Sonntagabend, kurz nach acht. Ich stehe auf unserem Balkon, schaue auf die kleine Straße, in der wir wohnen, und habe Fernweh nach Föhr. Quasi Föhrweh. Es ist eine gute Woche her, dass wir aus dem Urlaub zurück sind, aber ich muss gestehen, ich bin noch nicht wieder richtig im Alltag angekommen. Okay, ich trage jetzt wieder jeden Tag lange Hosen, denn würde ich in Berlin kurze Hosen tragen, stünde ich kurz davor, die Kontrolle über mein Leben zu verlieren. (Als nächstes tanze ich dann in Vollmondnächten nackt im Tiergarten und fühle mich eins mit der Natur.)
Aber trotz meiner langen Beinbekleidung wandern meine Gedanken mehrmals am Tag zu unserem Föhrurlaub. Morgens erwarte ich beispielsweise, dass Beach Body in der Küche sitzt und mir erstmal eine Standpauke hält, dass ich gefälligst die Cornflakes im Regal gegen kernige Vollkorn-Haferflocken austauschen solle, von denen ich morgens drei Teelöffel ohne Milch essen dürfte. Danach zwingt er mich zu einem „lockern 20-Kilometer-Trainingsläufchen“. Bisher ist Beach aber noch nicht aufgetaucht. Stattdessen schickt er mir regelmäßig „motivierende“ WhatsApp-Nachrichten. „Mann oder Mäuschen? Beweise dich heute in der 200-Klimmzüge-Challenge!“ Oder „Weißmehl-Produkte am Morgen, bringen Kummer und Sorgen. Weißmehl-Produkte am Abend, das Körperfett wird sich laben.“
Beim Frühstück stelle ich mir manchmal vor, wie es wäre in eine frische, saftige Campingwecke zu beißen. Manchmal denke ich auch beim Mittagessen an Campingwecken. Und beim Abendessen. Eigentlich immer. Kurzzeitig hatte ich sogar eine Campingwecke als Desktophintergrund, aber das war die reinste Folter. Die begehrte Backware direkt vor Augen zu haben, aber nicht essen zu können – so nah und doch so fern –, war einfach zu hart. Das würden selbst die gefestigtsten Charaktere, zu denen ich mich nicht zähle, nicht aushalten. Außerdem arbeitet es sich ganz schlecht, wenn du die ganze Zeit Tränen in den Augen hast.
Leider ging die Frau nicht auf meinen Vorschlag ein, dass wir eine professionelle 600-Liter-Gefriertruhe anschaffen und bei dem Föhrer Bäcker zweitausend Campingwecken im Internet bestellen. Ihr Argument: Dafür hätten wir keinen Platz! (Es ist diese Art von kleinmütiger Bedenkenträgerei und mangelnder visionärer Weitsicht, die dazu führt, dass in Deutschland keine Smartphones, Elektroautos und lebensecht aussehende Androiden, die wir für uns ins Büro schicken könnten, erfunden werden.) Meine alternative Idee, das Zimmer des Sohns in einen Kühlraum umzurüsten, in dem wir sogar hunderttausend Campingwecken lagern könnten, und seine Möbel in das Zimmer der Tochter zu stellen, lehnten beide Kinder ab. Die Frau will übrigens auch nicht im Wohnzimmer auf dem Sofa schlafen, damit wir das Schlafzimmer in den Kühlraum umwandeln können. In dieser Familie hast du es als fanatischer Campingwecken-Anhänger wirklich nicht leicht!
Auch unabhängig von meinen Campingwecken-Phantasien werde ich ständig an unseren Urlaub erinnert. Zum Beispiel gestern Abend. Da habe ich im Bad meine Socken ausgezogen und aus ihnen rieselte ein wenig Sand. Der ist selbst nach dem dritten Waschen hartnäckig wie nerviger Besuch, der morgens um vier nach dem siebenundreißigsten demonstrativen Gähnen nicht merkt, dass es langsam Zeit zum Gehen ist. Im Urlaub hat der Sand in der Ferienwohnung eher genervt. Aber hier in Berlin löst er nostalgische Urlaubserinnerungen aus.
Genauso wie am Donnerstagmorgen. Da joggte ich morgens durch den Schlosspark, als ich plötzliche eine Herde von Schafen erblickte, die dort gemütlich weidete. (Eine billigere Alternative zu Rasenmäher-Traktoren.)
Ich hielt kurz an und begrüßte sie mit einem fröhlichen „Mäh!“ (Zu der frühen Uhrzeit ist der Schlosspark noch nahezu menschenleer, so dass du dich unbeschwert mit Tieren unterhalten kannst, ohne Gefahr zu laufen, dass dich andere Parkbesucher in die Geschlossene einweisen lassen.) Die Schafe ignorierten mich allerdings. Wahrscheinlich habe ich mir auf Föhr einen speziellen friesischen „Mäh“-Dialekt angeeignet und sie verstehen mich einfach nicht. Trotzdem hätte ich mich gefreut, wenn sie mir zum Gruße zugenickt hätten.
Und so kommt es, dass ich auch eine Woche nach unserer Rückkehr immer noch unentwegt an unsere Urlaubsinsel denke. Wie es wohl den Mitgliedern der Strandkorb-Community geht? Muss der Anwalt aus dem Nachbar-Strandkorb auch schon wieder arbeiten? Konnten Kathy Bates und ihr Mann ihre Eheprobleme überwinden? Oder hat sie ihn inzwischen erschlagen und im Garten verscharrt? Ob wohl mittlerweile die Wunde des Beinversehrten verheilt ist? Oder hat er sich doch ein maritimes Killervirus eingehandelt, das höchst ansteckend ist und demnächst den halben Planeten dahinraffen wird?
Und was macht wohl Charly, der alte Dauerplapperer? Wahrscheinlich textet er gerade jemanden zu. Oder er kauft sich ein neues geringeltes Langarm-Shirt- Und textet dabei jemanden zu. Hoffentlich geht es ihm gut.
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Während ich so auf dem Balkon stehe und von unserem Urlaub tagträume, wächst mein Verlangen nach Föhr zurückzukehren. Oder wie die Ärzte schon sangen:
Oh, ich hab solche Sehnsucht,
ich verliere den Föhrstand,
ich will wieder an die Nordsee,
ich will zurück nach Wyk zum Strand.
Eigentlich ist das Einzige, was zwischen mir und einem Leben auf Föhr steht, Geld. Das ist ja ohnehin der große Nachteil des kapitalistischen Wirtschaftssystems. Dass für alles Geld benötigt wird und sich die Supermarktkassiererin nicht damit zufriedengibt, wenn du ihr ein paar hübsche Glasperlen reichst, um deinen vollen Einkaufswagen zu bezahlen. (Okay, weitere Nachteile des Kapitalismus: Ausbeutung von Arbeiterinnen und Arbeitern in Billiglohnländern, verschwenderischer Umgang mit natürlichen Ressourcen und dass Nulpen wie Donald Trump Millionär werden können.) Da ich es kurzfristig wohl nicht schaffe, das kapitalistische Wirtschaftssystem zu überwerfen, muss ich mir andere Einnahmequellen einfallen lassen, um ein sorgenloses Leben auf Föhr führen zu können.
Ich könnte beispielsweise als Roadie bei der Kur-Kapelle anheuern. Für freie Kost und Logis. Allerdings spielen die „Rivieras“ immer nur in der Hauptsaison auf Föhr. Somit wäre ich in der restlichen Zeit von Arbeits- und Obdachlosigkeit bedroht.
Oder ich könnte mich als Straßenmusiker verdingen. In der ersten Urlaubswoche spielte bei uns in der Straße jeden Abend um 19 Uhr ein Mann auf der Gitarre. Er war circa 60, leicht untersetzt, mit raspelkurzen grauen Haar und einem Bart, der auf die gleiche Länge wie das Haupthaar getrimmt war, und sang mit einem wunderschönen tiefen Bariton. Lediglich sein Repertoire war ein wenig begrenzt. Es bestand aus „Heute hier, morgen dort“ von Hannes Wader, „Hallelujah“ von Leonard Cohen und „Knockin‘ on heaven’s door“ von Bob Dylan. Das war aber nicht weiter schlimm, denn er wiederholte einfach bei jedem Lied den Refrain zehn- bis zwölfmal, so dass es trotzdem zu einem knapp 45-minütigen Auftritt reichte, an dessen Ende er eine beträchtliche Summe Geld in seinem Gitarrenkoffer gesammelt hatte.
Mein Problem ist allerdings, dass ich nicht über eine wunderschöne Stimme verfüge, mit der ich das Publikum verzaubern könnte. Außerdem beherrsche ich auch kein Instrument auf einem Niveau, dass ich es auf der Straße spielen könnte, ohne wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses verhaftet zu werden. Und mein Repertoire ist noch beschränkter als das des Föhrer Straßenbarden. Ich beherrsche auf der Gitarre nur den ersten Akkord von „Hymn“ von Barclay James Harvest. Als ich fünfzehn war, habe ich mir den Song von meinem Freund Joachim beibringen lassen, in der naiven Hoffnung am Lagerfeuer mit der Klampfe Mädchen beeindrucken zu können. Es wird Sie nicht sonderlich überraschen, dass Mädchen nicht für picklige Jungs schwärmen, die am Lagerfeuer auf einer verstimmten Klampfe einen falschen Akkord schrammeln und dazu schief krächzen.
Da eine Karriere als Straßenmusiker bei genauer Betrachtung ausscheidet, um meinen Lebensunterhalt auf der Insel zu bestreiten, brauche ich eine andere erfolgsversprechende Geschäftsidee. Ich könnte eine Alpaka-Farm auf Föhr aufbauen. Zwar habe ich weder von der Haltung von Tieren im Allgemeinen noch von Alpakas im Besonderen einen blassen Schimmer, aber es wäre schon chic, eine Visitenkarte zu haben, auf der steht: „Föhrer Alpakafarmer“ Allerdings wüsste ich nicht, wie mir so eine Alpakafarm Geld einbringen sollte. (Ob es wohl einen Markt für Käsekuchen mit Frischkäse aus Alpakamilch gibt?)
Eine weitere Idee hätte ich allerdings noch, die sogar eine reine Gelddruckmaschine wäre. Ich könnte sonntags Campingwecken verkaufen. Die Föhrer Bäcker fahren nämlich eine künstliche Campingwecken-Verknappungsstrategie und bieten am Tag des Herrn das köstliche Gebäck nicht an. Würde ich also sonntags den Touristen und den Insulanern exklusiv einen Zugang zu Campingwecken ermöglichen, wäre ich in kürzester Zeit Milliardär. (Vor allem wenn ich allen Kundinnen und Kunden unabhängig vom Alter Gratis-Minibrötchen schenken würde.) Allerdings bezweifle ich, dass es die Föhrer Gewerbetreiber so einfach zulassen, dass sich ein Zugezogener in ihrem lukrativen Markt breitmacht. Und die Föhrer Bäcker würden mir schon gar nicht ein sonntägliches Campingwecken-Monopol gewähren.
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Um tatsächlich mit der Familie nach Föhr überzusiedeln, muss ich es wohl doch mit einem Bestseller probieren. Das scheint mir die realistischste Möglichkeit zu sein, um zu bescheidenem Reichtum zu kommen, der es mir erlaubt, ein Häuschen mit Meerblick an der Strandpromenade in Wyk zu kaufen. (Als Berliner möchten wir auch auf Föhr in einem urbanen Umfeld leben, weswegen ein Haus in einem der Inseldörfer nicht infrage kommt.)
Genremäßig bietet ein Föhr-Krimi die besten kommerziellen Aussichten, hatte doch eine kurze Recherche in den örtlichen Buchhandlungen ergeben, dass ‚Sex and Crime‘ eher unter den Reichen und Schönen auf Sylt stattfindet, aber so gut wie gar nicht auf Föhr. Somit kann ich noch in die Marktnische des Föhr-Krimis stoßen und gleichzeitig der Insel ein literarisches Denkmal setzen.
Also, entschuldigen Sie mich bitte jetzt. Ich muss an den Schreibtisch. Eine Ideenskizze für meinen Föhr-Krimi entwickeln.
Gute Nacht!
P.S.: Und hier gibt es die Ideenskizze zu lesen: “Mord in Strandkorb 27. Alle sind föhrdächtig”
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Alle Teile des Föhr-Tagebuchs finden Sie hier.
Christian Hanne, Jahrgang 1975, hat als Kind zu viel Ephraim Kishon gelesen und zu viel “Nackte Kanone” geschaut. Mit seiner Frau lebt er in Berlin-Moabit, die Kinder stellen ihre Füße nur noch virtuell unter den elterlichen Tisch. Kulinarisch pflegt er eine obsessive Leidenschaft für Käsekuchen. Sogar mit Rosinen. Ansonsten ist er mental einigermaßen stabil.
Sein neues Buch “Wenn ich groß bin, werde ich Gott” ist im November erschienen. Ebenfalls mehr als zu empfehlen sind “Hilfe, ich werde Papa! Überlebenstipps für werdende Väter”, “Ein Vater greift zur Flasche. Sagenhaftes aus der Elternzeit” sowie “Wenn’s ein Junge wird, nennen wir ihn Judith”*. (*Affiliate-Links)
OK, Ihr kommt mit @schibulska und @KircheHeide mit auf meine Liste der föhrliebten.
Föhrweh ist ein wunderschönes Wort.
Oh, ich kann es so nachvollziehen dieses Föhrweh… Es sitzt überall.
Ich freu mich auf den Krimi!
Guten Morgen,
In aller Herrgottsfrühe habe ich wieder meinem Mann beim Frühstück ohne Camping wecken vorgelesen. Sind jetzt auch schon ein paar Tage zu Hause und vermissen Föhr natürlich auch. Aber es gibt Hoffnung, es ist ja bald wieder Wochenende und sie werden es nicht glauben mit Camping wecken, und das 900 km entfernt von Föhr ( ganz frisch aus dem eigenen Ofen, da wir keinen großen Kühlraum haben). Viele föhrliebte Grüße 😉
Irgendwann werde ich mich wohl auch an das Selbstbacken der Campingwecken machen müssen.
Doch Sonntags gibt’s auch Campingwecken….bei uns, bei Bäcker Mengel auf Föhr😁😁😁😁
Das merke ich mir dann fürs nächste Mal.
..Und ich habe für nächstes Jahr schon wieder gebucht!
Well done!
Ich möchte auch wieder nach Föhr
Ich habe die tägliche AusGabe vermisst. 😭
Aber dieser Beitrag hilft mir, die noch knapp 2 Wochen bis Föhr zu erleben. Und ich werde Camping-Wecken probieren. Bin neugierig geworden.
Sorry, sollte überleben heissen. Man sieht, dass ich es kaum noch.abwarten kann
Nicht nur Sie vermissen die Insel, ich wusste die ersten Tage nach Ihrer Rückkehr nicht was ich morgens nach dem Aufwachen tun sollte. Nachdem die täglichen Urlaubsberichte nicht mehr greifbar waren,…
Lieber Christian,
bei meinen Reisevorbereitungen bin ich über deinen Blog gestolpert und komplett hängen geblieben. Die vorfreudesteigernde Maßnahme, deine Zeilen zu inhalieren, hat die Wartezeit auf die Fähre sehr verkürzt, zumindest gefühltermaßen. Die Insel übertrifft sogar noch meine Erwartungen! Der Campingwecken auch. Ich hab mich allerernstes auf den Weg gemacht und ihn an Hansens Theke verlangt. Okay, ich gebe es zu, gleich zwei. Du hast in keiner Zeile untertrieben, sie sollten als Gefahrenstoff eingestuft werden. Was ich dir aber noch sagen wollte: Bäcker Hansen scheint deinen Blog zu lesen, hast du schon eine PN erhalten? Um dein Föhrweh zu lindern beliefert er per Paket das Festland. Ab 19 Campingwecken versandkostenfrei. Ich muss zugeben, dass ich gedanklich ebenfalls, noch vor dem Laden, über mögliche freie Kapazitäten meines Eisschranks zu Hause gegrübelt habe. Muss aber erst einen Kontrollblick werfen, bevor ich bestellen kann.
Schöne Grüße aus Borgsum auf Föhr