28. Oktober 2022, Berlin
Heute ist Weltspartag. Früher war das für mich ein großes Ding. Mein Bruder und ich sind dann immer mit meiner Mutter oder meinem Vater zur örtlichen Sparkasse gegangen. Dort nahm ein Mitarbeiter oder in seltenen Fällen eine Mitarbeiterin unsere Spardosen entgegen, öffnete sie, leerte den Inhalt in den Münzzählautomaten und dieser zeigte nach kurzem – in guten Jahren nach längerem – Rattern an, was wir in den letzten zwölf Monaten gespart hatten.
Am besten fand ich aber, dass es dann immer noch die aktuelle Ausgabe der Knax-Zeitschrift und ein kleines Geschenk gab. Irgendein Plastikschrott-Spielzeug, das nach wenigen Tagen in irgendeiner Kiste verschwand und nie wieder hervorgeholt wurde. Als Kind war mir der Akt des Beschenktwerdens anscheinend wichtiger als der eigentliche Besitz.
Heutzutage spielt der Weltspartag keine große Rolle mehr. Ich war erstaunt, dass es ihn überhaupt noch gibt. Als erwachsener Mensch gehst du in den meisten Fällen ohnehin zur zur Bank, um Geld abzuheben und nicht um etwas einzuzahlen.
Wobei, wir haben in der Küche einen Maßkrug, in dem wir unsere 1- bis 20-Cent-Münzen sammeln. Die könnte ich mal zur Bank bringen. Die akzeptiert Münzgeld aber nur, wenn es gerollt ist. Das ist ziemlich nervig. Dazu musst du Münzgeldrollenpapier besorgen, die Münzen händisch abzählen und schließlich zusammenrollen.
Auf der Bank gibt es dann keinen ratternden Münzzählautomaten, vor dem du mit Spannung stehst, um zu sehen, wie viel Geld du einzahlen kannst. Stattdessen werden deine Münzrollen voller Misstrauen abgewogen, um auszuschließen, dass du sie mit Schaumstoff und nicht mit Geld ausgefüllt hast. Am Ende stellt sich dann raus, dass sich in dem Maßkrug ungefähr 4,50 Euro angesammelt hatten. Da lohnt sich der ganze Aufwand kaum. Vor allem, weil du als Erwachsener auch keine Knax-Zeitschrift oder ein Plastikschrott-Spielzeug geschenkt bekommst.
29. Oktober 2022, Berlin
Vor vier Wochen hat mein Vergangenheits-Ich meiner Frau unbedacht „können wir machen“ geantwortet. Da ihre Frage war, ob ich zusammen mit ihr beim Sportscheck Run mitlaufen würde, sitzt mein Gegenwarts-Ich nun auf dem Rad und ist unterwegs zum Tempelhofer Flughafen. Dort findet um 19 Uhr der Lauf statt. Eine Gestaltung meines Samstagabends, die mein Vergangenheit-Ich anscheinend attraktiv oder zumindest akzeptabel fand, mein Gegenwarts-Ich eher nicht.
Am alten Flughafen angekommen, müssen wir zunächst unsere Startunterlagen abholen. Das hätte ich schon gestern oder vorgestern erledigen können, aber mein Vergangenheit-Ich war zu faul, dafür extra zur Sportscheck-Filiale am Potsdamer Platz zu radeln. Deswegen steht mein Gegenwarts-Ich jetzt in der Schlange vor dem Registrierungsschalter. An ungefähr 50. Stelle.
Als wir an der Reihe sind, stellt sich heraus, dass unsere Namen nicht im System registriert sind. Wir sollen unsere Daten in einem Tablet eingeben. Das ist herausfordernder, als es klingt, denn ich trage nicht meine normale, sondern meine Sportbrille. Dabei handelt es sich nicht um ein besonders schnittiges und robustes Brillenmodell, das extra für sportliche Aktivitäten entwickelt wurde. Nein, es ist einfach meine letzte Brille, die ich immer beim Sport trage. Bei ihr wäre es nicht so schlimm, wenn ich mich beim Laufen hinlege und sie kaputt geht.
Die Brille ist schon mehr als zehn Jahre alt. Deswegen passt ihre Brillenglasstärke nicht ganz zu meiner Augensehschwäche. Beim Sporttreiben ist das nicht weiter problematisch, beim Bedienen einer Tablet-Tastatur dagegen schon. Ich tippe hilf- und ziellos auf den verschwommenen Buchstaben rum und würde mich nicht wundern, wenn ich mich gerade als Xrodziam Gatter anmelde.
Bevor der Lauf los geht, gibt es noch ein gemeinsames Warm-up. Gruppen-Aufwärmen ist meine persönliche Vorhölle. Ich möchte nicht gemeinsam mit mir unbekannten Menschen semi-dynamisch auf der Stelle laufen, die Arme in die Höhe strecken und Kniebeugen machen. Wenn ich es mir genauer überlege, möchte ich das nicht einmal mit mir bekannten Menschen machen.
Die Frau, die das Warm-up anleitet, ist von einer großen Fitness-Studio-Kette. Ihre Stimme klingt, als würde sie sonst ihr Geld mit Softcore-SM-Telefon sex verdienen. Nach fünf Minuten ist der Spuk zum Glück vorbei und wir können endlich loslaufen.
Meine Frau hat uns für den 10-Kilometer-Lauf angemeldet. Das heißt, wir müssen zwei Runden über das Tempelhofer Feld laufen. Ich finde das ziemlich furchtbar. (Allerdings nicht ganz so furchtbar wie kollektives Aufwärmen.) Da läufst du die ganze Zeit rum und es gibt nichts zu sehen, außer in der Ferne ein paar Häuser-Silhouetten und irgendwo den alten Hangar. Sonst nichts. Keinen Baum, keinen Strauch, kein Nichts. Nur Feld, Feld, Feld. (Daher ja auch der Name Tempelhofer Feld. Da wird zumindest niemand in die Irre geführt.)
Nach knapp 70 Minuten sind wir im Ziel. Dort gibt es eine Medaille. Und alkoholfreies Radler, Bananen und Laugengebäck. Ich möchte nicht so weit gehen, dass das für das Warm-up und den Feld-Lauf entschädigt, aber zumindest ist es ein versöhnlicher Abschluss.
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Auf dem Heimweg fahren wir ein Stück durch den Tiergarten. Auf dem Hinweg war das recht idyllisch, aber jetzt ist es dort stockdunkel. So dunkel, dass du immer nur so weit wie die zwei, drei Meter des Lichtstrahls der Fahrradleuchte sehen kannst und keine Ahnung hast, was dich dahinter erwartet. Irgendwelche Ungeheuer oder Gewaltverbrecher vielleicht.
Das ist ziemlich gruselig. Ich hoffe einfach, dass alle Monster, Räuber und Mörder vor der Dunkelheit noch mehr Angst haben als wir und den nächtlichen Tiergarten meiden.
30. Oktober 2022, Berlin
Heute Nacht war Zeitumstellung. Von Sommer- auf Winterzeit. Das heißt, die Uhren mussten eine Stunde zurückgestellt werden, denn im Sommer werden die Möbel vor das Gartenhäuschen gestellt und im Winter wieder zurück. Allerdings sind unsere Uhren ohnehin fast alle funk- oder internetgesteuert, so dass sie sich von alleine umstellen.
Lediglich unseren Radiowecker muss ich manuell justieren. Auch das ist herausfordernder, als es sich anhört. Der Radiowecker ist ein schon etwas betagteres Modell und sehr sensibel. Wenn du ihn nur schief von der Seite anschaust, verstellt sich der Senderregler von alleine und du wirst morgens von einem unschönen Rauschen und Knacken geweckt. Oder gar nicht. Und wenn du auf den Knöpfen rumdrückst, um die Zeit neu einzustellen, verschiebt sich der Regler noch mehr. Im ungünstigsten Fall auf irgendeinen Schlager-Sender, so dass dich in der Früh Andrea Berg, Helene Fischer oder Andreas Gabalier akustisch brutalstmöglich aus der REM-Phase prügeln. Der einzige Vorteil: Das Aufstehen geht dann ziemlich schnell.
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Christian Hanne, Jahrgang 1975, hat als Kind zu viel Ephraim Kishon gelesen und zu viel “Nackte Kanone” geschaut. Inzwischen lebt er mit seiner Frau und seinen beiden Kindern in Berlin-Moabit. Kulinarisch pflegt er eine obsessive Leidenschaft für Käsekuchen. Sogar mit Rosinen. Ansonsten ist er mental einigermaßen stabil.
Im September erscheint sein neues Buch “Papa braucht ein Fläschchen”. Ebenfalls mehr als zu empfehlen sind “Hilfe, ich werde Papa! Überlebenstipps für werdende Väter”, “Ein Vater greift zur Flasche. Sagenhaftes aus der Elternzeit” sowie “Wenn’s ein Junge wird, nennen wir ihn Judith”*. (*Affiliate-Links)