Eine kleine Wochenschau | KW21-2023

Zum Sonntagabend gibt es meine semi-originellen Gedanken und semi-spannenden Erlebnisse aus der abgelaufenen Woche. Manchmal banal, häufig trivial, meistens egal.


22. Mai 2023, Berlin

Nachdem vor zwei Wochen der Frühling eingezogen ist, macht sich heute schon der Sommer breit. Es sind 27 Grad.

Kurz vorm Supermarkt steht ein Mann mit einem ungefähr dreijährigen Mädchen auf dem Arm. Die Kleine weint bitterlich und ist nicht zu beruhigen.

Der Mann legt eine bewundernswerte Gelassenheit an den Tag. Wahrscheinlich führt er jeden Tag Meditations- und Achtsamkeitsübungen durch. Oder frühstückt morgens Beruhigungsmittel. Er fragt seine Tochter mit sanfter Stimme: „Was möchtest du denn, Spätzchen?“ „Einen Mantel“, schluchzt das Kind und vergräbt in größter Verzweiflung sein Gesichtchen in der Schulter seines Papas.

Heutzutage ist es nicht mehr opportun, Kinderwünsche mit einem barschen „Nein“ abzuschlagen und das ist auch gut so. Kinder sollen in einer positiven Ja-Umgebung aufwachsen. Das ist das kleine 1×1 der bedürfnisorientierten Erziehung. Dennoch habe ich großes Verständnis, als der Mann antwortet: „Das geht nicht, Spätzchen, dafür ist es viel zu warm.“

Die Kleine ist allerdings ganz anderer Ansicht. Wenig Spätzchen- sondern eher Hulk-like brüllt sie in der Lautstärke eines Düsenjets beim Durchbrechen der Schallmauer. Bei allem Mitgefühl für den Vater bin ich froh, dass ich in den Supermarkt gehen kann und mich des Problems nicht annehmen muss.

23. Mai 2023, Berlin

Vor ein paar Wochen habe ich mich für einen 10-Kilometer-Lauf angemeldet. Am 29. Juni für den Campus Run der Freien Universität. Das heißt, dort wird ein Haufen durchtrainierter Sport-Studierender am Start sein. Und ich.

Vor gut zehn bis zwölf Jahren bin ich nach recht intensivem Training die zehn Kilometer mal in 43 Minuten noch was gelaufen Damit ich neben den fitten Student*innen nicht vollkommen abstinke, habe ich mir diesmal eine Zeit von 42 Minuten vorgenommen. Man gönnt sich ja sonst nichts.

Heute beginnt der 10-Kilometer-Vorbereitungsplan. Seit dem Marathon in Hamburg trainiere ich das erstem Mal wieder ambitionierter. Ich soll acht Kilometer in einem Schnitt von 4:40 absolvieren.

Allerdings fühle ich mich heute nur so semi-frisch. Und mit semi-frisch meine ich wie ein Brauerei-Gaul, der so schwerfällig ist, dass sich andere Brauerei-Gäule über ihn lustig machen. Beste Voraussetzungen für einen flotten Acht-Kilometer-Lauf-im-4:40-Schnitt.

Als ich ins TSV-GutsMuths-Stadion einlaufe, erblicke ich am anderen Ende des Sportplatzes ein Tier. Wobei „ein Tier“ etwas unpräzise ist. Ein Vogel ist auch „ein Tier“, aber es handelt sich nicht um Geflügel, sondern um einen Vierbeiner.

Keine Katze. Die wäre mir ziemlich egal. Es ist auch kein Hund. Der wäre mir schon weitaus weniger egal. Insbesondere, weil Größe und Statur nicht auf einen Rehpinscher hindeuten. Beim Näherkommen entpuppt sich “ein Tier” als Fuchs. Der ist mir am wenigsten egal. (Okay, ein Tiger oder Löwe wäre mir noch weniger egal als der Fuchs.)

Mir schießen eine Menge Fragen durch den Kopf:

  • Hat der Fuchs mehr Angst vor mir oder ich vor ihm? Möglicherweise fifty-fifty.
  • Wie schnell sprintet ein Fuchs auf kurzen Distanzen? Wahrscheinlich schneller als ich.
  • Wie ist es um seine Ausdauerfähigkeit bestellt? Eventuell ein Pluspunkt für mich.
  • Wenn ein Fuchs Angst hat, ergreift er die Flucht oder geht er zum Angriff über?
  • Sieht der Fuchs in mir einen Alpha, vor dem er kuscht, oder einen Omega, den er schikanieren kann?
  • Was fressen Füchse? Hühner? Sehe ich aus wie ein Huhn?

Der Fuchs hat sich der Weitsprunggrube niedergelassen und döst in der Morgensonne. Auf größtmöglichen Abstand zu ihm bedacht, laufe ich auf der Außenbahn.

Ich trage heute ein orangenes Laufshirt. Ist das eine Signalfarbe, die den Fuchs aggressiv macht? Bin ich gerade wie jemand, der über eine Bullenweide rennt, mit einem roten Tuch wedelt und ruft: „Wer zuerst am Zaun ist, ihr Luschen!“?

Der Fuchs interessiert sich nicht für mein Shirt. Stattdessen jagt er ein paar Krähen über den Rasenplatz. Schlecht für die Krähen, aber gut für mich. So lange er sie verfolgt, lässt er mich in Ruhe. Anschließend legt sich der Fuchs in die Sandgrube und chillt wieder. Ich laufe weiter auf der Außenbahn.

Das klappt einige Runden recht gut. Der Fuchs und ich befinden uns in einem Zustand der friedlichen Koexistenz.

Als ich nach gut der Hälfte meines Pensums wieder auf die 100-Meter-Gerade einbiege, sehe ich, dass der Fuchs die Sandgrube verlassen hat. Er liegt nun ausgestreckt auf Bahn 3 und 4. Schönen Dank auch.

Ich wechsle auf die Innenbahn. Soll ich besser an ihm vorbei spurten, um möglichst schnell weg zu sein, oder lieber ein langsames Tempo einschlage, damit ich ihn nicht aufschrecke. Ich behalte meinen 4:40-Schnitt bei, vermeide aber jeglichen Blickkontakt.

Das wiederholt sich einige Runden. Der Fuchs stört sich nicht weiter an mir. Vielleicht ist er zahm. Oder er hat Tollwut. Wenn er mich beißt, verwandle ich mich in eine Fuchs-Mensch-Chimäre. Für einen Marvel-Superhelden reicht das wahrscheinlich nicht. Aber es könnte meine Chancen bei dem 10-Kilometer-Lauf erhöhen. Da kann ich den Studentenköppen zeigen, was wir Fuchs-Menschen so draufhaben.

Irgendwann ist der Fuchs nicht mehr zu sehen. Keine Ahnung, wo er ist. Das ist noch unangenehmer, als ständig an ihm vorbeizulaufen. Nun befürchte ich, dass er sich im Gebüsch versteckt hat. Wenn ich mich in Sicherheit wiege, fällt er mich an und beißt eine meiner Schlagadern durch, so dass ich auf Höhe der Kugelstoßanlage würdelos verbluten werde. Wenigstens habe ich gestern die Steuererklärung gemacht. Dann muss sich meine Frau nicht darum kümmern.

Herr Reineke verzichtet auf eine Attacke und ich beende meine acht Kilometer unbeschadet. Den vorgeschriebenen 4:40-Schnitt unter biete ich sogar um fünf Sekunden, bin aber vollkommen fertig. Meine Oberschenkel brennen und ich atme schwer. Es ist weniger ein Atmen, sondern ein stakkatoartiges Röcheln.

Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, wie ich in sechs Wochen zehn Kilometer in 42 Minuten laufen soll. Vielleicht lasse ich den Fuchs für mich starten. Der schafft das vielleicht.

24. Mai 2023, Berlin

Die Tochter kommt für eine Woche zu Besuch und bringt eine irische Studienfreundin mit. K. ist das erste Mal in Deutschland. Wir müssen uns also von unserer besten Seite zeigen. Schließlich repräsentieren wir nicht nur unsere Familie, sondern das ganze Land.

Um dieser Verantwortung gerecht zu werden, könnte ich zur Begrüßung Krachlederne und einen Gamsbart tragen. Der Tochter wäre das aber wahrscheinlich peinlich. Und mir definitiv auch.

25. Mai 2023, Berlin

Während ich mich morgens im Wohnzimmer meinem ersten Kaffee hingebe, trainiert meine Frau nebenan im Schlafzimmer. Irgendein Online Fitness-Programm. Zur Steigerung der Motivation hört sie Musik. Zwischen ihrem Ächzen und Stöhnen meine ich zu vernehmen, dass sie mitsingt. Falls das stimmt, trainiert sie entweder nicht hart genug, so dass sie noch genügend Luft zum Singen hat, oder sie ist so unfassbar fit, dass sie selbst bei den anstrengendsten Übungen fröhlich mitträllern kann. (Bestimmt ist letzteres der Fall.)

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Es ist schön, dass die Tochter und ihre irische Freundin da sind. Allerdings nächtigen sie auf dem Schlafsofa im Arbeitszimmer. Das heißt, ich muss im Wohnzimmer arbeiten. Auf einem unbequemen Stuhl sitzend, an dem kleinen Laptop-Monitor, ohne Drucker.

Außerdem muss ich eine Jeans tragen statt meiner lieb gewonnenen Jogginghose. Schließlich möchte ich gegenüber unserer irischen Gästin nicht den Eindruck erwecken, ich hätte die Kontrolle über mein Leben verloren. (Um ihr weiszumachen, ich sei Fitnesstrainer und würde den ganzen Tag am Computer Trainingspläne entwerfen, ist es zu spät.)

Meine temporäre Umsiedlung ins Wohnzimmer hat aber auch Vorteile. Der Weg zur Küche und damit zur Kaffeemaschine ist kürzer. Somit ist das Arbeitsplatz-Glas halbvoll. Oder wenigstens 40%. Und es enthält Kaffee. Da möchte ich mich nicht beklagen.


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