Eine kleine Wochenschau | KW46-2023 (Teil 2)

Teil 1


In unserer Wohnung hält sich eine dicke Fliege auf. Ich finde das ungewöhnlich für die Jahreszeit. Wobei ich gar nicht weiß, ob das tatsächlich ungewöhnlich ist. Schließlich habe ich keine Ahnung vom Lebenszyklus von Fliegen und weiß nicht, ob sie Winterschlaf halten, im Winter in den Süden fliegen oder einfach sterben, wenn es kälter wird. Oder sich zum Überwintern eine gemütliche Wohnung suchen.

Unsere Stubenfliege ist ziemlich groß. Und ziemlich laut. Und sehr anhänglich. Wo wir sind, ist auch die Fliege. Wenn wir abends auf dem Sofa sitzen und schauen Netflix, schwirrt sie durchs Zimmer. Vielleicht will sie so wie wir am Ende des Tages einfach ein bisschen abhängen und netflixen.

Sie hängt aber nicht einfach ein bisschen ab. Wir alle kennen diese nervige Person, mit der du nicht Fernsehschauen kannst, weil sie die ganze Zeit rumzappelt und pausenlos quatscht. Unsere Stubenfliege ist diese Person. Sie fliegt unablässig durchs Wohnzimmer und das ist so laut, dass wir Schwierigkeiten haben, unserer Serie zu folgen.

Das geht seit Tagen so. Ich frage mich, wie hoch die Lebenserwartung einer Stubenfliege ist. Meine Frau schaut bei Wikipedia nach. Sechs bis 70 Tage. Hoffentlich ist unser Exemplar keine Grönlandhai-Fliege und wird 500 Jahre alt.

Die Fliege begleitet uns nicht nur im Wohnzimmer. Gehe ich in die Küche, um mir einen Kaffee zu kochen, wer surrt um die Deckenlampe? Die Fliege. Begebe ich mich ins Bad, weil ich auf Toilette muss, wer fliegt vor dem Spiegel auf und ab? Die Fliege. Liege ich abends im Bett und lese noch ein bisschen, wer brummt durchs Zimmer? Genau, die Fliege. Wenn irgendwo ein Licht angeht, ist die Fliege nicht weit. Möglicherweise hat sie Angst im Dunklen.

Meine Frau hat eine andere Vermutung: „Vielleicht hat sie keine Freunde, ist einsam und will deswegen bei uns sein.“ Nun habe ich ein schlechtes Gewissen, dass ich mir gewünscht habe, die Fliege stirbt bald.

17. November 2023, Berlin

Heute ist Tag des hausgemachten Brotes. Ich dachte, damit hätten wir nach dem letzten Corona-Lockdown aufgehört.

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Meine Sportkopfhörer sind kaputt und ich muss neue bestellen. Da mein Modell nicht mehr hergestellt wird, werde ich nur noch bei eBay fündig. Es handelt sich aber um neue, originalverpackte Kopfhörer. Wer will schon gebrauchte In-Ear-Kopfhörer tragen? (Zumindest wollen erstaunlich viele Menschen bei eBay gebrauchte In-Ear-Kopfhörer verkaufen.)

Der Kopfhörer-Verkäufer firmiert unter dem Namen DealDon. Richtig vertrauenswürdig hört sich das nicht an. So ein bisschen nach Import-Export-Geschäften. DealDon ist auf den Verkauf von Handys, Video- und Audiogeräten sowie PC- und Videospiele spezialisiert. Das macht es nicht vertrauenswürdiger. Ich hoffe einfach, meine Kopfhörer sind nicht irgendwo vom Laster gefallen.

18. November 2023, Berlin

Ich treffe mich morgens um 7 mit J. zum Laufen im Grunewald. Die gute Nachricht: Ich habe vor dem Laufen daran gedacht, lange Hosen anzuziehen. Sogar Handschuhe. Die schlechte Nachricht: Es ist so kalt, dass ich trotzdem friere.

Sollten Sie diesen Blog regelmäßig lesen, wissen Sie, dass ich kein Mensch bin, der zu Übertreibungen neigt. Somit können Sie davon ausgehen, dass es sich um eine unumstößliche Tatsache handelt, wenn ich sage, dass noch nie jemand seit Menschengedenken so kalte Hände hatte wie ich, als ich nach dem Laufen mit dem Rad zurück nach Moabit fahre.

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Wir erhalten einen Brief von der Postbank. Das Sparbuch könne noch nicht aufgelöst werden. Die Unterschrift meiner Frau fehle noch und müsse nachgereicht werden.

19. November 2023, Berlin

Der Sohn hat heute einen wichtigen Tag: Er hat Dan-Prüfung. Ich kann mich noch erinnern, wie er mit vier Jahren seinen ersten Judo-Anzug bekam und als blond gelockter Zwerg Rollen vorwärts und rückwärts übte. Heute ist er 17 und muss für eine der Prüfungsaufgaben seinen Partner mit ausgestreckten Armen quer über seinem Kopf halten und ihn dann auf die Matte werfen.

Dass der Sohn mit Judo anfing, hing damit zusammen, dass er als kleiner Junge eine sehr ausgeprägte Vorstellungskraft hatte. Auf dem Heimweg von der Kita erzählte er immer von Monstern, wilden Tieren und bösen Menschen, die die Welt beherrschen wollten, die er aber heroisch niedermetzelte. Quasi wie ein vierjähriger Witcher.

Seine Beschreibungen wiesen einen Detailgrad auf, der zwar für einen sehr umfangreichen Wortschatz für ein Kitakind sprach, aber gleichzeitig ein wenig bedenklich war. Davon abgesehen war der Sohn ein vollkommen friedfertiges Kind, schlug keine anderen Kinder und fiel auch nicht durch Vandalismus auf.

Irgendwann stand der Sohn aber im Streichelzoo vor einer Ziege und fragte, ob er sie töten dürfe. Da dachten wir, es wäre vielleicht gut, wenn er ein Ventil für seine Gewaltphantasien hätte. Schließlich wollten wir später nicht bedröppelt in eine RTL-Explosiv-Kamera schauen und sagen müssen, dass wir es uns absolut nicht erklären könnten, wie der Junge dazu kam, alle Nachbar*innen im Haus mit einer Machete zu massakrieren.

Also meldeten wir dem Sohn beim Judo an. Dort konnte er sich körperlich verausgaben, lernte Respekt und Disziplin, was ja nichts schaden kann, und gut für die Körperkoordination war es auch. Letzteres war nicht gerade seine Stärke. Er hatte zum Beispiel Schwierigkeiten, auf einem Bein zu hüpfen. Das Körperklausige hatte er wahrscheinlich von mir. Als Kind war ich körperkoordinativ eher herausgefordert. Vielleicht sollte ich mich auch beim Judo anmelden. Möglicherweise wird das beim TSV Gutsmuths im Bereich Senioren-Sport angeboten.

Schon als Fünfjähriger nahm der Sohn an seinen ersten Judoturnieren teil. Zunächst startete er mit einer niederschmetternden Niederlagenserie. Nach ungefähr einem Jahr stand seine Wettkampfbilanz bei 0:20. Der Sohn war quasi die Färöer-Inseln der Berliner Judo-Szene. Er kämpfte mit Einsatz und Engagement, bekam aber immer ordentlich auf die Mütze. Ich wollte schon nicht mehr mit auf die Turniere gehen, weil ich mir das Elend nicht anschauen wollte.

Eines Tages kam der Sohn dann mit meiner Frau von einem Turnier zurück und brachte vollkommen überraschend einen Pokal für den ersten Platz mit. Die größte Sensation der Sportgeschichte seit dem Sieg Griechenlands bei der Fußball- Europameisterschaft 2004.

Während die meisten anderen Kinder irgendwann zum Fußball, Handball oder Schwimmen abwanderten oder ihre Sport-Karriere ganz an den Nagel hängten, blieb der Sohn dem Judo treu. Zum einen lag das an seiner ersten Trainerin, die er abgöttisch liebte. Zum anderen an seinem jetzigen Trainer, für den er wortwörtlich über glühende Kohlen laufen würde und für den er Pferde stehlen würde, wenn er es von ihm verlangte. (Ich hoffe, dass er das niemals verlangen wird, denn was sollen wir in einer Stadtwohnung mit einem Pferd anfangen?)

Dass wir den Sohn beim Judo angemeldet haben, war sicherlich eine der besseren Entscheidungen von uns als Eltern. Er war vielleicht nicht der allererfolgreichste Judoka seiner Altersklasse, kann aber trotzdem eine sehr respektable Kinder-und Jugend-Wettkampfkarriere vorweisen. Mit zwei Berliner Einzel- und Mannschaftsmeisterschaften, einer Deutschen Vize-Mannschaftsmeisterschaft und einer Teilnahme bei der Deutschen Einzel-Meisterschaft dieses Jahr. Eine Ziege hat er auch nie getötet.

Und seit heute ist er Träger des 1. Dan.

Herzlichen Glückwunsch.
(Du musst trotzdem morgen den Müll runter bringen.)


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