linda. (Zumindest gehe ich davon aus, dass das ihr Name ist.)
Linda von der Post ist aber etwas zu langsam. Überhole sie.
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Kilometer 37. Trinke das letzte Cola-Energie-Gel. Keine Ahnung, ob das fünf Kilometer vor dem Ziel überhaupt noch reinkickt. Wenigstens habe ich etwas zu tun.
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Meine Oberschenkel brennen leicht. Wir sind Helden fragen „Ist das so?“
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39 Kilometer sind absolviert. Wegen der Laufabweichung für mich sogar 39,4 Kilometer. Bin also knapp zwei Minuten länger unterwegs als geplant. Dafür liege ich 75 Sekunden unter meinem gepufferten Zeitplan.
Versuche auszurechnen, ob das für die dreieinhalb Stunden noch reicht. Komme zu keinem Ergebnis. Laufe trotzdem weiter. (Mein Mathe-LK-Lehrer googelt derweil, ob es eine Möglichkeit gibt, mir nachträglich das Mathe-Abi abzuerkennen.)
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Kilometer 40. Muss in einer Kurve kurz verlangsamen, um nicht in einen anderen Läufer zu rennen. Ein Krampf in der Leistengegend deutet sich an. Das käme mir jetzt sehr ungelegen. Wenn der Krampf richtig durchschlägt, bliebe mir nur übrig, das Rennen gehend zu beenden. Beziehungsweise humpelnd. Das hieße Adieu, Dreieinhalb-Stunden-Zeit.
Die Ärzte höhnen „Zu spät“. Schönen Dank auch.
Beschließe, zu beschleunigen und einfach vor dem Krampf wegzulaufen. Überraschenderweise funktioniert das.
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Noch etwas mehr als ein Kilometer. Aus dem linken Augenwinkel nehme ich wahr, wie sich jemand an mir vorbeischiebt. Auf einem Tretroller. Denke zuerst, es ist ein Ordner. Ist es aber nicht, sondern irgendein Penner, der es anscheinend lustig findet, in der Läufer*innenmenge mitzufahren. (Und mit Penner meine ich selbstverständlich nicht Obdachloser, sondern Volltrottel.)
Der Typ winkt fröhlich in die Menge. Würde ihn am liebsten vom Roller schubsen, er ist jedoch zu schnell. Hass ist ein guter Motivator und ich kann nochmal an Tempo zulegen.
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Die letzten 200 Meter. Seed plärren „Schüttel dein Speck“ in mein Ohr.
Habe mittlerweile vollkommen den Überblick verloren, ob ich meine Zielzeit noch schaffe. Renne einfach stur weiter.
Überquere die Ziellinie und stoppe meine Uhr. 3:29:17. Geht doch.
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Mache im Zielbereich ein Medaillen-Selfie für unsere Familiengruppe „Die krummbucklige Sippe“. Kontrolliere das Bild und denke im ersten Moment, ich hätte versehentlich einen Seniorenfilter benutzt. Habe ich aber nicht. Anscheinend bin ich in den letzten dreieinhalb Stunden einfach 30 Jahre gealtert.
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Treffe vor den Messehallen meine Frau, die weltbeste Flaschenübergeberin aller Zeiten.
Sie erzählt, sie sei gerade von einem Portugiesen angesprochen worden. Er meinte, sie hätte so eine tolle Frisur, und das wollte er ihr sagen. Dann fragte er, ob sie mitgelaufen sei. Sie verneinte und erklärte, aber ihr Mann – sprich: ich – wäre gerade ins Ziel gekommen. Das war nicht ganz die Antwort, die der Portugiese sich erhofft hatte, denn er wollte sie eigentlich auf einen Kaffee einladen.
Aber schön, dass wir heute beide ein Erfolgserlebnis hatten. Ich bin meine Wunschzeit gelaufen und meine Frau wurde von einem charmanten, attraktiven Portugiesen angeflirtet. Top!
Christian Hanne, Jahrgang 1975, hat als Kind zu viel Ephraim Kishon gelesen und zu viel “Nackte Kanone” geschaut. Inzwischen lebt er mit seiner Frau und seinen beiden Kindern in Berlin-Moabit. Kulinarisch pflegt er eine obsessive Leidenschaft für Käsekuchen. Sogar mit Rosinen. Ansonsten ist er mental einigermaßen stabil.