Corona-Föhrien 2020 – Tag 2: Von zu gut gelaunten Radio-DJs, Kommunikationsschwierigkeiten beim Bäcker, müden Müttern, die mit Kindern spielen, und halbvollen Gläsern

Der (fast) alljährliche Urlaubsblog. Diesmal nicht live, aber dafür in Farbe und HD. Zur besseren zeitlichen Orientierung sei erwähnt, dass der Urlaub Ende Juni / Anfang Juli stattfand. Die kompletten Beiträge finden Sie hier.


Gute-Laune-Terror aus dem Radio

„Hahaha!“, lacht es fröhlich aus dem Radio. Es ist kurz nach acht, auf NDR2 läuft die Morningshow und das Moderations-Duo ist unfassbar gut gelaunt. Also, wirklich unfassbar gut gelaunt. So richtig übertrieben, aufdringlich und unangenehm gut gelaunt. Bei mir ruft das eher schlechte Laune hervor. Kurz nach dem Aufwachen und vor dem ersten Kaffee bin ich lediglich zu unartikulierten Knurrlauten fähig. Sogar auf Partys und nach dem Genuss diverser alkoholischer Getränke ist meine Stimmung nicht annähernd so ausgelassen-ekstatisch wie bei diesen Radio-DJs aus der Hölle.

Meine Güte, die beiden sind schon seit fünf Uhr auf Sendung und kalauern sich mit objektiv nur mäßig lustigen Gags durchs Programm. Dabei lachen sie dann immer wieder gekünstelt unnatürlich wie ein Grundschüler in der Theater-AG, dem die Lehrerin gesagt hat, er solle jetzt mal so richtig dolle lachen. Schlimm! Wie kommen die beiden wohl in diesen Gefühlszustand? Wahrscheinlich trinken sie keinen Kaffee, sondern bekommen intravenös Guarana gespritzt und hauen sich zusätzlich einen Cocktail aus Amphetaminen, Kokain und Ecstasy rein, um ihre Stimmung auf Pallim-Pallim-Level zu pushen.

Aber die beiden sind nicht alleine mit ihrer unerträglich guten Laune. Erstaunlicherweise sind sogar HSV-Fans, die heute früh in der Sendung anrufen dürfen, bester Stimmung. Die haben eigentlich wirklich keinen Grund zu Frohsinn. Gestern hat der HSV nämlich – mal wieder – den Aufstieg vergeigt. (An dieser Stelle einen ganz lieben Gruß an meinen ehemaligen Kollegen Christoph!) Und zwar so richtig spektakulär. Mit einer 1:5-Klatsche. Zuhause. Gegen die SV Sandhausen. Schlimmer geht es nicht. Jetzt dürfen sie im Radio davon erzählen, wie ihre Gemütslage heute ist. Anscheinend nicht allzu schlecht. „Muss halt weitergehen, hihi.“ „Sie haben es einfach nicht verdient, haha.“ „Dann halt im nächsten Jahr, hoho.“ Wahrscheinlich haben die alle noch Restalkohol.

Möglicherweise sind aber das Moderationsduo und die anrufenden HSV-Fans auch alle normal gut gelaunt und ich lebe einfach schon zu lange in Berlin, wo die Menschen nicht gerade für überschäumend gute Laune bekannt sind. Hier gilt alles, was keine unflätige Pöbelei ist, als ausgelassene Fröhlichkeit.

Meine Gedanken über lokal unterschiedliche Gute-Laune-Konzepte, werden von der Wetterfrau im Radio unterbrochen: „Maximal 18 Grad und immer wieder Schauer“, erzählt sie. Der guten Stimmung im Studio tut das keinen Abbruch „Wie heißt es so schön: Es gibt kein schlechtes Wetter, sondern nur schlechte Kleidung!“, sagt der Moderator. Seine Kollegin gibt ihm zu meiner Überraschung keine Schelle für die Verwendung abgedroschener Phrasen, sondern erwidert: „Ganz genau!“ Dann lachen beide überschwänglich und hauen sich dabei wahrscheinlich die Schenkel blutig. Anscheinend ist Gute-Laune-Maßstab doch nicht Berlin-verzerrt, sondern die beiden sind tatsächlich Soziopathen, die nicht wissen, wie Frohsinn und Ausgelassenheit angemessen ausgedrückt werden.

Gimme my Campingwecken!

Zum Glück gibt es auf Föhr andere Möglichkeiten, die Stimmung aufzuhellen, ohne auf illegale Substanzen zurückzugreifen, die gegen das Betäubungsmittelgesetz verstoßen: Campingwecken! Sollten Sie meinen letzten Föhr-Urlaubsblog gelesen haben, erinnern Sie sich vielleicht daran, dass ich Campingwecken eine geradezu religiöse Verehrung entgegenbringe und mit dem Gedanken gespielt habe, eine Glaubensgemeinschaft zu gründen, die sich mit Körper und Geist voll und ganz dem Verzehr von Campingwecken widmet. (Lediglich ein Mangel an finanziellen und zeitlichen Ressourcen hat mich an der Umsetzung dieses Vorhabens gehindert.)

Um meinem öffentlich-rechtlichen Bildungsauftrag nachzukommen, hier ein paar Hintergrundinformationen zu Campingwecken:

  • Beschaffenheit: Campingwecken bestehen aus einem äußeren ungesüßten Hefeteig, der den inneren süßen Hefeteig, der mit Hagelzucker gespickt ist, umschließt. Dieser geniale Back-Move bewirkt, dass die Konsistenz des inneren Hefeteigs auch nach dem Backen derart saftig und feucht bleibt, dass ich es gar nicht zu beschreiben vermag, ohne den Beitrag mit einer USK18-Warnung versehen zu müssen.
  • Bezeichnung: Der Name Campingwecken stammt angeblich daher, dass die äußere Teigschicht die innere wie ein Wanderpaket umschnürt. Eine Herleitung, die für mich nur bedingt schlüssig ist, denn dann müssten Campingwecken ja Wanderwecken heißen. Wer auch immer sich das ausgedacht hat, hat sich sein Hirn wahrscheinlich mit zu viel Campingwecken verklebt. Wobei es „zu viele“ Campingwecken gar nicht gibt. Von daher ist der Name super!
  • Medizinischer Effekt: Campingwecken sind nicht nur lecker, sondern ihnen wird auch eine heilende Wirkung nachgesagt. Es soll Lahme geben, die nach dem Verzehr von Campingwecken wieder gehen konnten, und Blinde, die durch das Essen eines Campingwecken, ihre Sehkraft wiedererlangten. (Außerhalb dieses Blogs werden Sie keinen Beleg für diese Aussage finden, aber das macht in dem heutigen postfaktischen Zeitalter ja nichts.) Ich bin mir auch ziemlich sicher, dass aus Campingwecken ein wirkungsvoller Impfstoff gegen das Corona-Virus gewonnen werden kann. Falls Vertreter:innen der Pharmaindustrie hier mitlesen sollten: Ich stelle mich gerne als Versuchsperson zur Verfügung

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Die örtliche Bäckerei ist bekannt für ihre köstlichen Backwaren. Dementsprechend ist die Schlange davor schon unter normalen Umständen so lang, als würde dort Klopapier für die nächste Corona-Welle verschenkt. Jetzt ist sie aufgrund der Corona-Abstandsregeln noch dreimal länger. Der Weg vom Ende der Schlange bis zum Eingang der Bäckerei ist so weit, dass es angebracht wäre, wenn es ein paar Verpflegungsstationen mit isotonischen Getränken und energiespendenden Müsliriegeln gäbe.

Die lange Warteschlange ist aber nicht die einzige Hürde beim Brötchenholen. Die Mund-Nasen-Maske erleichtert den Bestellvorgang auch nicht gerade.

„Gdn Mgn“, begrüße ich die Verkäuferin höflich „Fei Gmpig-Wgn, bibbe.“

Die Frau schaut mich hinter der Plexiglasscheibe ihres Gesichtsvisiers fragend an. „Wie bitte?“

„Bei Gmpig-Wgn, bibbe“, wiederhole ich freundlich.

Sie versteht immer noch nicht. „Was möchten Sie?“

„Gmpig-Wgn, bei Schdig, bibbeschön“, versuche ich es erneut. Diesmal ganz langsam und überdeutlich.

„Ah, Wecken!“, ruft sie. „Zwei Eierwecken?“

Hektisch schüttle ich den Kopf. Eierwecken sind zwar auch okay, aber kein Vergleich mit Campingwecken. Das wäre ungefähr so, als würden Sie sagen, ein Stück Holz, über das ein Stück Draht gespannt wurde, hört sich wie eine Gibson-Les-Paul-Gitarre an. Langsam werde ich panisch. Die Campingwecken liegen doch direkt vor mir in der Auslage. Warum will mir die Frau keine davon geben? Gibt es eine groß angelegte Campingwecken-Verschwörung von Bill Gates, die die Medien verschweigen? Oder habe ich die Frau irgendwie gekränkt? Was kann ich getan haben, wofür sie mich jetzt so hasst?

Ich versuche es gestikulierend. Mit der rechten Hand zeige ich auf die Campingwecken, gleichzeitig hebe ich drei Finger der anderen Hand. Das letzte Mal, dass ich Brötchen so bestellen musste, war 2015, als ich in einer bretonischen Bäckerei mit den nicht existenten Resten meines Schulfranzösischs auf ganzer Linie versagt hatte.

Als ich schließlich die Tüte mit den Campingwecken und den anderen Brötchen entgegennehme, durchfluten Glückshormone meinen Körper. So euphorisch wie ich bin, fühle ich mich in der Lage, zurück in die Ferienwohnung zu gehen und mich wieder dem Gute-Laune-Terror der Morningshow auszusetzen.

Die Frau vom Strandkorb nebenan

Unsere durch die Campingwecken herbeigeführte Hochstimmung wird für den Rest des Tages durch das Wetter auf eine harte Probe gestellt. Würde es die ganze Zeit regnen, wäre das zwar unschön, aber zumindest planbar. Dann setzt du dich einfach aufs Bett, liest in deinem Buch, trinkst Kaffee und ärgerst dich, gestern beim Einkaufen keine Kekse mitgenommen zu haben. Fertig ist die Wegen-schlechtem-Wetter-den-ganzen-Tag-in-der-Ferienwohnung-abhängen-müssen-Laube. Aber nein, das Wetter gibt sich wankelmütig und geradezu divenhaft. Es ist bewölkt, sonnig und regnerisch. Im Minutentakt. Bis zum Abend werden wir drei Mal zum Strand und wieder in die Ferienwohnung gegangen sein. Das bringt uns zwar keine Freude, aber dafür dem Schrittzähler.

Heute ist der Strandkorb links von unserem belegt. Mit einer Mutter und ihrer ungefähr drei- bis vierjährigen Tochter. Die Frau ist circa Ende 30. Vielleicht ist sie auch etwas jünger und nur sehr, sehr erschöpft. Zumindest deuten ihre panda-artigen Augenringe in der Größe von Traktorreifen darauf hin. Vielleicht ist das aber auch nur das Ergebnis eines aus dem Ruder gelaufenen Smokey-Eye-Experiments? Oder ist sie alleinerziehend und am Ende ihrer Kräfte, weil sie ganz alleine die Verantwortung für ihre Tochter tragen muss? Oder leidet ihr Partner an einer sehr spezifischen und sehr seltenen Ohrenfehlfunktion, die es ihm unmöglich macht, zwischen 22 und 10 Uhr den Frequenzbereich zu vernehmen, in dem sich die Stimme seiner Tochter bewegt? Dadurch kann er ihr Rufen nachts und frühmorgens nicht hören, so dass er gegen seinen Willen nachts nicht aufsteht und morgens liegenbleibt, so dass sich die Mutter immer wieder aus dem Bett quälen muss, um nach dem Kind zu schauen.

Lauter wichtige Fragen, die nach Antworten verlangen. Unter Umständen könnte die Strandkorbnachbarin es aber als übergriffig empfinden, wenn ein fremder, bärtiger Mann sich nach ihrer Augen-Make-up-Technik, ihrem Beziehungsstatus sowie den Hörfähigkeiten eines möglichen Partners erkundigt. Oder sie ist tatsächlich Single und freut sich ein wenig zu sehr darüber, sich endlich mal wieder mit einem Mann unterhalten zu können, weil sie als Alleinerziehende das mit dem Daten nicht hinbekommt. Das könnte dann ganz andere Probleme nach sich ziehen. Daher beschränke ich mich erstmal auf die Rolle des nicht-teilnehmenden Beobachters, was bei genauerer Überlegung vielleicht auch nicht ganz unproblematisch ist.

Trotz ihres augenscheinlichen Erschöpfungszustandes spielt die Frau mit einer Engelsgeduld mit ihrer Tochter. Sie geht circa eine Million Mal mit ihr ans Meer, um in einem fingerhutgroßen Eimerchen Wasser zu holen, beantwortet zwei Millionen Kinderfragen („Wie singen eigentlich Fische?“) und backt im Akkord drei Millionen Sandküchlein, die sie dann mit einem schauspielerischem Talent, das zumindest für eine Nebenrolle bei GZSZ reichen würde – dort wahrscheinlich sogar für eine Hauptrolle – , aufisst („Mmmh, das ist aber ganz, ganz lecker!“) Sie geht so liebevoll mit ihrem Kind um, dass sich sie am liebsten in den Arm nehmen und sagen würde: „Sie machen das ganz, ganz wunderbar.“ Aber auch das würde wahrscheinlich zu Irritationen führen. Sowohl bei ihr als auch bei meiner Frau.

Nun stellt sich das kleine Mädchen mit wichtiger Miene vor ihre Mutter und sagt: „Ich kann etwas, was du nicht kannst, Mama.“ „Was denn, mein Schätzchen?“, fragt diese. Mit höchster Konzentration legt das Mädchen einen flachen Stein auf einen anderen Stein. Dann schaut es seine Mama stolz an.

Also, ich möchte dem Kind nicht zu nahetreten, indem ich seine Aussage, es könne etwas, zu dem seine Mama nicht imstande ist, anzweifle. Gleichermaßen möchte ich auch nicht sein Selbstvertrauen nachhaltig beschädigen, weil ich es darauf hinweise, dass zwei Steine aufeinanderzustapeln, nicht gerade ein Superhelden-Move und auch keine architektonische Meisterleistung ist. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ihre Mutter, das auch hinbekommen würde. Die sagt aber nur: „Mensch, das hast du aber toll gemacht, Spätzchen!“ Gut, vielleicht ist die Frau motorisch vollkommen unterbegabt und sie wäre tatsächlich an dieser Aufgabe gescheitert. Wer weiß das schon? Vielleicht kann ich sie das demnächst fragen, wenn ich ein paar Informationen zu ihren Schminkroutinen und ihrer familiären Situation einhole.

Immer schön positiv denken

Wie so eine Vorzeige-Bullerbü-Familie backen wir abends Pizza. Da das Wetter gerade gnädig gestimmt ist, beschließen wir, am Strandkorb zu essen. Wobei Mahlzeiten am Strand in der Vorstellung meistens wesentlich romantischer sind, als in der Realität. Da musst du dein Essen gegen Möwen verteidigen, die Getränke kippen andauernd um und laufen auf der Decke aus, du stellst fest, dass du keine Servietten dabeihast, und dir weht andauernd Sand auf die Pizza. Das verleiht ihr aber wenigstens ein bisschen Crunch. Um meine vorgestrige Lebensweisheit bei Ihnen in Erinnerung zu rufen: Immer schön, positiv denken. Das Glas ist nicht halb leer, sondern halb voll. Okay, es schwimmt Sand drin, aber es ist trotzdem zur Hälfte gefüllt. Möglicherweise wäre es dann besser das Glas als schon halb leer zu begreifen. Egal, ist eh‘ nur doofes Wasser.

Strandkorb-Community am Abend, …

Nach dem Essen betätigen wir uns noch ein wenig sportlich und spielen Ball. Allerdings bin ich unsicher, ob das, was wir da veranstalten, tatsächlich als Ballspielen gelten kann. Dazu würde sowohl das Werfen als auch das Fangen des Balls gehören. Um auch das einigermaßen positiv auszudrücken: Beides gelingt uns vielleicht nicht immer, aber auch nicht nie. Häufig müssen wir dem Ball hektisch hinterherrennen und mit verzweifelten Hechtsprüngen verhindern, dass der Ball ins Meer rollt. (Bei einem Mitte-40-jährigen ist das übrigens nicht nur kein besonders schöner Anblick, sondern auch im Hinblick auf muskuläre Verletzungen nicht besonders empfehlenswert.)

Außenstehende fragen sich wahrscheinlich, ob es tatsächlich Menschen mit einer so schlechten Hand-Augen-Koordination gibt, oder ob wir nicht doch ein Slapstick-Comedy-Stück einüben, bei dem wir unterschiedliche Tiere darstellen, die betrunken rumtorkeln, weil sie zu viel fermentiertes Obst gegessen haben.

Uns ist das egal. Wir haben trotzdem jede Menge Spaß und lachen viel und laut. Bei so viel guter Laune und Ausgelassenheit könnten wir glatt eine Morningshow moderieren.

Gute Nacht!


Unser tägliches Kniffel-Spiel gib uns heute

So sieht das Kniffel-Leader-Board doch schon wesentlich schöner aus. Leider konnte ich mich mit dem Vorschlag, die Kniffel-Challenge mit dem heutigen Tag schon abzuschließen, nicht durchsetzen.

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67 Kommentare zu “Corona-Föhrien 2020 – Tag 2: Von zu gut gelaunten Radio-DJs, Kommunikationsschwierigkeiten beim Bäcker, müden Müttern, die mit Kindern spielen, und halbvollen Gläsern

  1. Ich frage mich gerade, wer aus der Familie zur Campingwecken-Abstinenz verurteilt ist… bei nur 3 Wecken?

    Kann leider die restlichen Kommentare gerade nicht laden. Vielleicht wurde es schon beantwortet… dann lese ich morgen nach! 😄

    • Die Lösung ist recht banal: Nicht alle Familienmitglieder essen immer einen ganzen Campingwecken. Aber nie ist jemand überhaupt keinen Campingwecken!

Erwähnungen

  • Der (fast) alljährliche Urlaubsblog. Diesmal nicht live, aber dafür in Farbe und HD. Zur besseren zeitlichen Orientierung sei erwähnt, dass der Urlaub Ende Juni / Anfang Juli stattfand. Die kompletten Beiträge finden Sie hier.

    Das Hemd klebt und die Hose rutscht

    „Warum muss es denn jetzt auch noch regnen?“, beklage ich mich bei den Schafen, als ich joggend den Deich betrete. Dabei hatte die Wetterfrau im Radio vorhin gesagt, die Regenwahrscheinlichkeit läge bei zehn Prozent. Zehn Prozent sind, wenn du zehnmal auf die Torwand schießt und einmal triffst. Ich würde bei 100 Schüssen keinmal treffen, aber für die zehn Prozent Regenwahrscheinlichkeit reicht es. Vielen Dank auch!

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    In Hollywoodfilmen hat Regen ja häufig etwas Romantisches. Wenn das Liebespaar gegen Ende des Films endlich zusammenkommt und sich küsst, muss es auf jeden Fall – da gibt es irgendein Hollywood-Gesetz – so lange im Regen stehen, bis ihre weißen Oberhemden – auch das ist gesetzlich geregelt Gesetz, dass es immer weiße Oberhemden sein müssen – vollkommen durchnässt sind und sich ihre Oberkörper erotisch darunter abzeichnen. (Zumindest bei günstigem Kamerawinkel und guter Ausleuchtung.) In Actionfilmen ist der Regen wiederum Ausdruck der Willensstärke und Durchsetzungsfähigkeit der Hauptfiguren. Kämpfe auf Leben und Tod finden meist in monsunartigen Regengüssen statt, um dem Publikum zu zeigen, dass dem Helden oder der Heldin die Naturgewalten nichts anhaben können.

    Ich bin aber kein Actionheld und mir können die Naturgewalten sehr wohl etwas anhaben. Deswegen ist es total unangenehm und überhaupt nicht romantisch, wenn mein Laufhemd unangenehm kalt und so eng am Körper klebt, dass ich jetzt schon weiß, dass ich es nie wieder ausziehen kann, sondern mir chirurgisch vom Leib operiert werden muss. (Und es gibt auch keinen Kamerawinkel und keine Ausleuchtung, damit sich mein Oberkörper erotisch unter dem Laufhemd abzeichnet.)

    Die Schafe stehen aber gleichgültig grasend auf dem Damm. Denen ist alles egal. Sowohl der Regen als auch mein kaltes, nasses Laufhemd, das mir sicherlich eine Lungenentzündung und damit den sicheren Tod einbringen wird.

    Das nasse, kalte Oberteil ist nicht mein einziges Textilproblem. Weil es so kühl ist, habe ich heute morgen meine lange Jogginghose angezogen, und die rutscht. Nicht, weil ich abgenommen hätte – das wissen die Camping-Wecken zu verhindern –, sondern weil das Gummiband am Bund gerissen ist. Nun muss ich die Hose alle 50 Meter nach oben ziehen, damit sie nicht in die Kniekehlen rutscht und ich meine Unterhose auf dem Deich zur Schau stelle. Okay, hier sind zwar nur die Schafe, aber auch denen gegenüber möchte ich eine gewisse Restwürde bewahren. (Schreibt der Mann, der krampfhaft versucht, sich mit Schafen zu unterhalten und Freundschaft mit ihnen zu schließen.) Wobei es den Schafen wahrscheinlich sogar egal wäre, wenn ich nackt über den Deich flitzen würde, so lange sie das nicht vom Fressen oder von der Durchführung ihrer Verdauungstätigkeit abhält.

    Zugegebenermaßen ist das Gummi nicht hier auf Föhr, sondern schon vor ein paar Wochen in Berlin gerissen. Theoretisch hätte ich also schon längst eine neue Hose kaufen können. Aber Sie wissen ja, dass ich aus Nachhaltigkeitsgründen meine Klamotten sehr lange trage, bis sie vollkommen runtergerockt sind. Und vor allem weil ich eine sehr ausgeprägte Shopping-Aversion habe.

    Nun ist ein gerissenes Gummiband natürlich auch kein Grund, eine Hose, die ansonsten vollkommen okay ist – die Frau ist hier möglicherweise anderer Meinung –, wegzuwerfen und durch eine neue zu ersetzen. Es ist ja kein Problem da einfach ein neues Gummiband einzuziehen. Für mich allerdings schon. Ich kann nicht nur keine platten Reifen flicken, sondern bin auch ein totaler Handarbeits-Loser. Die einzige 4, die ich in meiner Grundschulzeit hatte, bekam ich auf einen gewebten kleinen Teppich, der so unförmig und misslungen war, dass nicht einmal meine Eltern Worte finden konnten, was für ein interessantes Stück ich da doch produziert hätte.

    Wahrscheinlich denken Sie jetzt, meine Güte, dann bring‘ die Buxe halt zur Schneiderei, da machen die das für schmales Geld. Das stimmt selbstverständlich, aber die physikalischen Gesetze der Massenträgheit hindern mich daran, dieses Vorhaben in die Tat umzusetzen. Somit habe ich keine andere Wahl und muss so lange in dieser Hose joggen, bis sie mir auf Knöchelhöhe rutscht, und ich mir bei dem daraus resultierenden Sturz den Oberschenkelhals breche.

    „Macht’s gut“, rufe ich den Schafen zum Abschied zu. „Hoffentlich bis übermorgen. Also, sofern ich mit der Hose nicht verunglücke und ins Krankenhaus eingeliefert werde.“ Die Schafe zeigen – mal wieder – keine Reaktion und grasen einfach weiter. Aber es ist ja gut, Freunde zu haben, die nicht gleich in Panik verfallen und auch bei drohenden Katastrophen einen kühlen Kopf bewahren.

    Altglas-Interpretationen

    Nach dem Frühstück bringen der Sohn und ich unser Altglas in den Müllraum. Die Kiste für den Glasmüll ist bereits zur Hälfte gefüllt. Mit zehn Weinflaschen, alle mit dem gleichen Etikett. Anscheinend versucht jemand sich mit einem 2018er Grauburgunder aus der Pfalz die Sonne und wärmere Temperaturen herbeizutrinken.

    Als wir gehen, ist die andere Hälfte der Kiste voll mit leeren Schokocreme-, Erdnussbutter- und Spekulatiusaufstrich-Gläsern. Ich schätze, jede:r hat eine ganz eigene Art, das schlechte Wetter zu verarbeiten.

    Supermarktbesuch: Energy-Drinks, die deinem Mageninhalt Flügel verleihen

    Anschließend gehen wir in den Supermarkt, um unsere Essensvorräte aufzufüllen. Für den Sohn ist, mit den Eltern einkaufen zu gehen, sicherlich keine besonders attraktive Freizeitbeschäftigung. Er macht aber das Beste daraus, indem er sich immer wieder andere Energy-Drinks mit den absurdesten Geschmacksrichtungen aussucht. Anscheinend haben Kinder, die die Pubertät erreichen, hormonell bedingt das unbändige Verlangen, ihre komplette Flüssigkeitsaufnahme ausschließlich mit taurin-, koffein- und matehaltigen Getränken zu bestreiten. Einfach mit irgendetwas, das reinkickt. Wahrscheinlich evolutionär bedingt, weil Teenager ebenfalls hormonell bedingt von einer unfassbaren Müdigkeit und Trägheit befallen werden, die dazu führen, dass sie am Wochenende und in den Ferien tagsüber mehr schlafen als früher im Babyalter nachts. (Ironischerweise schlafen sie dann nachts noch weniger als im Babyalter, weil sie stundenlang mit ihren Kumpels zocken müssen.)

    Ich selbst stehe Energy-Drinks eher kritisch gegenüber. Aber nicht in erster Linie wegen ihrer grenzwertigen Nährwertprofile, weil sie ausschließlich aus Zucker, artifiziellen Geschmacksverstärkern sowie irgendwelchen Abfallprodukten bestehen, die in Chemieproduktionen anfallen und deren fachgerechte Entsorgung zu teuer wäre, so dass sie in den Energie-Getränken landen. Vor allem mag ich sie nicht, da der Geschmack für mich absolut scheußlich ist. Als in meiner Jugend – Achtung: Opa erzählt vom Krieg – Red Bull neu auf den deutschen Markt kam, habe ich mal eine halbe Dose davon getrunken und fand es widerlich. Viel zu künstlich und süß. (Das schreibt der Mann, der in seiner Kindheit gerne mal acht Löffel Kaba in seine Milch gerührt hat.) Ich schüttete den Rest weg und dachte dabei: „Ich kann mir nicht vorstellen, dass sich das durchsetzt.“ (Damit war sehr früh klar, dass ich nicht zum Börsenanalysten taugen würde.)

    Normalerweise machen wir die Reste unseres erzieherischen Einflusses gegenüber unserem Sohn geltend und erlauben ihm nicht, den ganzen Tag und rund um die Uhr Engergy-Drinks zu sich zu nehmen. Hier im Urlaub – wo die elterliche Durchsetzungsfähigkeit von Tag zu Tag an Schlagkraft verliert – machen wir aber eine Ausnahme, was eine euphemistische Umschreibung dafür ist, dass er sich durch die komplette Palette an Energy-Drinks probieren darf, die sich durch bunte, komplementärfarbige Dosendesigns und die absonderlichsten Geschmacksrichtungen auszeichnet. Kokosnuss-Blaubeere, Kiwi-Apfel und Granatapfel-Birne sind da noch die weniger absurden Mischungen.

    Wider besseres Wissen probiere ich abends einen der Drinks. Er schmeckt, als hätte eine Heerschar von Lebensmittelchemikern sehr, sehr hart und erfolgreich daran gearbeitet, ein Geschmacks-Potpourri von Hustensaft, Fruchtkaugummi und Zahnpasta zusammenzupanschen. Das ist wirklich das ekelhafteste Getränk, das mir jemals untergekommen ist. (Das schreibt der Mann, der mal eine Saftkur gemacht hat, bei der es regelmäßig Sauerkraut- und Rote-Beete-Saft gab.) Nun gut, ich muss das ja nicht trinken. Ich muss es nur bezahlen.

    Die Strandkorb-Community: Sie sind wieder da!

    Am frühen Nachmittag passiert etwas vollkommen Unerwartetes. Die Sonne ist am Himmel zu sehen. Wir liegen uns schluchzend in den Armen und nachdem wir unsere Freudentränen getrocknet haben, gehen wir an den Strand. Dort treffen wir auf alte Bekannte: Die Community, die vor zwei Jahren die Strandkörbe um uns herum belegt hatten, ist wieder da.

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    Alle sind sie wieder da: Die Anwaltsfamilie mit ihrem pubertierenden Sohn, der mit jeder Faser seines Körpers ausstrahlt, dass es wahnsinnig uncool ist, mit den Alten am Strand abzuhängen, während sie bereuen ihn nicht im Ferienlager angemeldet zu haben. Der Arzt mit seiner etwas herrischen Frau und ihrer elfjährigen Tochter sowie dem siebzehnjährigen Sohn, der mich nachhaltig beeindruckt, weil er mit 38 unterschiedlichen Arten des Augenrollens zum Ausdruck bringen kann, dass er genervt ist. Oder die Schuldirektorin, deren Mann fast nie zu sehen ist, weil er so viele Stunden auf dem Tennis- oder Golfplatz steht, als würde er eine späte Profikarriere anstreben. (Vielleicht will er auch einfach seine Ruhe haben.) Lauter gut betuchte Hamburger Familien, die auf der Insel eigene Ferienhäuser haben. Die erholen sich zuerst auf Föhr, um dann woanders irgendwo anders richtig Urlaub zu machen.

    Was ich schon damals an der Gruppe mochte: Sie unterhalten sich wirklich sehr laut und über mehrere Strandkörbe hinweg – man kennt sich ja –, so dass du bei ihren Gesprächen nicht nicht mithören kannst, sofern du nicht sehr gute Noise-Cancelling-Kopfhörer trägst. Das erleichtert meine Arbeit als Strand-Chronist erheblich, denn so muss ich mich nicht beiläufig an fremde Strandkörbe anlehnen und wie ein übereifriger Stasi-IM Mitschriften in meinem Notizbuch anfertigen, sondern bekomme auch so alles gut und deutlich mit.

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    Wie schon vor zwei Jahren telefoniert der Anwalt regelmäßig geschäftlich am Strand. Was die Wahrung von Geschäftsgeheimnissen oder die Vertraulichkeit der Anwalts-Mandanten-Beziehung angeht, ist das vielleicht ein wenig grenzwertig, aber trotzdem verständlich. Er hat das corona-bedingte Home Office in Hamburg verlassen und gegen ein Föhrer Beach Office eingetauscht. Genial! Vor allem, wenn du einen Stundensatz von 500 Euro hast und mit drei, vier längeren Telefonaten deinen Urlaub gegenfinanzieren kannst.

    Zwei der Frauen aus der Clique äußern eine gewisse Unzufriedenheit darüber, dass die Großeltern fast überhaupt nichts mit ihren Enkeln unternähmen, sondern stattdessen die ganze Zeit golften. Ich habe den leisen Verdacht, dass die beiden Frauen sich nicht nur um die fehlende Großeltern-Enkel-Beziehung sorgen, sondern auch befürchten, ihr Plan, am Strand mit einem Glas Apérol Spritz zu entspannen, während die Kinder mit Oma und Opa unterwegs sind, könnte nicht aufgehen. Das ist halt der Nachteil, wenn die rüstigen Golden Ager aufgrund der Errungenschaften der pharmazeutischen Industrie bis ins hohe Alter zu sportlichen Aktivitäten verdammt sind und überhaupt nicht mehr dazu kommen, sich mit den Enkelkindern zu beschäftigen.

    Die Arztgattin erzählt von ihrem neuen Badeanzug, den sie sich bestellt habe, aber noch nicht tragen würde, weil die Körbchen so komisch aussähen. Sie wisse nicht, ob sie den lieber wieder zurückgibt, da solle doch ihr Mann erstmal einen Blick darauf werfen. Der zeigt sich sehr interessiert und sagt, da wäre er selbstverständlich gerne behilflich. Heute Abend hätte er nichts vor, da würde er den Badeanzug und dessen Inhalt mal sehr genau inspizieren. Den Rest verstehe ich leider nicht, da die Tochter „Papa, das ist eklig“ ruft und dann sehr laute und sehr realistische Kotzgeräusche macht.

    Rummikub: Wer Energy trinkt, gewinnt

    Abends spielen wir in der Ferienwohnung Rummikub. Die Frau sagt, das funktioniere im Prinzip wie Rommee, aber halt nicht mit Karten, sondern mit Steinen. Eine wirklich hilfreiche Erklärung, wäre es nicht ungefähr 100 Jahre her, dass ich das erste und einzige Mal Rommee gespielt habe. Bei der weiteren Erläuterung der Spielregeln verweist sie dennoch mehrmals auf die Rommee-Regeln. Ob ich wohl eine andere Sprache als sie spreche? Ich habe doch gerade erst gesagt, dass ich mit den Rommee-Regularien nicht mehr im Detail vertraut wäre. Oder blendet sie einfach aus, was ich sage? Gut, wer will es ihr nach 23 Jahren Beziehung verübeln.

    Wir spielen zwei Runden, die der Sohn beide sehr souverän gewinnt. Aufgrund der vielen Energy-Drinks läuft sein Gehirn wahrscheinlich im Turbo-Modus und er kann fünf-dimensionale Zusammenhänge erkennen, so dass er mir strategisch haushoch überlegen ist. Oder ich spiele einfach sehr schlecht Rummikub und sollte mir doch noch mal die Rommee-Regeln anschauen.

    Unser tägliches Kniffel-Spiel gib uns heute

    Ich übernehme die Führung in der Kniffel-Challenge. Ein bisschen unangenehm ist mir das schon, weil ich ja schon den Kniffel-Pokal gewonnen habe. Andererseits kann ich jetzt ein Spaghetti-Eis gewinnen. Da kannst du dann nicht zu viel Rücksicht auf die eigenen Befindlichkeiten oder die der Familie nehmen.

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    Christian HanneChristian Hanne, Jahrgang 1975, hat als Kind zu viel Ephraim Kishon gelesen und zu viel „Nackte Kanone“ geschaut. Inzwischen lebt er mit seiner Frau und seinen beiden Kindern in Berlin-Moabit. Kulinarisch pflegt er eine obsessive Leidenschaft für Käsekuchen. Sogar mit Rosinen. Ansonsten ist er mental einigermaßen stabil.
    Im September erscheint sein neues Buch „Papa braucht ein Fläschchen“. Ebenfalls mehr als zu empfehlen sind „Hilfe, ich werde Papa! Überlebenstipps für werdende Väter“, „Ein Vater greift zur Flasche. Sagenhaftes aus der Elternzeit“ sowie „Wenn’s ein Junge wird, nennen wir ihn Judith“*. (*Affiliate-Links)
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