Eine kleine Wochenschau | KW52/2024: Besuch in der Heimat (Teil 2)

Teil 1


27. Dezember 2024, Westerburg/Stahlhofen

Nachmittagsspaziergang am Wiesensee. Bewegung tut ja immer gut und außerdem ist es ganz schön, mal anderthalb Stunden nichts zu essen.

Der Wiesensee ist ein circa 80 Hektar großer, aufgestauter, künstlicher See. Mit Golfhotel, Segelverein und Seecafé. Aber zurzeit ohne Wasser. Das wurde vor ungefähr zwei Jahren abgelassen, um die Stauanlage und den Damm zu sanieren. Somit ist der Wiesensee eigentlich kein See mehr, sondern nur noch Wiese.

Weil in der Zwischenzeit das Gras so hoch gewachsen war, wurde der See, der kein See mehr ist, mit Spezialmaschinen gemäht. Bei SWR 4 lassen sich dazu mehrere Berichte finden.

Weil der wasserlose See die Menschen vor Ort bewegt. Ende Juli fand sogar eine Demo mit rund 120 Teilnehmer*innen statt. So richtig mit Schildern und Sprechchören. Organisiert hatte den Protest die Initiative „Wasser für den Wiesensee“, die sich bei der Namensgebung anscheinend von „Brot für die Welt” inspirieren ließ.

Auf der Kundgebung übergab die Initiative eine Liste mit 2.200 Unterschriften an den Verbandsgemeindebürgermeister. Der musste sich dann rechtfertigen, warum die Wasserlosigkeit des Wiesensees schon so lange anhält. In dem Medienbericht ist von einer aufgeheizten Stimmung die Rede, mit Zwischenrufen und Pfiffen der Demonstrierenden.

Mit dem Verbandsgemeindebürgermeister bin ich auch zur Schule gegangen. Wir waren im gleichen Mathe-LK. Was wohl aus mir geworden wäre, wenn ich im Westerwald geblieben wäre? Vielleicht wäre ich sein Pressesprecher. Eher unwahrscheinlich, da er bei der CDU ist. Dann schon eher mittelloser Stadtschreiber, der bei seinen Eltern wohnt, weil er sich keine eigene Wohnung leisten kann. (Wahrscheinlich bekommen meine Mutter und mein Vater beim Lesen gerade nervöses Augenzucken.)

Unser Spaziergang um den See ist auch ohne Wasser idyllisch. Der Himmel ist blau und die Sonne strahlt. Ich weiß nicht, wann ich in Berlin das letzte Mal die Sonne gesehen habe.

Auf dem Rückweg spricht uns an einem Parkplatz eine Frau an. Ihr Autoschlüssel tue nicht das, was er soll, nämlich das Auto öffnen. Der Ersatzschlüssel läge in ihrem Rucksack im Fußraum unter der Rückbank und sie wisse nicht weiter.

Nach mehreren Versuchen öffnet sich zumindest der Kofferraum. Durch die halb umgeklappte Rückwand quetsche ich mich mit wenig Geschick, noch weniger Anmut und gar keiner Würde nach vorne und angle den Rucksack hervor.

Der Ersatzschlüssel funktioniert zunächst ebenfalls nicht richtig. Der Sohn krabbelt daher bis nach vorne zum Fahrersitz, um die Tür von Hand zu öffnen, wobei er auch nicht gerade aussieht, als verdiene er seinen Lebensunterhalt als Schlangenmensch im chinesischen Staatszirkus. (Ich schreibe dies mit größter väterlicher Zuneigung.)

Schließlich lässt sich das Auto mit dem Ersatzschlüssel wenigstens manuell öffnen. Die Frau ist erleichtert und wir haben unsere gute Tat des Tages vollbracht.

###

Meine Frau und ich schlafen in meinem alten Kinderzimmer, von dem außer ein paar aufgeklebten Sternen an der Decke und meinem alten Schreibtisch nicht viel kinderzimmeriges übriggeblieben ist.

Auf ein Schränkchen haben meine Eltern einen Adventskalender hingestellt, den ich für sie zur Grundschulzeit gebastelt habe. Aus 24 Streichholzschachteln, in vier Sechser-Reihen, mit Goldpapier und aufgemalten Sternen verziert.

Den Inhalt haben meine Eltern ebenfalls aufgehoben. Kleine Bildchen, Mini-Basteleien, erstaunlich viele Ein-Pfennig-Münzen und verschiedene Gutscheine:

  • Einmal Frühstückstisch decken
  • Einmal Straße Keren (Schnee schippen)
  • Zweimal abtrocknen

Außerdem, aus welchen Gründen auch immer, für eine Tube U-hu für meinen Vater. Keine Ahnung warum. Ich kann mich nicht erinnern, dass er viel gebastelt hätte. Vielleicht hatte ich seinen Kleber bei der Herstellung des Adventskalenders aufgebraucht und wollte ihm per Gutschein einen neuen zukommen lassen.

Ich bin mir nicht sicher, ob ich die Gutscheine jemals eingelöst habe. Möglicherweise ist der Adventskalender ein Wink meiner Eltern, ich solle endlich die verdammte Straße kehren, und mein Vater hätte gerne mit 40-jähriger Verspätung seinen Alleskleber.

###

Abends, viertel nach zehn. Warte mit dem Sohn nicht am Erlebnis- sondern am Busbahnhof auf den 460er nach Montabaur. Von dort fährt der Sohn um 23.10 Uhr mit zurück nach Berlin, weil er morgen wieder ins Brauhaus muss.

Ein Bus fährt ein, mir ist unklar, ob es unserer ist. Ich gehe an die Tür, der Fahrer ignoriert mich zunächst, erst als ich dezent an die Scheibe klopfe, betätigt er missmutig den Türöffner. Auf meine Frage, ob er nach Montabaur führe, erwidert er in einem Tonfall, der heimelige Berlin-Gefühle ihn mir hervorruft, was denn an dem Bus stünde.

Trete einen Schritt zurück und lese laut vor: „ww mobility“. „Genau, ich hab’ Feierabend“, grummelt der Busfahrer.

Dass mobility und Feierabend kaum gegensätzlicher sein können und dass da eher „ww immobility“ stehen müsste, verkneife ich mir. Ich habe nicht den Eindruck, dass der Mann an einem herrschaftsfreien Diskurs im Habermasschen Sinne interessiert ist, bei dem nur das bessere Argument zählt.

Schließlich kommt doch noch der 460er. Über den Gang weg sitzen zwei junge Frauen, circa Anfang 20. So wie sie sich aufgebrezelt haben, vermute ich, sie sind auf dem Weg zu irgendeinem Club. Mit einer Dose „Monster“ trinken sie sich die nötige Energie für die Nacht an.

Eine der beiden ruft irgendwo an. Ihre Freundin trüge eine Jeans, ob sie damit reinkäme, will sie wissen. „Eine Belanciara“, raunt die andere, in der Hoffnung damit zu punkten. Der Gesprächspartner teilt ihr mit, das sei in Ordnung, so lange niemand aussähe, als ginge er zum Sport.

Angesichts meiner schwarzen Jogginghose hätte ich demnach keine Chance an der Tür. Mein Alter könnte auch ein Problem sein. (Stichwort: „Kommen die jetzt schon zum Sterben hier hin?“)

In Montabaur leiste ich dem Sohn noch eine halbe Stunde in der zugigen Bahnhofshalle Gesellschaft. Der Warteraum ist geschlossen. Ein Zettel weist darauf hin, dieser sei aufgrund wiederholter Vandalismusvorfälle nur zu den Arbeitszeiten des Service-Personals geöffnet. Mein Vater meint später dazu, dann sei er wohl nie auf.

Auf der Rückfahrt sitzen wir immerhin zu neunt im Bus. Ich hätte nicht gedacht, dass so viele Menschen nachts um kurz vor halb zwölf mit dem ÖPNV durch den Westerwald fahren.

Als wir Westerburg erreichen, fährt kurze Zeit später auch noch ein Zug nach Limburg. Da soll noch einer sagen, der ländliche Raum hätte nichts vom Deutschlandticket.

28. Dezember 2024, Montabaur/Berlin

11.20 Uhr. Der ICE von Montabaur nach Köln ist ungewöhnlich voll. Während meine Frau und ich uns zu unseren reservierten Plätzen vorwühlen, bleibt die Tochter im Eingangsbereich stehen. Der Schaffner, der sie kontrolliert, lässt sie in der angrenzenden ersten Klasse sitzen („Mein Weihnachtsgeschenk für Sie.“) und einen Lieblingsgast-Keks gibt er ihr auch noch.

Als er zu uns kommt, sind die Kekse alle und wir gehen leer aus. Schlimm, diese Zweiklassengesellschaft. Oder wir sind für ihn einfach keine Lieblingsgäste. Auch schlimm.

Später ist der Gott der Bahnreisenden nicht mehr ganz so gnädig mit der Tochter. Ihr Zug nach Kiel hat ordentlich Verspätung. Aber nicht genug. Ihr Zug kommt in Kiel 57 Minuten später als geplant an und damit drei Minuten zu früh für die 25-Prozent-Entschädigung.

Meine Frau und ich müssen von Köln nach Berlin wieder im 6er-Abteil sitzen. Mit einer weiteren Frau und einer alleinreisenden Mutter mit ihrem circa achtjährigen Sohn und ihrer knapp einjährigen Tochter. Das Baby ist gut gelaunt und bietet mir ihren angesabberten Haferkeks an, ich lehne dankend ab.

In Hagen steigen die drei um. Während sich die Mutter umzieht, drückt sie mir ihre Tochter in den Arm. Entweder sehe ich sehr, sehr vertrauenswürdig aus oder die Frau ist sehr, sehr leichtsinnig. Die Kleine bedankt sich, indem sie mir fröhlich lachend auf die Brille tatscht.

###

Der Rest der Fahrt verläuft ereignisarm. Als wir am Berliner Hauptbahnhof ankommen, sind in der Ferne Böller zu hören. Willkommen zuhause.


Ein herzliches Dankeschön allen Leser*innen, die das ganze Jahr über so fleißig die Wochenschau gelesen, kommentiert und geteilt haben. Ich wünsche Ihnen einen ruhigen Silvesterabend und einen guten Start ins neue Jahr. Möge 2025 phantastisch werden.


Alle Beiträge der Wochenschau finden Sie hier.


Sie möchten informiert werden, damit Sie nie wieder, aber auch wirklich nie wieder einen Familienbetrieb-Beitrag verpassen?

10 Kommentare zu “Eine kleine Wochenschau | KW52/2024: Besuch in der Heimat (Teil 2)

  1. Danke für die Wochenschau. War schon fast auf Entzug. Rutschen Sie und Ihre Familie gut ins neue Jahr. Und alles Gute für 2025.

    • Vielen Dank für den heiteren Bericht umzu Westerburg. Meine Eltern haben 20 Jahre in Brandscheid gewohnt und mein Onkel hat mit meinem Vater eine Autoreifenwerkstatt in Westerburg betrieben, daher kenne ich durch meine regelmäßigen Besuche Westerburg und Umgebung recht gut. Ich selbst bin mit meinem Mountainbike und später mit meinen Kindern auf Inlinern auf dem Radwanderweg unterwegs gewesen. Bei Fanis waren meine Eltern Stammgäste, da hatte er sein Restaurant noch in Kölbingen. Den Wiesensee kenne ich mit (inkl. Trettbootfahren) und ohne Wasser. Vor zig Jahren konnten wir sogar mal Schlittschuhlaufen auf dem Wiesensee. Viele Male wurde er umrundet, immer wieder schön, immer zum Leidwesen der Kinder. Auch ich habe mich oft gefragt, wie so mancher Laden hier überlebt während so manches Eis bei Venezia verspeist wurde. An das einsame, aber niedliche Puppenweihnachtshäuschen in der “City” kann ich mich auch noch gut erinnern, da wir dort mit den Kindern immer hin mussten….hach! Danke für die Zeitreise und auch für alles andere in diesem Blog!

      Ein langjähriger Mitleser

      • Vielen Dank. Es freut mich, dass dir die Westerburg-Schau gefallen hat. Und schön, dass wir ähnliche Kindheitserinnerungen an den Westerwald haben.

  2. Vielen Dank für die wirklich sehr erheiternden Zeilen. Ich musste mehrmals laut loslachen ( und ich bin wahrlich auf humoristischer Ebene kein leicht zu beeindruckender Mensch ). Clownsmütze ab, vor soviel intelligentem Sprachwitz. Bitte bleiben Sie uns erhalten und Ihnen und Ihrer Familie alles Gute für 2025.

  3. Der Blick aufs Schloss, genau die Perspektive wie vom Balkon meiner Großeltern. Die Läden noch da, der Leerstand auch- ich lese dich immer gern, aber wenn es um die Stadt meiner Kinderferien geht ganz besonders. Und wieder ein Jahr vorbei, in dem ich meinen Kindern nicht das Weihnachtshäuschen gezeigt habe. Danke!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert